"Alles", "Etwas" und "Nichts"
Auszüge aus Sprache
und Logik von Wolfgang
Stegmüller
Stegmüller, Wolfgang (1956, 1969). Sprache und Logik. In: Der Phänomenalismus und seine Schwierigkeiten. Sprache und Logik, 66-100. Darmstadt: Wissenschaftliche-Buchgesellschaft. Erstmals veröffentlicht in: Studium Generale. 9. Jahrgang, 2. Heft, 1956 (s. 57—77).
aufbereitet für das Internet von Rudolf Sponsel,
Erlangen
mit freundlicher Genehmigung von Frau
Margarethe Stegmüller.
[Zwischenüberschriften und Links im Text von RS,
in geschweiften {} Klammern Seiten Erstveröffentlichung]
"2. 'Alles', 'Etwas' und 'Nichts'
Wie müssen wir Aussagen interpretieren, die eines dieser drei Wörter enthalten? Zunächst könnte man geneigt sein, zu meinen, daß diese Ausdrücke eine Funktion haben, die derjenigen von Namen gleicht; denn sie können an derselben Stelle eine Satzes vorkommen, an der auch Namen anzutreffen sind. Wir können die wahren Aussagen bilden „Alexander ist groß und kühn", „Cäsar ist mit sich selbst identisch" und die falsche „Der Mond ist kälter als minus 273° Celsius", ebenso aber auch die drei wahren Sätze „Etwas ist groß und kühn", „alles ist mit sich selbst identisch" und „nichts ist kälter als minus 273° Celsius". Hier treten die Wörter „etwas", „alles" und „nichts" genau dort in Erscheinung, wo in den ersten drei Sätzen ein Name oder eine Individuenbeschreibung vorlag. Man könnte daher geneigt sein, diese drei Ausdrücke abkürzend durch drei Buchstaben, etwa „a" für „alles", „e" für „etwas" und „n" für „nichts" darzustellen. Ein solches Vorgehen würde uns jedoch sofort zu Absurditäten führen. Betrachten wir dazu wieder den Satz „Alexander ist groß und kühn" (1). Der Name „Alexander" kann hierin über das „und" hinweggeschoben werden; denn beide Prädikate werden ja von Alexander ausgesagt. Die Aussage (1) besagt also dasselbe wie die Aussage „Alexander ist groß und Alexander ist kühn" (2). Die Aussage „etwas ist groß und kühn" (3) ist jedoch keineswegs gleichbedeutend mit „etwas ist groß und etwas ist kühn" (4). Daher darf das „etwas" nicht durch ein konstantes Symbol „e" wiedergegeben werden, in welchem Falle wir gezwungen wären, analog zu der Feststellung der logischen Gleichwertigkeit von (1) und (2) auch die von (3) und (4), also von „e ist groß und kühn" und „e ist groß und e ist kühn", zu behaupten. Daß eine solche Gleichwertigkeit in diesem letzteren Fall nicht besteht, sieht man sofort ein, wenn man für „groß" das Prädikat „rund" und für „kühn" das Prädikat „quadratisch" einsetzt; denn „etwas ist rund und quadratisch" (5) ist eine falsche, und zwar sogar eine widerspruchsvolle Aussage, während „etwas ist rund und etwas ist quadratisch" (6) wahr ist, da es sowohl runde wie quadratische Gegenstände gibt. Wegen des verschiedenen Wahrheitswertes können die beiden Aussagen (5) und (6) also offenbar nicht logisch gleichwertig sein.
Ganz analog verhält es sich mit den Ausdrücken „alles" und „nichts". „Nichts ist rund und quadratisch" ist eine wahre Aussage, „nichts ist rund und nichts ist quadratisch" hingegen falsch. Auch das Wort „nichts" kann somit keine Konstante darstellen, die etwas bezeichnet. Daraus allein wird bereits die Absurdität ersichtlich, welche jene philosophischen Systeme nach sich ziehen, die das Wort „nichts" substantivisch gebrauchen, den bestimmten Artikel voranstellen und von einem Gegenstand „das Nichts" reden. Dies zu tun, bedeutet nichts anderes als einer mangelhaften Ausdrucksform unserer Alltagssprache zum Opfer zu fallen. Wäre eine derartige Deutung, wie sie in solchen Philosophien geschieht, möglich, so müßten wir das Wort „nichts" wie jede andere Gegenstandsbezeichnung über das „und" hinwegschieben können, ohne den Wahrheitswert der Aussage zu ändern. Das Wort „nichts" ist ein mangelhaftes, da irreführendes Mittel zur Bildung der Negation einer Existenzbehauptung, das „etwas" wiederum dient gerade, ebenfalls in nicht ein-[>80] {65/66}wandfreier Weise, zur Formulierung eines positiven Existenzsatzes. „Etwas ist rund und viereckig" ist eine Kurzform für „es gibt etwas, das rund und viereckig ist". Wenn man diese Aussage negiert, so kommt ein Satz zustande, den man ausführlich etwa so wiedergeben kann „es ist nicht der Fall, daß es etwas gibt, das rund und viereckig ist" und für den Komplex „es ist nicht der Fall, daß es etwas gibt, das" setzen wir das abkürzende Symbol „nichts", so daß die Aussage „nichts ist rund und viereckig" entsteht.
Da wir Menschen die Neigung haben, uns selbst wichtiger zu nehmen als alle anderen Dinge, so haben wir für die Bildung von positiven und negativen Existenzaussagen, die sich mit Exemplaren der Species homo sapiens beschäftigen, eigene Wörter im Gebrauch, nämlich „jemand" und „niemand". Auch hier gilt wiederum, daß diese Ausdrücke keine Namensfunktionen haben. Wir können natürlich, etwa im Scherz, das „niemand" wie einen Namen verwenden, um etwas zu sagen, was eigentlich anders ausgedrückt werden sollte. Und dies ist denn die einzige positive Seite, die unsere Sprache gerade wegen ihrer logisch mangelhaften Grammatik auf weist: Wir können in ihr Witze bilden, die in einer logisch präzisen Sprache unmöglich wären. So kann etwa jemand, der den weiteren Konjunkturablauf pessimistisch beurteilt, sagen „niemand wird behaupten wollen, daß wir den Höhepunkt der Konjunktur bereits überschritten haben" und dann hinzufügen „ich bin dieser niemand". Dies soll natürlich heißen „ich bin der einzige, welcher bemerkt, daß . . .".
[LEERE MENGE als TECHNISCHES NICHTS]
Es gibt allerdings einen technischen Begriff, den man „das Nichts" nennen könnte. Genauso nämlich, wie der Mathematiker die Zahl 0 zu den ganzen Zahlen rechnet, um eine gewisse Vereinfachung und Abrundung in seinen theoretischen Aussagen zu erzielen, so erweist es sich in der Mengenlehre als zweckmäßig, eine Menge einzuführen, die überhaupt kein Element enthält: die leere Menge. Eine solche Menge kann etwa durch die definierende Bedingung eingeführt werden, daß sie genau jene Dinge als Elemente enthalten soll, die nicht mit sich identisch sind. Da es solche Dinge nicht gibt, so folgt daraus, daß die Menge leer ist. Manche werden dann die Neigung haben, die leere Menge „das Nichts" zu taufen, weil es nichts gibt, das in ihr vorkommt, Wenn genau gesagt wird, daß nur das hier geschilderte Objekt gemeint ist, so ist eine solche Redeweise unbedenklich; denn die leere Menge ist im Rahmen einer solchen Theorie ein ganz bestimmtes Objekt, über welches man ebenso Aussagen bilden kann wie über die anderen mathematischen Objekte. Immerhin ist auch hier Vorsicht am Platze. Der bestimmte Artikel „das" deutet an, daß es sich um genau ein Objekt handeln müsse. Es gibt nun Systeme der Mengenlehre, z. B. alle jene, die auf der sog. Typentheorie fußen, für welche nicht nur eine leere Menge besteht, sondern unendlich viele verschiedene leere Mengen existieren, z. B. eine für jeden Typus. Man kann dann auch nicht mehr von dem Nichts sprechen, da es hier eben unendlich viele verschiedene „Nichtse" gibt.
Betrachten wir zuletzt noch das „alles". Wie wir gesehen haben, kann auch dieses Wort an grammatikalischer Subjektstelle stehen. Daher kann abermals die Neigung auftreten, zu glauben, es werde dadurch irgendein Gegenstand bezeichnet. Um zu erkennen, daß dies nicht der Fall sein kann, beachten wir zunächst, daß man Eigennamen sowie sonstige Dingbezeichnungen ebenso {66}[>81] wie über das „und" auch, über das „oder" hinwegschieben kann. Wenn der Lehrer auf Grund der schlechten Resultate des Schülers Klaus zu der Feststellung gelangt „Klaus ist dumm oder faul", so besagt dies dasselbe wie „Klaus ist dumm oder Klaus ist faul". Nun gilt gewiß die Aussage „alles ist grün oder nicht grün"; denn dies stellt nichts anderes dar als den Satz vom ausgeschlossenen Dritten in Anwendung auf das konkrete Prädikat „grün". Demgegenüber besagt die Aussage „alles ist grün oder alles ist nicht grün" etwas ganz anderes, und zwar etwas Falsches; denn darin wird behauptet, daß entweder überhaupt alle Gegenstände grün sein müssen oder es überhaupt keinen grünen Gegenstand geben darf. Dieses Beispiel zeigt, daß das „alles" sich ebenfalls ganz anders verhält wie ein Name.
Wir wollten in diesem Abschnitt lediglich zu dem
negativen Resultat gelangen, daß die Wörter „etwas", „alles"
und „nichts", zu denen sich noch weitere wie „jemand" und „niemand" hinzugesellen,
keine Namen darstellen, die etwas bezeichnen. Was diese Wörter nun
wirklich für eine Funktion haben, wird erst am Ende des nächsten
Abschnittes klar werden."
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