Der Arzt um die Jahrhundertwende:
Gesundheitspolitik, Ärzte, Arztdichte, Kassen
und Honorargerangel um 1900 - als wärs ein Stück von heut
Und nicht vergessen Virchow in Die Medizinreform1,
10.7.(1848):"
"Die Ärzte sind die natürlichen Anwälte
der Armen"
Zusammengestellt von Rudolf Sponsel, Erlangen, nach den
Quellen
Querverweis
Geschichte der Psychotherapie [verordnungen] ....
Eine wichtige historische Quelle zur neueren Geschichte der Medizin,
medizinischen Praxis und berufsständischen Fragen der
Ärzte ist
die Deutsche
Medicinische Wochenschrift (DMW):
Oben links das Titelblatt der ersten Ausgabe. Links unten das bis zum ersten Weltkrieg verwendete Jugendstil- Layout. (Q3) |
Der Thieme Verlag beschreibt Boerner: "In den fast 12 Jahren seiner Zeit als Chefredakteur der DMW fand Boerner seine eigentliche Lebensaufgabe ... Er legt sich publizistisch mit jedem an, der es seiner Meinung nach verdient, zum Schluß sogar mit seinem Vorbild Virchow ... Boerner schaffte sich mit seiner ehrlichen Art natürlich nicht nur Freunde. Aber er stritt gern, ausgiebig und meist humorvoll. Rhoden sagt: 'er konnte göttlich grob werden'." 1920 erscheinen posthum seine im Nachlaß der Witwe gefundenen "Erinnerungen eines Revolutionärs".Organisator 1882 Hygiene Ausstellung in Berlin. Öff. Einsatz für Koch. |
"Im Deutschen Reich sind
im Jahr 1900 (Oktober) 27374 Ärzte (= 5,2 auf 10000 Einwohner) tätig,
rund 10 % davon allein in Berlin Im gleichen Jahr studieren an den deutschen
Universitäten 8165 Studenten Medizin. Auf jährlich 500 gestorbene
Medizinerkommen 1340, die sich frisch niederlassen. Die bereits etablierten
Ärzte empfinden diese Zahlen als beunruhigend und sprechen von »Überfüllung«."
[Q3, S. 55 nach Q2 ]
Arztdichte 1900: 10.000
: 5,2 = 1923 Zum Begriff
Das heißt 1923 müssen eine Arztexistenz finanzieren Inzwischen liegt die Arztdichte mit zunehmender Tendenz bei 1 : 280, in Berlin schon unter 200, und wenn es so weiter geht, wird jeder primär- produktiv Arbeitende seinen eigenen Renter, Arzt, Anwalt, Psychologen, Richter, Apotheker, Steuerbareter ... haben - wenn er sie nicht erschlägt. |
"83 % der Ärzte um 1900 praktizieren frei, der achte Teil von ihnen in einem der Spezialfächer Chirurgie und Gynäkologie, Augenheilkunde, Hals- Nasen- Ohren- Heilkunde, Innere Medizin (die Reihenfolge entspricht der Größenordnung der Disziplin). In Universitäts- und Garnisonsstädten finden wir verhältnismäßig viele, in Industriestädten relativ wenige Ärzte. Die Kosten für eine Praxisneueinrichtung liegen bei 4000 Mark.
Arzthonorare sind laut Gewerbeordnung der freien
Vereinbarung überlassen. Als Norm für streitige Fälle im
Mangel einer Vereinbarung gelten die von (Länder-) Zentralbehörden
festgesetzten Gebührenordnungen (Taxen). Diese Honorarregelung klappte
reibungslos bei Personen bürgerlichen und gehobenen Standes, also
bei Privatkonsultationen des Arztes, nicht jedoch bei Kassenpatienten.
In den 17 Jahren seit Bestehen des Krankenversicherungsgesetzes gab es
ununterbrochen Streit zwischen den zahlreichen (über 300) Krankenkassen
und den Ärzten über Honorarfragen."
"In den 17 Jahren seit Bestehen des Krankenversicherungsgesetzes gab es ununterbrochen Streit zwischen den zahlreichen (über 300) Krankenkassen und den Ärzten über Honorarfragen." |
"Die nach dem Minimaltarif ausbezahlten Kassenärzte erhielten quasi ein Behandlungsmonopol für 25 % der Bevölkerung und waren dementsprechend schlecht beleumundet bei ihren freien Kollegen. Freie Arztwahl für Kassenpatienten gab es 1900 nur ansatzweise in Berlin. Die Stimmung im Ärztestand war 1900 mehrheitlich: Wir verelenden zusehends, wenn nicht bald etwas geschieht."
"Es geschah folgendes: Ein agitatorisch begabter Arzt aus Leipzig gründete
im September 1900 den Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrnehmung
ihrer wirtschaftlichen Interessen. Nach ihrem Gründer heißt
dieser Kampfrerein noch heute Hartmannbund. Ziel des Verbandes:
"Schutz gegen die rücksichtslose Ausbeutung der Ärzte durch die Krankenkassen zu gewähren und gegen die Übergriffe der Kassenvorstände" |
"Als Gründe für die Verelendung des Ärztestandes werden
allgemein akzeptiert:
"Ein Kliniker verdient um die Jahrhundertwende
durchschnittlich 3600 Mark pro Jahr, ein Assistenzarzt bezieht nach sechs
Jahren Studium rund 1200 Mark Anfangsgehalt". (nach Q2
1908, 933). Beide hatten jedoch vielfach Möglichkeiten zu Nebenverdiensten.
Ein Industriearbeiter in Berlin kommt 1900 auf rund 1850 Mark Jahreslohn
(und gibt davon 35.- Mark für Bücher und 75 Mark für Zeitungen
und Zeitschriften aus) [Q3-EN71]. Auch das Anwaltsgehalt in Kanzleien liegt
nicht höher als 2000 bis 4000 Mark, nur eine schmale Gruppe arrivierter
Anwälte überschreitet die Grenze von 5000 Mark [Q3-EN72], was
dem Durchschnittsverdienst der meisten Ärzte entspricht. Allerdings
verdienen in Berlin 31 % der Ärzte unter 3000 Mark eine Folge der
atypischen Arztdichte."
|
"Das Medizinstudium war nicht zuletzt deshalb so attraktiv, weil es die Möglichkeit zu höchstem gesellschaftlichem Aufstieg versprach; waren doch die Berliner Spitzenmediziner reihenweise geadclt worden (von Langenbeck, von Bardeleben, von Leyden etc.). An der Spitze der Medizin in den 20 deutschen Universitäten war der Platz jedoch sehr eng. Der gesamte medizinische "Lehrkörper« der Universitäten umfaßte nicht mehr als rund 100 ordentliche Professoren. Seit 1890 nahm [Q3, >57] die Zahl der Medizinstudenten übrigens 57 stetig ab (von 8986 auf 7265 in 1903) [Q3-EN73]. Das deutsche Sozialversicherungssystem, für das es im Ausland keinerlei Vorbild oder Vergleichsmuster gab, mußte zwangsläufig mit den Standesinteressen derÄrzte kollidieren. Die Krankenkassen hatten noch keine Erfahrungen, wie weit sie mit ihren Geldern reichen würden. Jede größere Epidemie konnte sie an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringen. Entsprechend knauserig gingen sie mit den Arzthonoraren um."
"Die deutschen Ärzte hatten sich als freie Unternehmer
daran gewöhnt, ihre Honorare in Mischkalkulationen auszurechnen, d.
h. von Wohlhabenden viel, von Armen wenig oder gar nichts zu verlangen.
Die Kassen versuchten nun, die Ärzte in ein soziales Einheitskorsett
zu zwängen. Das schuf nicht nur Animositäten, sondern auch den
Zwang zu einheitlicher Standespolitik und -vertretung. Der große
Ärztevereinsbund mit seinen mehr als 300 angeschlossenen Vereinen
(17000 Mitglieder) war zu politischen Aktionen ebenso unfähig wie
die Ärztekammern. Daraus erklärt sich der rasche Erfolg des Hartmannbundes
in den kommenden Jahren. Vielen nachdenklichen Beobachtern war die Idee
eines Wirtschafts-Kampfbundes der Ärzte ethisch suspekt; andererseits
sahen auch vornehm Zurückhaltende ein, daß ihre ärmeren
Kollegen, wie schon zur Jahrhundertmitte, in der Versuchung standen, ihren
kärglichen Kassenverdienst durch allerlei frei honorierbare Praktiken
aufzubessern. Der Hang zur außerschulischen Heilpraxis scheint Ärzte
regelmäßig in Zeiten schwächerer Honorare einzuholen."
"Der Hang zur außerschulischen Heilpraxis scheint Ärzte regelmäßig in Zeiten schwächerer Honorare einzuholen." |
100
Jahre Zeitsprung: Das alles kommt uns doch sehr bekannt und vertraut
vor.
Die Qualität des deutschen Gesundheitssystems ist schlecht und gemessen an seinen Kosten viel zu teuer: es gibt viel zu viele ÄrztInnen - wovon man beim Hartmannbund in den letzten 100 Jahren nichts zu bemerken scheint -, zu viele Krankenkassen, zu viel Selbstbedienungsmentalität, zu viel Pharmakonzernmacht, Inkompetenz, zu viel Bürokratie und idealistische Juristerei, strukturelle Systemschwächen, eine schlechte Verwaltung und hilflose, inkompetente Politik. Obwohl es einerseits viel zu viele ÄrztInnen gibt, fehlen sie in Krankenhäusern und auf dem Land, weil man selbst dazu nicht fähig ist, vernünftige Arbeitsbedingungen und Anreize zu schaffen, immer kräftig unterstützt von einem ebenso untauglichen Rechtssystem, das sich wie die Bürokratie und Selbstbedienungsmentalität in diesem Lande völlig verselbständigt und von der Realität abgehoben hat. Man vergleiche hier die jüngste Entwicklung (2002) in der Abrechnungsentwicklung z.B. IGEL- Leistungen, Qualitätssicherungs- und Qualitätsmanagement, Leitlinien - allesamt nichts anderes als Symptompfuscherei, wenn dadurch Kosten gesenkt werden sollten. Das Gegenteil wird der Fall sein: es wird schwerfälliger, bürokratischer, ineffektiver. Berufsdichten von 1: 250 können jede Volkswirtschaft oder jeden Berufsstand in die Knie zwingen. Das müßte endlich die Hirne der Verantwortlichen erreichen (zu einer immer noch relevanten Analyse der Kostenexplosion im Gesundheitswesen.) |
"Aber auch die Schulmedizin scheint in Zeiten finanzieller Bedrängnis regelmäßig ihre besonderen therapeutischen und diagnostischen Moden zu kreieren. Bei den Chirurgen ist das nach der Jahrhundertwende an der Zahl der Blinddarmoperationenzu beobachten: Von 1903 bis 1906 stieg die Zahl der Appendektomien in den öffentlichen Heilanstalten um 50 % (von 8412 auf 16781) [Q3-EN74]. Bei den Internisten wird die physikalische und diätetische Therapie zur Mode. In Berlin wird eigens ein Lehrstuhl für Hydrotherapie [Q3-EN75] geschaffen."
Exkurs
Gefälligkeitspublizistik in der Medizin 1880-1900
Der Thieme Verlag (gegr. 1886) schreibt in seiner 100 Jahre Jubiläumsschrift
unter dem Titel: "Wellen der Fortbildungspublizistik. Die Wellen seien
kurz charakterisiert: Welle I.: Ausgelöst durch das erwachende medizinische
Vereins- und Verbandswesen, vergleichbar der Vereinsseligkeit auf vielen
anderen Sektoren. Ein Verein ohne Vereinsblatt ist nur ein halber. Da diemeisten
medizinischen Vereine auch Fortbildung zum Ziel hatten, wurden Abdrucke
der Fortbildungsvorträge auch Hauptbestandteile der Vereinsblätter
lipp »Correspondesblatt der ärztl. Vereine der Provinz Schlesien,
incl. der med. u. der hygien. Sect. der vaterl. Gesellschaft«, Breslau
1886. Die Auflagen dieser Blätter liegen zwischen 500 und 1000 Exemplarerr.
Finanzierung durch Vereinsbeitrag. Welle II: Die medizinische Anzeigenwelle
setzt ein. Um 1880 bis 1890 werden zunächst die etablierten Zeitschriften
gefüllt. Schnell wächst jedoch eine 'Gefälligkeitspresse'
wie in anderen Industriezweigen empor. Die Fortbildungsbeiträge werden
für die aufblühende Pharmaindustrie direkt von ärztlichen
»Lohnschreibern« aufbereitet."
Zitat
aus Die Fackel 36, Jahrgang 1900, S. 20ff über "Arzte und Pressecorruption"
"Die medizinische Zeitung ist ein
rein geschäftliches Unternehmen, das sich um jeden Preis rentieren
muß. Und daß sie von den Inseraten allein existieren kann,
haben wir speciell in Wien erlebt, wo durch längere Zeit ein Blatt
allen Ärzten kostenlos zugeschickt wurde. Den das Leben des Blattes
erhaltenden Inserenten wird das möglichste Entgegenkommen garantiert...
Diese Abhängigkeit wird, insbesondere, wenn es sich um neue Heilmittel
handelt, nicht bloß dahin ausgenützt, daß die Zeitschrift
keine absprechenden Urtheile bringen darf; sie muß auch auf Kommando...
lobende Berichte abdrukken . .44« Gefällige Berichterstattung
von der Reaktion erwartet! - so lautet der Insertionsauftrag."
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"Hört man vor 1900 auf die Internist, Frerichs und von Leyden, dann droht der Medizin kein ärgeres Übel als die Zunahme des ärztlichen Spezialistentums » . . .es gibt gegenwärtig kaum noch Ärzte, fast nur Specialisten« stöhnt von Leyden schon 1881 [Q3-EN76]. Die Sorge um die Einheit der Medizin mag tief empfunden gewesen sein, die tatsächlichen Zahlen sprechen eine andere Sprache. Um 1900 waren erst rund 15% der Ärzte als Spezialisten tätig, in 39 Großstädten (ihrem Haupträtigkeitsfeld) rund 4000 (siehe Tabelle aus dem Jahre 1906) [Q3-EN77].
Entwicklung der Spezialdisziplinen aim Vergleich nach der DMW (1906)
1908 und 1995
"Furchteinflößend sind diese Zahlen gewiß
noch nicht. Herr Thieme wird nach der Lektüre dieser Statistik sogar
besorgt gewesen sein, was wohl aus seiner urologischen Zeitschrift werden
solle, wenn 's gesamt nur knapp 100 Ärzte sich zu dieser Disziplin
bekannten (bei stagnierender Tendenz). Mit Ausnahme der großen klinischen
Fächer lohnte sich eigentlich für keine der Spezialdisziplinen
die Publikation einer eigenen Fachzeitschrift, und doch gab es für
jedes Gebiet deren dreinnd mehr. Die Erklärungfür dieses Phänomen
bietet nicht der Mut der Verleger, sondern die Exportfähigkeit der
Spezialistenliteratur:
Die meisten Spezialdisziplinen waren in Deutschland
entstanden, beginnenend mit der Augenheilkunde nach Erfindung des Augenspiegels
(Helmboltz 1851). Viele der Spezialdisziplinen waren die Frucht diagnostischer
Apparatetechnik, die besonders zu erlernende Untersuchungs- und Arbeitsmethoden
erforderlich machte (Laryngoskop, Tonsillotom, Zystoskop, Otoskop, Röntgen-
und Labordiagnos. etc.). Die Forschungs- und Erfahrungsberichte der deutschen
Spezialisten fanden im Ausland breite Resonanz.
Die Klagen über die Spezialärzte hatten
bis 1901 einen anderen, meist nicht ausgesprochenen Grund als die Sorge
um der Einheit der Medizin. Seit Einführung der Sozialversicherung
(1883) und dem zunehmenden Lamento zur Ärzteschwemme versprach der
Weg in die Spezialisierung ein mehr als lukratives Honorar."
Gibt es ein
Fazit zu Damals und Heute?
Das Arzt- und Gesundheitskostenproblem könnte grundsätzlich nicht lösbar sein. Es wird nie genug Geld für die Wünsche der Hunderttausende von ÄrztInnen und die Vollkasko- Mentalität eines von inkompetenten PolitikerInnen belogenen und durch die Verhältnisse verwöhnten Volkes da sein. Man sollte es daher vielleicht auch nicht mehr zu lösen versuchen, sondern es nur in den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen begrenzen. Auch wenn man die Gelder von 250 Milliarden Euro auf eine halbe Billion verdoppelte: Übermorgen wird es wieder am Geld fehlen und das Geschrei und Gerangel wird weitergehen wie gehabt. Gesucht ist eine Lösung II. Ordnung nach Watzlawick und das könnte nach Bleuler auch eine Udenustherapie (= nichts tun) sein ;-). ÄrztIn ist wohl der wichtigste und mit angesehendste Beruf in der Welt und er mag aufgrund seiner Fähigkeiten, Leben zu erhalten auch das schönste Haus im Dorf haben, aber müssen es wirklich zwei und drei und noch viel mehr sein? Warum wohl strömen Aber- Hunderttausende in diesen Beruf? Und warum werden es mehr und immer mehr - aber bevorzugt da, wo gut Verdienen ist und nicht da, wo sie gebraucht werden (Krankenhäuser, Land) ? |
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