Psychotherapie1) : Eine erotische Beziehung
Mann, David (dt. 1999,
engl. 1997). Psychotherapie: Eine erotische Beziehung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Mit Register, 342 Seiten, DM 68.--
Nach dem Klappentext arbeitet David Mann als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in privater Praxis in London. Er lehrt an verschiedenen psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten und leitet Workshops zum Thema dieses Buches in Großbritannien und in zahlreichen anderen Ländern Europas. |
Der Verlag schreibt auf den Umschlag:
"Erotische Phantasien und Gefühle zwischen Patient und Therapeut,
wie sie häufig im Verlauf einer Behandlung auftauchen, gelten bis
heute als Hindernis für eine gelungene Therapie. Offen und unvoreingenommen
zeigt David Mann, wie latente und manifeste erotische Gefühle in der
Psychotherapie [F01]
neu bewertet und für Patienten und Therapeuten konstruktiv genutzt
werden können: als Chance für Bereicherung und Förderung
des Behandlungsprozesses."
Ein mutiges Buch. Angesichts
der enormen Brisanz, die in diesem Thema steckt, möchte ich zunächst
den Autor mit seinen Ansichten möglichst authentisch und ungefiltert
durch meine Kommentare oder Kritik zu Wort kommen lassen. Die brisanteste
Frage - darf die AnalytikerIn oder darf sie nicht - beantwortet David
Mann im Kapitel Neun.
DIESES BUCH HANDELT von der Erotik in der Übertragung und Gegenübertragung
[F02]. Es ist keine
Beschreibung der Erotik oder der Liebe. Vielmehr geht es der Frage nach,
welche Bedeutung der Erotik in der analytischen Beziehung [F03]
zwischen Patient und Therapeut zukommt. Um den Inhalt des gesamten Buches
in einem Satz zusammenzufassen: Meiner Meinung nach werden die meisten,
wenn nicht alle psychoanalytischen Begegnungen von der Erotik durchdrungen
und im allgemeinen positiv und in veränderndem Sinn durch sie beeinflußt.
Mein Verständnis der erotischen Übertragung
und Gegenübertragung [F02]
beruht weitgehend auf meiner klinischen Praxis und meiner Lehrerfahrung.
Ich arbeite vor allem mit den Ideen der britischen Objektbeziehungsschule
[F04] und stütze mich insbesondere
auf die Überlegungen Winnicotts, Fairbairns und Kleins. Trotzdem gelange
ich auch zu einer kritischen Einschätzung dieser Tradition. Die Arbeit
mit Patienten ließ es mir als notwendig erscheinen, vorbehaltlos
über das von ihnen präsentierte Material nachzudenken. Gleiches
gilt für meine Lehrtätigkeit. Während der vergangenen fünf
Jahre habe ich in England und Europa Workshops zum Thema "Die Arbeit mit
der erotischen Übertragung und Gegenübertragung" geleitet. Die
Bedürfnisse der Seminarteilnehmer, die eine Fülle an interessantem
Material präsentierten, verlangten es, daß ich meine eigenen
Ideen noch einmal gründlich durchdachte.
Neben meiner klinischen Praxis und meiner Lehrerfahrung
stütze ich mich auf eine Relhe weiterer Quellen. Natürlich war
die vorhandene psychoanlytische Literatur zur erotischen Übertragung
und Gegenübertragung zu konsultieren. Dies ist keine sonderlich mühevolle
Aufgabe, da es nur wenige Publikationen über [12] dieses Thema gibt.
Es ist ein Aspekt meinner eigenen Persönlichkeit, daß ich mich
für Bereiche interessiere, die nicht die allgemeine Neugierde wecken.
Ich frage gerne: "Warum nicht?", besonders wenn es um ein Thema wie die
Erotik geht. Wie der Leser merken wird, stimme ich mit manchen Autoren
überein, mit anderen nicht. Was meinen eigenen Beitrag anbelangt,
so würde ich ihn folgendermaßen charakterisieren: Er zieht keinen
Schlußstrich unter die Arbeiten meiner Vorgänger, sondern baut
auf ihnen auf.
Dieses Buch schöpft auch aus zwei anderen Informationsquellen.
Die erste ist die in jüngerer Zeit gewaltig auflebende Säuglingsforschung,
deren Daten der Psychoanalyse ein sehr viel klareres Verständnis der
infantilen Psyche vermitteln. Die zweite Quelle ist die Mythologie. Sie
ist zum Teil deshalb interessant, weil die Mythen wunderbar erzählt
sind, vor allem aber, weil sie meiner Meinung nach die tiefen psychischen
Anliegen und Konflikte der Menschheit repräsentieren. In diesem Sinne
schildern sie Erkenntnisse, die auch im klinischen Setting gewonnen werden,
im Rahmen breiterer, wichtiger Bereiche der menschlichen Erfahrung. Frühere
Fassungen einiger Kapitel enthielten auch entsprechendes anthropologisches
Material, das aber notwendigen Kürzungen zum Opfer fiel.
Jedes Kapitel steht selbständig für sich,
auch wenn das Buch von Anfang an als ganzes konzipiert wurde. Im ersten
Kapitel stelle ich meine wichtigsten Thesen über die erotische Übertragung
vor. Ich betrachte die erotische Übertragung als eine Gelegenheit
zur Veränderung, und zwar zum Teil, weil sie an die tiefsten Schichten
der Psyche rührt, zum Teil aber auch aufgrund der Tatsache, daß
sie das innere Gleichgewicht des Patienten und des Therapeuten ins Wanken
bringt und auf diese Weise bedeutende therapeutische Möglichkeiten
zum inneren Wachstum schafft. Die Erotik wird unter dem Blickwinkel zweier
Liebender untersucht, die sich durch erotische Erfahrungen und durch ihr
Liebeserleben zu verändern suchen. Dieses Modell wird in seiner symbolischen
Manifestation auf die therapeutische Begegnung bezogen: Die erotische Übertragung
gibt zu erkennen, daß die Patientin oder der Patient in der Therapie
ebenso wie in der Verliebtheit nach einer Veränderung auf tiefster
Ebene strebt. Die Erotik wird daher in ihrem interaktionalen Kontext verankert
und beschrieben.
Das zweite Kapitel
ist das einzige, in dem ich kein eigenes klini[13]sches Material vorstelle.
Es bietet im wesentlichen eine kritische Sichtung der psychoanalytischen
Literatur zur erotischen Übertragung. Ich betrachte die psychoanalytischen
Grundannahme, derzufolge das Erotische in der Therapie einen Widerstand
bildet und ausschließlich auf die analytische Situation zurückzuführen,
das heißt nicht authentisch ist, sehr kritisch. Ich habe darauf geachtet,
jene Autoren, deren Standpunkt ich nicht teilen kann, selbst zu Wort kommen
zu lassen. Ich hoffe, daß künftige Rezensenten, die andere Ansichten
vertreten als ich (oder mir zustimmen), ebenso verfahren werden.
Das dritte Kapitel
versucht, das erotische Erleben des Psychotherapeuten in den therapeutischen
Prozeß einzuordnen. Seine Gefühle bilden nicht lediglich das
Resultat dessen, was der Patient in ihn projiziert oder in ihm stimuliert.
Da Psychotherapeuten ihr eigenes erotisches Unbewußtes und ihre eigenen
erotischen Vorstellungen haben, sind wir durchaus berechtigt zu untersuchen,
wie diese die klinische Arbeit beeinflussen.
Das vierte Kapitel untersucht
differenziert die verschiedenartigen Formen der erotischen Gegenübertragung,
die der Therapeut entwickeln kann. Sie werden speziell unter dem Blickwinkel
ihrer Beziehung zur jeweiligen Entwicklungsstufe des Patienten betrachtet.
Die erotische Gegenübertragung wird daher im Hinblick auf die Position
der Mutter beziehungsweise des Vaters gegenüber dem Entwicklungsstadium
des Säuglings und Kleinkindes beschrieben. Ich stelle vier Positionen
dar: die erotische präödipale Mutter, die erotische ödipale
Mutter, den erotischen präödipalen Vater und den erotischen ödipalen
Vater.
Das fünfte
Kapitel behandelt die homoerotische Ubertragung und Gegenübertragung.
Die Homoerotik scheint die größten Ängste im Patienten
wie auch im Analytiker hervorzurufen. Das Kapitel versucht, sie in einen
Entwicklungskontext zu stellen. So verstanden, kann die Homoerotik eine
positive Funktion in der transformierenden erotischen Ubertragung und Gegenübertragung
erfüllen. Das Kapitel leidet insofern an einer gewissen Einseitigkeit,
als es sich auf den männlichen Therapeuten und seine Arbeit mit dem
männlichen Patienten konzentriert. Aus offenkundigen Gründen
aber war es mir nicht möglich, die Arbeit der Therapeutin mit der
homoerotischen Übertragung der Patientin detailliert zu beschrei[14]ben,
wenngleich ich hoffe, daß einige meiner Uberlegungen auch auf die
weibliche analytische Dyade anwendbar sind.
Die Kapitel sechs
und sieben bildeten ursprünglich eine Einheit. Im Grunde ging sogar
das gesamte Buch aus den in ihnen formulierten Überlegungen hervor.
Das sechste Kapitel zeichnet die Ürsprünge des erotischen Erlebens
in der Beziehung des Säuglings zu seiner Mutter nach. Diese wird im
Sexualleben des Erwachsenen mit dem Partner wiederholt und in der Therapie
als Übertragung ausgelebt.
Das siebte Kapitel
führt diese Überlegung weiter bis zur Bedeutung der Urszenenphantasie,
in der sich die Ödipussituation kristallisiert. Die "hinreichend gute"
Urszenenphantasie wird als wesentliche Voraussetzung der Kreativität
beschrieben. Ich demonstriere anhand von klinischem Material, daß
eine unzulängliche Urszenenphantasie mit einer psychischen Abwehrhaltung
verbunden ist und das Bild des Patienten von der Urszene in der Übertragung
gelebt wird.
Das achte Kapitel
erforscht die Auswirkungen von Perversionen auf Übertragung und Gegenübertragung.
Perverse innere Haltungen werden im Hinblick auf die außerordentliche
Destruktivität beschrieben, mit der sie die Übertragungs- und-
Gegenübertragungs- Matrix in solchem Maße bedrohen, daß
die therapeutische Dyade zu einem perversen Paar degenerieren kann.
Das neunte Kapitel
beschäftigt sich mit der Notwendigkeit von Grenzverletzungen, die
einen unauflöslichen Bestandteil gesunder Neugierde bilden. Ich versuche
zu zeigen, daß Patient und Therapeut sich an einen Ort begeben müssen,
an dem sie beide zuvor nie gewesen sind, um eine neue Erfahrung zu machen,
die Veränderung ermöglicht.
Ich denke nicht, daß dieses Buch alle Probleme
zu lösen vermag, die in der Arbeit mit der erotischen Übertragung
und Gegenübertragung - dem schwierigsten Teil der Therapie - auftauchen.
Mir persönlich aber haben sich diese Gedanken in der klinischen Praxis
als hilfreich erwiesen, und ich hoffe, daß dieses Buch andere Therapeuten
dazu ermuntern wird, noch einmal unvoreingenommen über die Erotik
und ihre Bedeutung in der klinischen, analytischen Situation nachzudenken."
"Die Versuchungen der Grenzverletzung
Seltsamlich und seltsamlicher!
IN DIESEM KAPITEL möchte ich versuchen zu zeigen, daß
die Grenzverletzung in der kreativen Entwicklung einen integralen Bestandteil
der Neugierde und des Fragens bildet. Als Grenzverletzung bezeichne ich
den notwendigen Schritt, mit dem man zuvor scheinbar unzugängliches
Gelände betritt. In der Bedeutung, in der ich den Begriff hier benutze,
kennzeichnet die Grenzverletzung ein Drängen über anerkannte
Normen hinaus, ein Verlassen des Erwarteten - ein Überschreiten bekannter
Grenzen. Auf den therapeutischen Kontext bezogen bedeutete
dies, daß sich Therapeut und Analysand an einem anderen Ort wiederfinden
müssen. Daher bin ich der Meinung, daß wir die Psychotherapie
als einen wechselseitig transformierenden Prozeß betrachten
sollten: das analytische Paar als transformierendes Paar. Diese Kategorisierung
gilt natürlich auch für Mutter und Kind und für Liebende.
Für die erotische Übertragungs- Gegenübertragungs- Matrix
heißt das, daß die Erotik zwangsläufig die größten
Möglichkeiten zur Grenzverletzung birgt.
Ich möchte mein Anliegen mit einem Zitat aus
Lewis Carrolls Alice im Wunderland illustrieren, aus dem auch die Überschrift
des dieses Abschnitts stammt:
Alice sprach vielleicht nicht korrekt, aber sie benutzte
die Sprache kreativ. Sie mag gegen die Grammatik verstoßen haben,
das Resultat aber war eine Wendung, die im Englischen sprichwörtlich
wurde ["Curiouser and curiouser!"]. [296]
Zu unterscheiden ist allerdings zwischen einer gesunden
und einer destruktiven Grenzverletzung. Natürlich ist das Verletzen
bestimmter Tabus wie zum Beispiel der Inzest destruktiv. Die Erotik in
der Psychotherapie ist sicherlich destruktiv, wenn der Therapeut versucht
ist, das Material nicht mehr als symbolisch zu behandeln, und statt dessen
beschließt, sein Tun von seinen Gefühlen leiten zu lassen, indem
er versucht, eine reale sexuelle Beziehung mit der Patientin zu entwickeln.
Man muß jedoch sagen, daß bestimmte
Arten der Untersuchung mit Sicherheit Schwierigkeiten bereiten werden.
Vielleicht können manche Fragen der Hybris nahekommen. Pandoras Neugierde
hatte zur Folge, daß sie ihre Büchse öffnete und so alle
Übel in die Welt entließ. In Sophokles' König Ödipus
trotzt Ödipus der Warnung des Sehers Teiresias, daß es besser
sei, manches nicht zu wissen. Die Suche nach diesem Wissen führt ihn
in den Untergang. Bion (3965) lenkt unsere Aufmerksamkeit auch auf die
biblische Geschichte - Adam und Eva aßen von der Frucht im Garten
Eden und wurden daraufllin von einem Gott schwer bestraft, der es ihnen
verboten
hatte, vom Wissen um Gut und Böse zu kosten. Der Turmbau von Babel,
wo die Menschen in das Reich Gottes vorstoßen wollten, zog ebenfalls
eine Strafe nach sich - die Sprachverwirrung. Im Mythos vom Ödipus
begeht die Sphiox Selbstmord, als ihr Geheimnis aufgedeckt wird.
Neben der Mythologie finden sich weitere gleichermaßen
anschauliche Beispiele: Giordano Bruno wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt
und Galilei zum Widerruf gezwungen, weil die Kirche sich nicht mit der
These anfreunden konnte, daß die Erde nicht den Mittelpunkt des Universums
bilde. Und schließlich wurde Freud aufgrund seiner Theorien über
das kindliche Sexualerleben zu Beginn seiner Laufbahn geächtet, und
später haben die Nazis seine Bücher verbrannt. Das Streben nach
Wissen kann gefährlich sein.
Das Streben nach Wissen ist auch Teil der gesunden
psychischen Entwicklung. Hamilton (1982) zeigt in ihrer zusammenfassenden
Darstellung der Säuglingsforschung, daß Wissen und Wissensdurst
unauflöslich verbunden sind mit der Beziehung zur Mutter. Unser Wissen
von der Welt ist zunächst unser Wissen über den Mutterleib. Wenn
diese Basis zuverlässig verankert wird, erwirbt der Säugling
[296] das Zutrauen, um die Welt vom sicheren Schoß der Mutter
aus zu erforschen. Bowlby (1969) sagte daher, daß sich das Explorationsverhalten
des Säuglings in Gegenwart der Mutter {Sponsel: Bowlby
spricht korrekt von Mutterfigur} entwickele. Dies ähnelt Winnicotts
(1984a) Beschreibung der Fähigkeit zum Alleinsein. Beide Autoren stellten
fest, daß die Neugierde gehemmt wird, wenn die Mutter, das heißt
die sichere Basis, fehlt. Wenn ihm die Verbindung zur Mutter abhanden kommt,
wird der Säugling von Angst überwältigt, die jedes weitere
Forschen und Untersuchen bremst. Irgendwann schließlich exploriert
das Kind auch dann, wenn es seine Mutter nicht sieht, aber nur unter der
Voraussetzung, daß es selbst die Mutter verlassen hat und nicht umgekehrt.
Sofern das Kind weiß, wo sich die Mutter aufhält, kann es seine
Aufmerksamkeit von ihr abziehen. Ein solcher Wissenserwerb hängt mit
dem Spiel und mit Sicherheit zusammen. Meiner Meinung nach spielt auch
das Wissen um die Fakten des Lebens eine Rolle (siehe siebtes Kapitel).
Hier liegt der Hemmung der Wißbegierde die Unfähigkeit der Eltern
zugrunde, es zu ertragen, daß das Kind über ein bestimmtes Wissen
verfügt.
Hamilton steht der Freudschen Theorie des Wissens
insofern kritisch gegenüber, als diese mit der Urszene und der Aufdeckung
tabuisierter Geheimnisse zusammenhängt. Sie kritisiert auch das kleinianische
Modell, demzufolge das Stillen den Prototyp einer inkorporativen Theorie
des Wissens darstellt. Hamilton bezeichnet diese Theorien als die "tragische
Vision des Wissens", die Neugierde und Schmerz als untrennbar sieht. Wissen
ist hier alles oder nichts, wodurch die andere Seite der Neugierde ausgelöscht
wird, das "Mysterium" der Realität, das man mit den Worten Einsteins
als die Fähigkeit beschreiben kann",jeden Tag ein bißchen zu
begreifen". Sie schreibt:
Daran anschließend, erläutert sie die Wichtigkeit des
Spiels für die Entwicklung der Neugierde und den Individuationsprozeß.
Das [298] Spiel bildet also einen Zwischenbereich, in dem sich Primär-
und Sekundärprozesse, Handeln und Denken, vereinen.
Mein eigener Standpunkt befindet sich irgendwo zwischen
dieser "tragischen Sicht" und der Spielfunktion. Mir scheint, daß
es zahlreiche Gründe gibt anzunehmen, daß beide für den
Wissenserwerb eine Rolle spielen. Wissen ist ein Paradox: Es kann lustvoll
und schmerzvoll sein - explorativ und grenzverletzend.
Wenn wir die Grenzen eines vertrauten und kartographisch
erfaßten Territoriums überschreiten, finden wir uns an einem
neuen Ort wieder. Er kann sich als Quelle der Angst wie auch der Kreativität
erweisen. Solange wir uns in bekanntem Territorium aufllalten, das uns
vertraut ist, gibt es kaum Neues zu entdecken. Wir müssen an einen
psychischen Ort gelangen, an dem wir zuvor noch nicht gewesen sind, damit
etwas Neues geschieht. Ich möchte hinzufügen, daß ich die
geographische Metapher nur zu deskriptiven Zwecken benutze.
Die Geschichte der Mythologie lehrt uns, daß
die menschliche Psyche häufig in Versuchung gerät, verbotene
Grenzen zu überschreiten. Einzig dieses Risiko ermöglicht einen
kreativen Sprung. Der Prozeß der Weiterentwicklung und Individuation
läßt die Grenzverletzung als Versuchung erscheinen.
Ich pflichte der oben zitierten Ansicht Hamiltons
zu, daß die Sexualität nur eine der Ursachen des Explorationsverhaltens
darstellt. Sie ist aber von derart zentraler psychischer Bedeutung, daß
es keinen Grund gibt, sie auf eine Stufe mit anderen Formen der Motivation
zu stellen. Wissen beginnt mit dem, was das Baby über seinen eigenen
Körper und den der Mutter weiß. Das Körpererleben läßt
sich ohne Bezug auf das Sexuelle oder, wie ich lieber sage, ohne Bezug
auf das Erotische nicht verstehen.
Alles, was ich gerade geschrieben habe, ist für
die Arbeit mit der erotischen Übertragung und Gegenübertragung
relevant. Die Erotik führt das Individuum in die miteinander zusammenhängenden
Bereiche des Heiligen und des Profanen ein. Unter historischem Blickwinkel
konfrontiert die erotische Übertragungs- Gegenübertragungs- Matrix
die analytische Arbeit mit den größten Schwierigkeiten. Wir
dürfen aber vermuten, daß in eben diesen Risiken auch die größten
therapeutischen Möglichkeiten liegen."