SGIPT - Gesellschaft für Allgemeine und Integrative Psychotherapie - Deutschland
     Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT DAS=22.03.2000


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    Herzlich willkommen in der Buchbesprechungsabteilung der GIPT:

    Psychotherapie1) : Eine erotische Beziehung

       
      Mann, David (dt. 1999, engl. 1997). Psychotherapie: Eine erotische Beziehung. Stuttgart: Klett-Cotta. Mit Register, 342 Seiten, DM 68.--

      Nach dem Klappentext arbeitet David Mann als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in privater Praxis in London. Er lehrt an verschiedenen psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten und leitet Workshops zum Thema dieses Buches in Großbritannien und in zahlreichen anderen Ländern Europas.

    Präsentiert und kritisch kommentiert in zwei Teilen aus allgemeiner und integrativer psychotherapeutischer Perspektive durch Rudolf Sponsel, Erlangen, eingegangen am 9.9.2000

    Teil 1  Präsentation Teil 2 Kritischer Kommentar

        Der Verlag schreibt auf den Umschlag: "Erotische Phantasien und Gefühle zwischen Patient und Therapeut, wie sie häufig im Verlauf einer Behandlung auftauchen, gelten bis heute als Hindernis für eine gelungene Therapie. Offen und unvoreingenommen zeigt David Mann, wie latente und manifeste erotische Gefühle in der Psychotherapie [F01] neu bewertet und für Patienten und Therapeuten konstruktiv genutzt werden können: als Chance für Bereicherung und Förderung des Behandlungsprozesses."
        Ein mutiges Buch. Angesichts der enormen Brisanz, die in diesem Thema steckt, möchte ich zunächst den Autor mit seinen Ansichten möglichst authentisch und ungefiltert durch meine Kommentare oder Kritik zu Wort kommen lassen. Die brisanteste Frage -  darf die AnalytikerIn oder darf sie nicht - beantwortet David Mann im Kapitel Neun.



    Inhalt
    Dank   9
    Einleitung  1 l
    Erstes Kapitel: Die erotische Übertragung  15
    Zweites Kapitel: Cupidos Augenbinde und seine Pfeile - erotische Übertragung: real oder unwirklich?   51
    Drittes Kapitel: Die erotische Subjektivität des Therapeuten  97
    Viertes Kapitel: Varianten der erotischen Gegenübertragung   117
    Fünftes Kapitel: Die homoerotische Übertragungs-Gegenübertragungs-Matrix  169
    Sechstes Kapitel: Die Übertragung als symbolischer Geschlechtsverkehr   20
    Siebtes Kapitel: Die Übertragung als symbolische Urszene   229
    Achtes Kapitel: Übertragungsperversionen  267
    Neuntes Kapitel: Die Versuchungen der Grenzverletzung  295
    Bibliographie   319
    Namen- und Sachregister   337



    "Einleitung

    DIESES BUCH HANDELT von der Erotik in der Übertragung und Gegenübertragung [F02]. Es ist keine Beschreibung der Erotik oder der Liebe. Vielmehr geht es der Frage nach, welche Bedeutung der Erotik in der analytischen Beziehung [F03] zwischen Patient und Therapeut zukommt. Um den Inhalt des gesamten Buches in einem Satz zusammenzufassen: Meiner Meinung nach werden die meisten, wenn nicht alle psychoanalytischen Begegnungen von der Erotik durchdrungen und im allgemeinen positiv und in veränderndem Sinn durch sie beeinflußt.
        Mein Verständnis der erotischen Übertragung und Gegenübertragung  [F02] beruht weitgehend auf meiner klinischen Praxis und meiner Lehrerfahrung. Ich arbeite vor allem mit den Ideen der britischen Objektbeziehungsschule [F04] und stütze mich insbesondere auf die Überlegungen Winnicotts, Fairbairns und Kleins. Trotzdem gelange ich auch zu einer kritischen Einschätzung dieser Tradition. Die Arbeit mit Patienten ließ es mir als notwendig erscheinen, vorbehaltlos über das von ihnen präsentierte Material nachzudenken. Gleiches gilt für meine Lehrtätigkeit. Während der vergangenen fünf Jahre habe ich in England und Europa Workshops zum Thema "Die Arbeit mit der erotischen Übertragung und Gegenübertragung" geleitet. Die Bedürfnisse der Seminarteilnehmer, die eine Fülle an interessantem Material präsentierten, verlangten es, daß ich meine eigenen Ideen noch einmal gründlich durchdachte.
        Neben meiner klinischen Praxis und meiner Lehrerfahrung stütze ich mich auf eine Relhe weiterer Quellen. Natürlich war die vorhandene psychoanlytische Literatur zur erotischen Übertragung und Gegenübertragung zu konsultieren. Dies ist keine sonderlich mühevolle Aufgabe, da es nur wenige Publikationen über [12] dieses Thema gibt. Es ist ein Aspekt meinner eigenen Persönlichkeit, daß ich mich für Bereiche interessiere, die nicht die allgemeine Neugierde wecken. Ich frage gerne: "Warum nicht?", besonders wenn es um ein Thema wie die Erotik geht. Wie der Leser merken wird, stimme ich mit manchen Autoren überein, mit anderen nicht. Was meinen eigenen Beitrag anbelangt, so würde ich ihn folgendermaßen charakterisieren: Er zieht keinen Schlußstrich unter die Arbeiten meiner Vorgänger, sondern baut auf ihnen auf.
        Dieses Buch schöpft auch aus zwei anderen Informationsquellen. Die erste ist die in jüngerer Zeit gewaltig auflebende Säuglingsforschung, deren Daten der Psychoanalyse ein sehr viel klareres Verständnis der infantilen Psyche vermitteln. Die zweite Quelle ist die Mythologie. Sie ist zum Teil deshalb interessant, weil die Mythen wunderbar erzählt sind, vor allem aber, weil sie meiner Meinung nach die tiefen psychischen Anliegen und Konflikte der Menschheit repräsentieren. In diesem Sinne schildern sie Erkenntnisse, die auch im klinischen Setting gewonnen werden, im Rahmen breiterer, wichtiger Bereiche der menschlichen Erfahrung. Frühere Fassungen einiger Kapitel enthielten auch entsprechendes anthropologisches Material, das aber notwendigen Kürzungen zum Opfer fiel.
        Jedes Kapitel steht selbständig für sich, auch wenn das Buch von Anfang an als ganzes konzipiert wurde. Im ersten Kapitel stelle ich meine wichtigsten Thesen über die erotische Übertragung vor. Ich betrachte die erotische Übertragung als eine Gelegenheit zur Veränderung, und zwar zum Teil, weil sie an die tiefsten Schichten der Psyche rührt, zum Teil aber auch aufgrund der Tatsache, daß sie das innere Gleichgewicht des Patienten und des Therapeuten ins Wanken bringt und auf diese Weise bedeutende therapeutische Möglichkeiten zum inneren Wachstum schafft. Die Erotik wird unter dem Blickwinkel zweier Liebender untersucht, die sich durch erotische Erfahrungen und durch ihr Liebeserleben zu verändern suchen. Dieses Modell wird in seiner symbolischen Manifestation auf die therapeutische Begegnung bezogen: Die erotische Übertragung gibt zu erkennen, daß die Patientin oder der Patient in der Therapie ebenso wie in der Verliebtheit nach einer Veränderung auf tiefster Ebene strebt. Die Erotik wird daher in ihrem interaktionalen Kontext verankert und beschrieben.
        Das zweite Kapitel ist das einzige, in dem ich kein eigenes klini[13]sches Material vorstelle. Es bietet im wesentlichen eine kritische Sichtung der psychoanalytischen Literatur zur erotischen Übertragung. Ich betrachte die psychoanalytischen Grundannahme, derzufolge das Erotische in der Therapie einen Widerstand bildet und ausschließlich auf die analytische Situation zurückzuführen, das heißt nicht authentisch ist, sehr kritisch. Ich habe darauf geachtet, jene Autoren, deren Standpunkt ich nicht teilen kann, selbst zu Wort kommen zu lassen. Ich hoffe, daß künftige Rezensenten, die andere Ansichten vertreten als ich (oder mir zustimmen), ebenso verfahren werden.
        Das dritte Kapitel versucht, das erotische Erleben des Psychotherapeuten in den therapeutischen Prozeß einzuordnen. Seine Gefühle bilden nicht lediglich das Resultat dessen, was der Patient in ihn projiziert oder in ihm stimuliert. Da Psychotherapeuten ihr eigenes erotisches Unbewußtes und ihre eigenen erotischen Vorstellungen haben, sind wir durchaus berechtigt zu untersuchen, wie diese die klinische Arbeit beeinflussen.
        Das vierte Kapitel untersucht differenziert die verschiedenartigen Formen der erotischen Gegenübertragung, die der Therapeut entwickeln kann. Sie werden speziell unter dem Blickwinkel ihrer Beziehung zur jeweiligen Entwicklungsstufe des Patienten betrachtet. Die erotische Gegenübertragung wird daher im Hinblick auf die Position der Mutter beziehungsweise des Vaters gegenüber dem Entwicklungsstadium des Säuglings und Kleinkindes beschrieben. Ich stelle vier Positionen dar: die erotische präödipale Mutter, die erotische ödipale Mutter, den erotischen präödipalen Vater und den erotischen ödipalen Vater.
        Das fünfte Kapitel behandelt die homoerotische Ubertragung und Gegenübertragung. Die Homoerotik scheint die größten Ängste im Patienten wie auch im Analytiker hervorzurufen. Das Kapitel versucht, sie in einen Entwicklungskontext zu stellen. So verstanden, kann die Homoerotik eine positive Funktion in der transformierenden erotischen Ubertragung und Gegenübertragung erfüllen. Das Kapitel leidet insofern an einer gewissen Einseitigkeit, als es sich auf den männlichen Therapeuten und seine Arbeit mit dem männlichen Patienten konzentriert. Aus offenkundigen Gründen aber war es mir nicht möglich, die Arbeit der Therapeutin mit der homoerotischen Übertragung der Patientin detailliert zu beschrei[14]ben, wenngleich ich hoffe, daß einige meiner Uberlegungen auch auf die weibliche analytische Dyade anwendbar sind.
        Die Kapitel sechs und sieben bildeten ursprünglich eine Einheit. Im Grunde ging sogar das gesamte Buch aus den in ihnen formulierten Überlegungen hervor. Das sechste Kapitel zeichnet die Ürsprünge des erotischen Erlebens in der Beziehung des Säuglings zu seiner Mutter nach. Diese wird im Sexualleben des Erwachsenen mit dem Partner wiederholt und in der Therapie als Übertragung ausgelebt.
        Das siebte Kapitel führt diese Überlegung weiter bis zur Bedeutung der Urszenenphantasie, in der sich die Ödipussituation kristallisiert. Die "hinreichend gute" Urszenenphantasie wird als wesentliche Voraussetzung der Kreativität beschrieben. Ich demonstriere anhand von klinischem Material, daß eine unzulängliche Urszenenphantasie mit einer psychischen Abwehrhaltung verbunden ist und das Bild des Patienten von der Urszene in der Übertragung gelebt wird.
        Das achte Kapitel erforscht die Auswirkungen von Perversionen auf Übertragung und Gegenübertragung. Perverse innere Haltungen werden im Hinblick auf die außerordentliche Destruktivität beschrieben, mit der sie die Übertragungs- und- Gegenübertragungs- Matrix in solchem Maße bedrohen, daß die therapeutische Dyade zu einem perversen Paar degenerieren kann.
        Das neunte Kapitel beschäftigt sich mit der Notwendigkeit von Grenzverletzungen, die einen unauflöslichen Bestandteil gesunder Neugierde bilden. Ich versuche zu zeigen, daß Patient und Therapeut sich an einen Ort begeben müssen, an dem sie beide zuvor nie gewesen sind, um eine neue Erfahrung zu machen, die Veränderung ermöglicht.
        Ich denke nicht, daß dieses Buch alle Probleme zu lösen vermag, die in der Arbeit mit der erotischen Übertragung und Gegenübertragung - dem schwierigsten Teil der Therapie - auftauchen. Mir persönlich aber haben sich diese Gedanken in der klinischen Praxis als hilfreich erwiesen, und ich hoffe, daß dieses Buch andere Therapeuten dazu ermuntern wird, noch einmal unvoreingenommen über die Erotik und ihre Bedeutung in der klinischen, analytischen Situation nachzudenken."



    Neuntes Kapitel: Die Versuchungen der Grenzverletzung 295-298

    "Die Versuchungen der Grenzverletzung

    Seltsamlich und seltsamlicher!

      IN DIESEM KAPITEL möchte ich versuchen zu zeigen, daß die Grenzverletzung in der kreativen Entwicklung einen integralen Bestandteil der Neugierde und des Fragens bildet. Als Grenzverletzung bezeichne ich den notwendigen Schritt, mit dem man zuvor scheinbar unzugängliches Gelände betritt. In der Bedeutung, in der ich den Begriff hier benutze, kennzeichnet die Grenzverletzung ein Drängen über anerkannte Normen hinaus, ein Verlassen des Erwarteten - ein Überschreiten bekannter Grenzen. Auf den   therapeutischen Kontext bezogen bedeutete dies, daß sich Therapeut und Analysand an einem anderen Ort wiederfinden müssen. Daher bin ich der Meinung, daß wir die Psychotherapie als einen   wechselseitig transformierenden Prozeß betrachten sollten: das analytische Paar als transformierendes Paar. Diese Kategorisierung gilt natürlich auch für Mutter und Kind und für Liebende. Für die erotische Übertragungs- Gegenübertragungs- Matrix heißt das,  daß die Erotik zwangsläufig die größten Möglichkeiten zur Grenzverletzung birgt.
        Ich möchte mein Anliegen mit einem Zitat aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland illustrieren, aus dem auch die Überschrift des dieses Abschnitts stammt:
     

        "Seltsam und seltsamlicher!", schrie Alice (sie war so überrascht, daß sie einen Moment lang vergaß, wie man richtig spricht).


      Alice sprach vielleicht nicht korrekt, aber sie benutzte die Sprache kreativ. Sie mag gegen die Grammatik verstoßen haben, das Resultat aber war eine Wendung, die im Englischen sprichwörtlich wurde ["Curiouser and curiouser!"].   [296]

        Zu unterscheiden ist allerdings zwischen einer gesunden und einer destruktiven Grenzverletzung. Natürlich ist das Verletzen bestimmter Tabus wie zum Beispiel der Inzest destruktiv. Die Erotik in der Psychotherapie ist sicherlich destruktiv, wenn der Therapeut versucht ist, das Material nicht mehr als symbolisch zu behandeln, und statt dessen beschließt, sein Tun von seinen Gefühlen leiten zu lassen, indem er versucht, eine reale sexuelle Beziehung mit der Patientin zu entwickeln.
         Man muß jedoch sagen, daß bestimmte Arten der Untersuchung mit Sicherheit Schwierigkeiten bereiten werden. Vielleicht können manche Fragen der Hybris nahekommen. Pandoras Neugierde hatte zur Folge, daß sie ihre Büchse öffnete und so alle Übel in die Welt entließ. In Sophokles' König Ödipus trotzt Ödipus der Warnung des Sehers Teiresias, daß es besser sei, manches nicht zu wissen. Die Suche nach diesem Wissen führt ihn in den Untergang. Bion (3965) lenkt unsere Aufmerksamkeit auch auf die biblische Geschichte - Adam und Eva aßen von der Frucht im Garten Eden und wurden daraufllin von einem Gott schwer bestraft, der es ihnen verboten hatte, vom Wissen um Gut und Böse zu kosten. Der Turmbau von Babel, wo die Menschen in das Reich Gottes vorstoßen wollten, zog ebenfalls eine Strafe nach sich - die Sprachverwirrung. Im Mythos vom Ödipus begeht die Sphiox Selbstmord, als ihr Geheimnis aufgedeckt wird.
        Neben der Mythologie finden sich weitere gleichermaßen anschauliche Beispiele: Giordano Bruno wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt und Galilei zum Widerruf gezwungen, weil die Kirche sich nicht mit der These anfreunden konnte, daß die Erde nicht den Mittelpunkt des Universums bilde. Und schließlich wurde Freud aufgrund seiner Theorien über das kindliche Sexualerleben zu Beginn seiner Laufbahn geächtet, und später haben die Nazis seine Bücher verbrannt. Das Streben nach Wissen kann gefährlich sein.
        Das Streben nach Wissen ist auch Teil der gesunden psychischen Entwicklung. Hamilton (1982) zeigt in ihrer zusammenfassenden Darstellung der Säuglingsforschung, daß Wissen und Wissensdurst unauflöslich verbunden sind mit der Beziehung zur Mutter. Unser Wissen von der Welt ist zunächst unser Wissen über den Mutterleib. Wenn diese Basis zuverlässig verankert wird, erwirbt der Säugling [296]  das Zutrauen, um die Welt vom sicheren Schoß der Mutter aus zu erforschen. Bowlby (1969) sagte daher, daß sich das Explorationsverhalten des Säuglings in Gegenwart der Mutter {Sponsel: Bowlby spricht korrekt von Mutterfigur} entwickele. Dies ähnelt Winnicotts (1984a) Beschreibung der Fähigkeit zum Alleinsein. Beide Autoren stellten fest, daß die Neugierde gehemmt wird, wenn die Mutter, das heißt die sichere Basis, fehlt. Wenn ihm die Verbindung zur Mutter abhanden kommt, wird der Säugling von Angst überwältigt, die jedes weitere Forschen und Untersuchen bremst. Irgendwann schließlich exploriert das Kind auch dann, wenn es seine Mutter nicht sieht, aber nur unter der Voraussetzung, daß es selbst die Mutter verlassen hat und nicht umgekehrt. Sofern das Kind weiß, wo sich die Mutter aufhält, kann es seine Aufmerksamkeit von ihr abziehen. Ein solcher Wissenserwerb hängt mit dem Spiel und mit Sicherheit zusammen. Meiner Meinung nach spielt auch das Wissen um die Fakten des Lebens eine Rolle (siehe siebtes Kapitel). Hier liegt der Hemmung der Wißbegierde die Unfähigkeit der Eltern zugrunde, es zu ertragen, daß das Kind über ein bestimmtes Wissen verfügt.
        Hamilton steht der Freudschen Theorie des Wissens insofern kritisch gegenüber, als diese mit der Urszene und der Aufdeckung tabuisierter Geheimnisse zusammenhängt. Sie kritisiert auch das kleinianische Modell, demzufolge das Stillen den Prototyp einer inkorporativen Theorie des Wissens darstellt. Hamilton bezeichnet diese Theorien als die "tragische Vision des Wissens", die Neugierde und Schmerz als untrennbar sieht. Wissen ist hier alles oder nichts, wodurch die andere Seite der Neugierde ausgelöscht wird, das "Mysterium" der Realität, das man mit den Worten Einsteins als die Fähigkeit beschreiben kann",jeden Tag ein bißchen zu begreifen". Sie schreibt:
     

      'Ich betrachte die Sexualität als Bestandteil, nicht als Ursache der Explorationsaktivität. Wenn Babys merken, daß das Problemlösen an sich motivierend ist, müssen wir nicht nach Wegen suchen, um Babys zu lehren, Wissen zu erwerben.' (Hamilton 1982, S. 264)


    Daran anschließend, erläutert sie die Wichtigkeit des Spiels für die Entwicklung der Neugierde und den Individuationsprozeß. Das [298] Spiel bildet also einen Zwischenbereich, in dem sich Primär- und Sekundärprozesse, Handeln und Denken, vereinen.
        Mein eigener Standpunkt befindet sich irgendwo zwischen dieser "tragischen Sicht" und der Spielfunktion. Mir scheint, daß es zahlreiche Gründe gibt anzunehmen, daß beide für den Wissenserwerb eine Rolle spielen. Wissen ist ein Paradox: Es kann lustvoll und schmerzvoll sein - explorativ und grenzverletzend.
        Wenn wir die Grenzen eines vertrauten und kartographisch erfaßten Territoriums überschreiten, finden wir uns an einem neuen Ort wieder. Er kann sich als Quelle der Angst wie auch der Kreativität erweisen. Solange wir uns in bekanntem Territorium aufllalten, das uns vertraut ist, gibt es kaum Neues zu entdecken. Wir müssen an einen psychischen Ort gelangen, an dem wir zuvor noch nicht gewesen sind, damit etwas Neues geschieht. Ich möchte hinzufügen, daß ich die geographische Metapher nur zu deskriptiven Zwecken benutze.
        Die Geschichte der Mythologie lehrt uns, daß die menschliche Psyche häufig in Versuchung gerät, verbotene Grenzen zu überschreiten. Einzig dieses Risiko ermöglicht einen kreativen Sprung. Der Prozeß der Weiterentwicklung und Individuation läßt die Grenzverletzung als Versuchung erscheinen.
        Ich pflichte der oben zitierten Ansicht Hamiltons zu, daß die Sexualität nur eine der Ursachen des Explorationsverhaltens darstellt. Sie ist aber von derart zentraler psychischer Bedeutung, daß es keinen Grund gibt, sie auf eine Stufe mit anderen Formen der Motivation zu stellen. Wissen beginnt mit dem, was das Baby über seinen eigenen Körper und den der Mutter weiß. Das Körpererleben läßt sich ohne Bezug auf das Sexuelle oder, wie ich lieber sage, ohne Bezug auf das Erotische nicht verstehen.
        Alles, was ich gerade geschrieben habe, ist für die Arbeit mit der erotischen Übertragung und Gegenübertragung relevant. Die Erotik führt das Individuum in die miteinander zusammenhängenden Bereiche des Heiligen und des Profanen ein. Unter historischem Blickwinkel konfrontiert die erotische Übertragungs- Gegenübertragungs- Matrix die analytische Arbeit mit den größten Schwierigkeiten. Wir dürfen aber vermuten, daß in eben diesen Risiken auch die größten therapeutischen Möglichkeiten liegen."


    Teil 2:  Kritischer Kommentar: in Vorbereitung
     



    Querverweis-1  Sexueller Mißbrauch in der Psychoanalyse und Analytischen Psychotherapie
    Querverweis-2   Kunstfehler aus Sicht der allgemeinen und integrativen Psychotherapie
    Querverweis-3  Kritik der Psychoanalyse und Analytischen Psychotherapie


    Fußnoten (Erklärungen einiger Fachtermini)
    F01  Es geht hier um Psychoanalyse, die analytische Psychotherapie und nicht allgemein um die Psychotherapie:
        Psychoanalyse heißt in der Interpretation der SGIPT die durch Sigmund Freud begründete spezielle tiefenpsychologische Lehre mit folgenden zentralen Annahmen: (1) Erleben und Verhalten [= Psyche] wird wesentlich von Unbewußten bestimmt. (2) Das Unbewußte bedient sich hierbei einer eigenen, symbolischen Sprache, die von der Psychoanalyse entschlüsselt und gedeutet werden muß. (3) Entscheidende Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung kommt hierbei den frühen Erfahrungen mit den Bindungsbeziehungspersonen zu. (4) Die Lebensleistung der individuellen Persönlichkeit besteht darin, die eigenen Bedürfnisse mit den Fähigkeiten und Möglichkeiten, die die Realität bietet in ein ausgewogenes und zufriedenes Verhältnis [Menninger: Leben als Balance] zu bringen, woraus Gesundheit, Lebenslust und Lebensfreude resultiert. (5) Psychische Störungen entstehen wesentlich durch unbewußte Konflikte, die persönlichkeitsangemessenes Erleben und Verhalten behindern und bei entsprechendem Andauern und Ausprägung dann Symptome produzieren. (6) Traditionelle psychoanalytische Bewältigung, Linderung, Besserung oder Heilung wird durch die Handhabung von Übertragung und Gegenübertragung (Arrangement in der Sitzung; liegen auf der Couch); Analyse, Deutung und Durcharbeiten (Heilmittel, Methoden) von Träumen, Erleben, Erfahrungen, Abwehr und Widerstand (Produkte, Material der PatientInnen) mit dem Ziel einer Überwindung in der künstlich herbeigeführten sog. Übertragungsneurose und ihrer Auflösung bewirkt. (7) Hinzu kommen neuere Konzepte und Einverleibungen (Assimilationen) aus anderen Psychologien, Psychotherapieschulen und Nachbar-, Grund- und Hilfswissenschaften.
        Analytische Psychotherapie heißt die in Deutschland mit maximal 300 Stunden durch Krankenkassen finanzierbare Anwendung der Psychoanalyse auf psychische Störungen mit Krankheitswert, also etwas flappsig die Krankassenausgabe der Psychoanalyse.
        Psychotherapie ist der umfassende Begriff, der alle Verfahren, Methoden, Techniken und Systeme betrifft, die sich der wissenschaftlich begründeten Bewältigung, Linderung, Besserung und Heilung von psychischen Störungen mit Krankheitswert widmen. Dazu zählen auch viele Verfahren, die bislang aus niederen Macht- und Pfründemotiven als "Richtlinientherapie" noch keine Anerkennung finden konnten. Es ist nicht zulässig, Psychoanalyse oder Analytische Psychotherapie mit Psychotherapie gleichzusetzen. Das ist terminologisch, logisch, methodologisch, wissenschaftstheoretisch, sprachlich, sachlich, berufs- wie auch sozialrechtlich falsch.
        PsychoanalytikerInnen sind vielfach keine PsychologInnen, auch wenn sie es manchmal gern so darstellen, wie z. B. Alexander Mitscherlich. In Deutschland kann man nicht durch Selbsternennung zum Psychologen werden, sondern man muß einen Diplom-Studiengang erfolgreich abschließen.
    F02  Übertragung und Gegenübertragung: Übertragung und Gegenübertragung sind theoretisch einfache, praktisch aber sehr schwierig handhabbare Begriffe. Wird ein Bewußtseinsinhalt von A gegenüber B durch eine frühere Erfahrung mit C wesentlich beeinflußt, spricht man von Übertragung. Wenn ich mich z. B. von der PsychotherapeutIn kritisiert fühle, können frühere Kritikerfahrungen meine augenblickliche Reaktion auf die erlebte Kritik beeinflussen. Das heißt dann Übertragung, an sich eine sprachlich und sachlich sinnige Wort- und Begriffsschöpfung. Die Analyse der Übertragung legt solche anderen, früheren Anteile C frei.
    F03  Beziehung (analytische): Diese Beziehung ist durch das Arrangement und die Technik der Therapie eine besondere, die besonders die Aktivierung früherer Erlebnisinhalte und ihre Übertragung fördert.
    F04  Objektbeziehungsschule (britische): "Objekt" kann in der Lehre der Psychoanalyse alles sein, was es in den vielen Welten (z. B. Real, Soll, Phantasie) gibt: die Mutterbrust, ein Auto, das Lächeln einer FreundIn, das Gegenüber (PatientIn oder PsychotherapeutIn), die Haltung des Vaters, wenn er einen Fehler bei mir entdeckte usw. Der Begriff "Objekt" entspricht in der Philosophie und Wissenschaftstheorie dem allgemein unbestimmten Begriff "Gegenstand", das also, was man betrachten möchte. So gesehen, kann man zu allen Objekten unserer Welten eine Beziehung haben (eine einfache Einteilung der Grundbeziehungen aus allgemeiner und integrativer Sicht  finden Sie hier und eingebettet in eine Theorie der Werte hier). Was nun die britische Objektbeziehungsschule in Abgrenzung zu älteren oder anderen psychoanalytischen Theorien genau bedeutet, ist nicht einfach und klar zu sagen, da das allgemeine theoretische Chaos in der Psychoanalyse trotz der Leistungen einiger Koryphäen, allen voran wohl Thomä & Kächele mit ihrem großen Lehrbuch, den alltäglichen 'Standard' repräsentiert. U. a. hat Otto Kernberg dem Thema einige seiner Bücher gewidmet (Liebesbeziehungen, Innere Welt und äußere Realität, Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse). Von Karlo Gerstner, Psychotherapieforum, stammt folgende Literaturempfehlung: Bacal, H.A & Newman,K.M. (1994). "Objektbeziehungstheorien - Brücken zur Selbstpsychologie": Stuttgart: (Verlag?).
       Ergänzung 24.3.01: Sheldon Cashdan (dt. 1990, engl. 1988). Sie sind ein Teil von mir. Objektbeziehungstheorie in der Psychotherapie. Köln: Edition Humanistische Psychologe, S. 15: "Was genau ist mit 'Objektbeziehungen' gemeint? Von welcher Art von 'Objekten' ist hier die Rede? Die Antwort darauf ist relativ einfach: Die 'Objekte' sind Menschen. ... Diese Beziehungen können innerlich oder äußerlich sein, phantasiert oder real, doch immer geht es um Interaktionen mit anderen Menschen." S. 16: "Es würde die Sache wahrscheinlich klären helfen, wenn der Begriff 'Objekt', wo immer er erscheint, durch 'Mensch' oder 'menschlich' ersetzt würde." Demnach ist im Grunde ist die hochtrabende und dunkle Sprechweise von "Objektbeziehungstheorie" so überflüssig wie ein Kropf und so trivial wie das Amen in der Kirche. In der Objektbeziehungstheorie ist die Klasse aller Objekte, zu denen eine Beziehung bestehen kann, eingeschränkt auf menschliche Objekte. Teilmenge Mensch. Das ist alles. Objektbeziehungstheorie = Theorie der Beziehungen, die Menschen zu Menschen leben, wünschen, phantasieren, ..., können. Theoretisch und praktisch geht die Entfaltung der sog. "Objektbeziehungstheorie" einher mit dem Wandel von einer intrapsychischen zu einer interpsychischen Betrachtungsweise und Präferenz: von der Person zur Interaktion. Weshalb man in der Psychoanalyse um solche differentiellen und sozialpsychologischen Trivialitäten einen solchen Wind macht, entzieht sich meiner Kenntnis.

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Buchpräsentation und kritischer Kommentar über: Mann, David (dt. 1999, engl. 1997). Psychotherapie: Eine erotische Beziehung. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/lit/r_mann.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Autorisierte Besprechung. Die Rechte liegen beim Klett-Cotta Verlag, Stuttgart.

     Ende  Psychoanalyse  eine  erotische Beziehung  __  Überblick  __  Rel. Aktuelles __  Rel. Beständiges __ Titelblatt __ Konzept __ Archiv __ Region  __ Service-iec-verlag __ Mail: sekretariat@sgipt.org __
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