Ich will weder befehlen noch gehorchen1
Kant: "Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt
(Anarchie)."
Die Notwendigkeit der Revolution.
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Skizzen und Porträts internationaler Anarchisten
mit einer Einführung
in den Klassischen Anarchismus.
108 Babeuf, Gracchus; 109 Bakunin, Michael; 110 Blanqui, Auguste; 111 Buonarotti, Filippo Michele; 112 Cafiero, Carlo; 113 Costa, Andrea; 114 Durruti, Buenaventura; 115 Godwin, William; 116 Goldman, Emma; 117 Kropotkin, Peter; 118 Malatesta, Errico; 119. Most, Johann; 120. Niewenhuis-Domela, F.; 121 Orwell, George; 122. Proudhon, Pierre-Joseph; 123 Rocker, Rudolf.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
"In jeder Tasche eine Bombe, angefüllt mit Dynamit, Mordstahl in der einen, die Brandfackel in der anderen Hand - so stellt sich ein Gegner des Anarchismus in der Regel einen Anarchisten vor. Er erblickt in ihm einen Menschen, der halb Narr, halb Verbrecher, nichts weiter im Sinn hat, als die Ermordung eines jeden, der nicht seiner Meinung ist, und dessen Ziel der allgemeine Wirrwarr, das Chaos ist." So sah es der deutsch-amerikanische Anarchist Johann Most im Jahre 1889, und drei Jahrzehnte später bestätigte der englische Philosoph Bertrand Russell diesen Eindruck: "Nach volkstümlicher Ansicht ist ein Anarchist jemand, der Bomben wirft und andere Greueltaten begeht, entweder weil er mehr oder weniger geistesgestört ist oder weil er extreme politische Ansichten als Vorwand für kriminelle Neigungen benutzt." Dieser zum Klischee erstarrte Anarchismusbegriff gilt im Grunde auch heute noch", so sieht es der Herausgeber der "Dokumente zur Weltrevolution", Bd. 4 "Der Anarchismus", Freiburg 1972, im Vorwort.
Gegenwärtig [RS 1975/76], angesichts der Aktivitäten der Bader-Meinhof-Gruppe und dem Aufschwung internationaler Terroristen, hat die Presse ein übriges getan, um den Anarchismusbegriff auf Jahre hinaus zu diskriminieren und unmöglich zu machen. Ohne Zweifel ist richtig, daß es innerhalb der anarchistischen Weltbewegung immer Wirrköpfe und Terroristen gab, ebenso wenig kann geleugnet werden daß manche sehr leichtfertig mit Bomben umgingen, doch ist dies nur ein einziger Aspekt in der historischen Bewegung; ein Aspekt, der jedoch herausgehoben und verabsolutiert, eine vollständig verzerrte Darstellung der anarchistischen Weltanschauung bewirkt.
Die beste, treffendste und bündigste Anarchismusdefinition stammt von keinem Geringeren als Immanuel Kant, der in der Anthropologie (1798) die Anarchie als "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt" erkannte - allerdings ablehnte.
Die soziale Utopie der Anarchisten ist im Grunde nur in einer entfalteten sozialistischen Demokratie möglich, setzt mündige, freie Bürger voraus, die als Freie mit anderen Freien ihr Leben selbstverwaltend und dezentralisiert in die eigenen Hände nehmen. Einer der Urväter des Anarchismus, der englische Philosoph William Godwin, Ehemann der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, sieht das Problem in der Erziehung ("Herrschaft - eine Folge von Unwissenheit, Freiheit - ein Problem der Erziehung"), sehr zu Recht, doch Godwin ist längst verkannt und viele der Wirtshausanarchisten kennen noch nicht einmal seinen Namen, manche der modernen Dandys und Salonrevoluzzer mit ihrer linken Kreuzworträtselbildung sprechen ihm gar den 'Status' eines 'Anarchisten' ab. [>28]
Es gibt keine revolutionäre Weltanschauung, die so unbedingt und radikal das Individuum in den Mittelpunkt seiner ideologischen politischen Bemühungen stellt; und es gibt auch keine Weltanschauung, die so radikal und unbedingt demokratische Lebensformen verficht. Gerade diese unbedingte und radikale demokratische Individuenzentriertheit schließt im Grunde jegliche Gewaltanwendung, jegliche Manipulation, jegliche "Herrschaft von oben" aus. Der Widerspruch und die Tragik der Anarchisten ist gerade, daß aus ihren "eigenen Reihen" immer wieder Leute ausbrachen, die die anarchistische Lehre nicht verstanden hatten und sie dazu benutzten, durch sinnlose Gewalthandlungen zu diskriminieren.
Die Anarchisten befinden sich nicht nur im schärfsten Widerspruch zum autoritären Kapitalismus, sondern sie sind gleichzeitig die unerbittlichsten Kritiker des autoritären Sozialismus und der kommunistischen Bürokratie. Den Anarchisten geht es daher wie den Pazifisten: sie werden in Ost und West gleichermaßen verfolgt, sie kämpfen einen nahezu aussichtslosen Kampf zwischen den Mühlen des Weltkommunismus und Weltkapitalismus.
Besonders verankert waren die anarchistischen Ideen in den romanischen Ländern. Die spanische Anarcho- Syndikalistenbewegung, die immerhin weit über eine Million Anhänger hatte, forderte in ihrem Programm 1936: Vergesellschaftung der Produktionsmittel, wie auch Grund und Boden, Abschaffung des Staates, Abschaffung des Autoritätsprinzips "und folglich auch die Klassen, die die Menschen in Ausbeuter und Ausgebeutete, Unterdrücker und Unterdrückte teilen" (a. a. O., S. 381). Grundlage der Gesellschaft ist in der anarchistischen Vorstellung die freie Kommune, die sich selbst verwaltet und auch ihre eigene Organisationsform bestimmt. Pflichtarbeit für alle, entsprechend den physischen und moralischen Möglichkeiten des jeweiligen Individuums. Als Aufgabe dieser gesellschaftlichen Grundeinheit erkennt man: "In erster Linie werden sich die Kommunen um ein Höchstmaß an Bequemlichkeit für alle Einwohner einer jeden Ortschaft bemühen, wobei die Hilfe für die Kranken und die Erziehung der Kinder gesichert sind" (a. a. O., S. 383). So zeigt sich in dieser Bewegung, die so hoffnungsvoll und tapfer gegen Franco kämpfte, daß die Freiheit des Individuums, sein Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, sein Recht auf freie Übereinkunft mit anderen Freien, die zentrale Stellung einnimmt - die Freiheit zur Unterdrückung und Ausbeutung wollten die Anarchisten allerdings niemandem zugestehen. Kennzeichnend ist ferner die Absage der Anarchisten an allgemeingültige Formeln, wie etwa das Glück aller zu erreichen sei. Die skeptische Haltung bezüglich einzuschlagender Maßnahmen ist geradezu ein Musterbeispiel an wissenschaftlichem Denken, in dem zum Prinzip wird, daß Vorstellungen geändert werden können und müssen, wenn neue Erfahrungen dies erfordern - diese Erkenntnis sollten sich Kapitalisten wie Bolschewisten hinter die Ohren schreiben!"
Biographische Skizzen
(Auswahl)
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BABEUF, 'Gracchus'
1760-1797 [Nr.108]
Französischer Revolutionär, Anarchokommunist. Stammt aus einer armen Bauerngegend der Picardie. Um seine Verbundenheit mit der Notwendig- keit einer Agrarreform deutlich zu machen, nahm er den Namen 'Gracchus' (eigentlich hieß er Francois Noel) an. ('Die Sonne scheint auf jeder- mann hernieder und die Erde gehört niemandem'). Die Habgier der Besitzenden hielt er für das Hauptübel der Gesellschaft. Nach Ausbruch der Revolution betätigt er sich als Agitator, Journalist und als Broschürenschreiber. Auch Babeuf kam mehrfach ins Gefängnis. Er war radikaler Anhänger des Gleichheitsprinzips, wobei er sich vom Staat als Ordnungs- und Verteilungsinstanz mehr versprach als die klassischen Anarchisten. 1796 gründete er eine Geheimorganisation, um das Direktorium zu stürzen und die Republik der Gleichen zu errichten. Die Verschwörung wurde je- doch entdeckt. Ein Jahr später wird Babeuf hingerichtet, seine Gefährten deportiert. Lit.: Talmon, J. L. Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln 1961 [W] |
Michael Bakunin stirbt 1876 in Bern. "Ausbeuten und regieren ist einunddas- selbe; das eine ergänzt das andere und dient ihm schließlich als Mittel zum Zweck" (Gott und der Staat). Lit.: J. F. Wittkop. Bakunin. romono Hamburg 1974. [DadA,
W]
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BAKUNIN, Michael
1814-1876 [Nr.109]
Russischer Revolutionär. Sein Leben lang überall dabei, wo Revolutionen stattfanden. Sohn einer Landadelsfamilie; mit 15 Jahren Artillerieschule in Petersburg, Bakunin verzichtete auf eine militärische Karriere und studierte ab 1838 Philosophie in Moskau. Im Sommer 1840 geht er nach Berlin und wird unter dem Einfluß Ludwig Feuerbachs Revolutionär. 1842 Bekanntschaft mit Herwegh und Arnold Ruge in Dresden. 1843/44 Reisen in die Schweiz, nach Brüssel und Paris. Bekanntschaft mit Marx (mit dem er sich prügelte) und Proudhon. Er verweigert die Rückkehr nach Rußland und wird in Abwesenheit zu Verbannung und Adelsverlust verur- teilt. 1847 Polenrede in Paris, danach Ausweisung. 1848 eilt er zur Revo- lution nach Paris, ist anschließend beim Prager Aufstand dabei. Flucht nach Breslau und Berlin, wird dort ausgewiesen. 1849/50 aktive Teilnahme an der Mairevolte in Dresden, zusammen mit Richard Wagner auf den Barri- kaden. Gefangennahme in Chemnitz, eingekerkert in Dresden, zum Tode verurteilt, Auslieferung nach Österreich, Kerker in Prag, zum Tode verur- teilt und Auslieferung nach Rußland. 1851 Peter-Pauls-Festung, 1857 De- portation nach Sibirien, Heirat, 1861 gelingt ihm die Flucht über Japan und. Nordamerika nach London. 1863 Versuch, mit polnischem Freikorps zu landen, scheitert bereits in Schweden. 1865 Übersiedlung nach Sorrent und Neapel, 1868 Beitritt zur Internationalen Arbeiterassoziation, kurze Zeit danach Austritt, Gründung der 'Allianz'. 1869 Übersiedlung nach Lo- carno, arbeitet an der Übersetzung des 'Kapitals', unterbricht aber, um am Aufstand in Lyon mitzumachen. Flucht nach Marseille. Zurück nach Lo- carno, Aufstand in Paris, Bakunin will auch dorthin, um an der Kommune teilzunehmen, gelangt aber nur bis zum Jura. 1872 Haager Kongreß der Internationale, Bakunin wird ausgeschlossen, Bruch mit Marx, Bekannt- schaft mit Cafiero, der ihm seine Villa zur Verfügung stellt. 1874 beim Bologna-Aufstand dabei, Bruch mit Cafiero. |
Teilnahme an der Kommune, Verhaftung nach Scheitern der Kommune. 1878
öffentliche Kampagne zur Freilassung Blanquis, er wird zum Abgeordneten
gewählt.
Lit.: Kritschewski, B. Aus Auguste Blanqui's Leben. In: Sozialistische Monatshefte 1897. [W] |
BLANQUI, Auguste
1805-1881 [Nr.110]
Französischer Revolutionär, Mitglied der Kommune. Blanqui besuchte das Gymnasium und betätigte sich nachher als Hauslehrer. 1824 Mitglied der Geheimgesellschaft der Carbonari. 1827 aktive Teilnahme an der Studen- tenrevolte in Paris, Verletzung (Säbelhiebe, Halsschuß). 1829 Reisen nach Südfrankreich, Italien, Spanien; Stenograph bei 'le Globe'. 1830 Teilnahme an der Revolution. 1831 Verhaftung wegen Studentendemonstrationsbe- teiligung. 1832 Verurteilung wegen 'Vergehens gegen die Staatssicherheit', 1 Jahr Gefängnis. 1836 wegen 'illegaler Herstellung von Schießpulver, Vorbereitung eines bewaffneten Aufstandes' 2 Jahre Gefängnis, Verbot der Gesellschaft seiner Familie. Nach Entlassung wegen Amnestie ständige polizeiliche Überwachung. 1839 besetzt Blanqui mit 500 bewaffneten Revolutionären das Hotel de Ville. Zwei Tage blutige Straßenkämpfe, Flucht. 1840, nachdem er er- wischt wurde, Verurteilung zum Tod, jedoch Umwandlung der Strafe in lebenslänglichen Kerker. Dort erwarten ihn unmenschliche Haftbedingun- gen, 1842 scheitert sein Fluchtversuch. Blanqui bekommt Tuberkulose und wird 1844 begnadigt. Er weigert sich jedoch, die Begnadigung anzuneh- men, weitere 20 Monate Haft. 1845 Entlassung aus dem Krankenhaus, Wiederaufnahme der politischen Aktivität. Bei den Unruhen und Demon- strationen in Thours dabei, erneut verhaftet, Freispruch mangels Beweisen. 1848 eilt er nach Paris, wo er sich an die Spitze des Umsturzes der Ar- beiterbewegung setzt. Verleumdung Blanquis, Aufrufe zu Demonstratio- nen, blutige Unruhen. Am 15. Mai 1848 stürmt Blanqui an der Spitze einer Arbeiterdemonstration die konstituierende Versammlung, 26. Mai 1848 Verhaftung und abermals Kerker. 1849 Verurteilung zu 10 Jahren Kerker, 1853 Fluchtversuch, daraufhin Verschärfung der ohnehin schon miserablen Haftbedingungen, 1857 Verlegung nach Korsika, abermalige Verlegung aus 'Sicherheitsgründen' in ein Straflager nach Algerien. Entlassung auf- grund Amnestie, Besuch in London, danach revolutionäre Tätigkeit in Paris. 1861 erneute Verhaftung, 4 Jahre Gefängnis, 1865 Flucht nach Brüssel, 1867/68 Gründung einer Organisation, 1870 Aufstandsversuch, |
Lit.: Eisenstein, Elizabeth L. Filippo Michèle
Buonarotti. Cam. Mass. 1959.
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BUONAROTTI,
Filippo Michèle 1761-1837 [Nr.111]
Französischer Anarchokommunist, von Bakunin (Staatlichkeit und Anar- chie, 1972 Ullstein 2846, S. 65, 66, 335) als größter Verschwörer des 19. Jahrhunderts gefeiert. Stammt aus Korsika, wo 1769 der Unabhängig- keitskampf tobte, worauf James Joll (Die Anarchisten, dt. 1969, S. 32) die revolutionären Ideen Buonarottis zurückführt. Bedenkt man aber, daß Buonarotti zu dieser Zeit ganze 8 Jahre jung war, so klingt es ziemlich un- wahrscheinlich. Buonarotti nahm an der Seite Babeufs an der Französi- schen Revolution teil und gehörte der 'Gesellschaft der Gleichen' an. Er ist der Geschichtsschreiber der Verschwörungen Babeufs (F. M. B. 'Con- spiration pour l'égalité dite de Babeuf', neu herausgegeben von G. Lefèvre, 2 Bde., Paris 1957). Buonarotti gründete zahlreiche Geheimgesellschaf- ten in Italien, Frankreich und Belgien, darunter die Gruppe der Carbonaris. Lange Zeit lebte er in der Schweiz und in Brüssel im Exil. Zur Revolution schrieb er 'Die Verblendung der Atheisten, die Irrtümer der Hébertisten, die Immoralitat der Dantonisten, die Erniedrigung der Girondisten, die dunklen Machenschaften der Royalisten und das Gold der Engländer zer- schlugen am 9. Thermidor (27.7.1794, Sturz Robespierres, R. S.) die Hoffnungen des französischen Volkes und der Menschheit' (zit. J. Joll, Die Anarchisten, S. 33). 1830 kehrt er nach Frankreich zurück, Symbolfigur vieler jüngerer Revolutionäre. Der Engländer O'Brien notierte über ihn (J. Joll, S. 33) 'ein tapferer und verehrungswürdiger alter Mann, der noch in dem fortgeschrittenen Alter von 78 Jahren bei der bloßen Erwähnung Robespierres wie ein Kind Tränen vergoß'. |
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COSTA, Andrea
1851-1910 [Nr.113]
Italienischer Anarchist (Frühzeit) und erster sozialistischer Abgeordneter. Studierte Literatur in Bologna, brach jedoch unter dem Einfluß der Lehren Bakunins ab und widmete sich der Verbreitung anarchistischer Ideen. 1871 'Der Arbeiterverband', 1874 'Der Hammer', Organisationsarbeiten für die Internationale in London. Im selben Jahr erste Verurteilung wegen Vorbereitung eines revolutionären Komplotts. Nach Verbüßung der Strafe 1876 nach Paris, wo er seine Lebensgefährtin Anna Kuliscioff kennenlernt. In Frankreich oft verhaftet und eingesperrt, allmähliche Abkehr von Bakuninschen Ideen. 1880 zurück nach Italien, in Mailand Gründung der 'Internationalen Zeitschrift für Sozialismus', 1881 Gründung des 'Avanti' (Voran!). 1882 als erster sozialistischer Abgeordneter ins Parlament ununterbrochen bis zu seinem Tode gewählt. 1892 Gründung der italienischen Arbeiterpartei auf dem Kongreß in Genova. Lit.: Italienische Nationalbiografie. [W.en] |
Lit.: H. M. Enzensberger. Der kurze Sommer der Anarchie. B. Durrutis Leben und Tod. Den Haag 1971, Roman mit dokumentatori- schen Texten. H. M. Enzensberger weist auf eine wissenschaftliche Biografie von Abel Paz hin. [W] |
DURRUTI,
Buenaventura 1896-1936 [Nr.114]
Legendärer spanischer Anarchist, Führer einer republikanischen 'Elitekolonne' im Bürgerkrieg. In Leon geboren, kommt er in seiner Jugend als Metallarbeiter nach Bar- celona. Dort lernt er ASCASO kennen, der ihn mit anarchistischen Ideen bekannt macht. Durruti bekennt sich zur 'Propaganda der Tat' und begeht zusammen mit Ascaso eine Reihe von spektakulären Aktionen, die als Sig- nale für die Freiheit verstanden werden sollen: Ermordung des Erzbischofs von Saragossa, Attentat auf König Alfons, Überfall auf die Nationalbank in Gijon. Schließlich Flucht. Durruti und Ascaso durchwandern Südamerika und eröffnen später in Paris eine anarchistische Buchhandlung. In den drei- ßiger Jahren kehren sie nach Barcelona zurück. Bei zwei Millionen Arbei- tern, die im weiteren Sinne der anarcho-syndikalistischen Bewegung zuzu- rechnen sind, hatten sie sich bereits zu mythischen Helden verselbständigt. Durruti fällt in Madrid. Es bleibt unklar, ob er von einem Scharfschützen Francos oder, wie es den Heldenlegenden so gern entspricht, durch den Verrat rivalisierender Anarchisten oder Kommunisten ums Leben kam - jedenfalls traf ihn eine Kugel mitten ins Herz. Sein Begräbnis in Barcelona wurde zu einer Art hysterischen Massenkundgebung - über 200.000 Men- schen sollen dabei gewesen sein. ('Mag die Bourgeoisie ihre Welt vernichten, bevor sie von der Bühne der Geschichte abtritt; wir tragen eine neue Welt in unserem Herzen.' Interview, Montreal Star am 30.10.1936). |
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GODWIN, William
1756-1836 [Nr.115]
Englischer Anarchist und Pfarrer ('Herrschaft eine Folge der Unwissenheit - Freiheit ein Problem der Erziehung'). Revolutionär weniger in der Praxis als im Denken, Staat und Unfreiheit hängen zusammen, lehnt die Ehe und den 'Besitz' der Frau ab, revolutionärer Straftheoretiker, der damals schon entschieden weiter dachte als die gegenwärtige Justiz auch nur zu ahnen vermag. Begründet die gesellschaftliche Vermitteltheit von Verbrechen, Strafe kann nur unter zwei Gesichtspunkten sinnvoll sein: Schutz der Ge- sellschaft und Resozialisierung. Resozialisierung ist in Gefängnissen nicht möglich, nur in eigenverantwortlicher Gruppentätigkeit können versäumte Lernprozesse nachgeholt werden. Godwin begann als Geistlicher, begei- sterte sich für die Lehren französischer Materialisten und für Rousseau. Die menschliche Geschichte stellte sich für ihn als eine einzige Abfolge von Verbrechen dar, die politischen Institutionen Ausdruck derselben, als größtes Laster sah er die ungleiche Verteilung des Eigentums an. Er wollte wie Proudhon nicht das Eigentum abschaffen, sondern allen gleichermassen zugänglich machen. Seine Gefährtin war die bedeutende Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, die im Wochenbett starb. Von sich selber meinte Godwin 'ich bin kühn und abenteuerlustig in meinen Gedanken, nicht aber im Leben'. Dennoch bewies er Mut, als die Regierung Pitt 1794 die Mit- glieder der 'Korrespondierenden Gesellschaft' des Verrats bezichtigte und anklagte. Godwin führte eine erfolgreiche Pressekampagne, so daß sie freigesprochen wurden. |
"Die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution" rechnet sie mit dem Bolschewismus ab. 1921 verläßt sie die Sowjetunion, geht nach England, später nach Kanada, wo sie 1940 in Toronto stirbt. _ Lit.: Goldman, Emma. Living my Life. (Autobiografie, New York 1931). [DadA, W] |
GOLDMAN, Emma
1869-1940 [Nr.116]
Tochter eines russisch-jüdischen Theaterdirektors, vom 7. bis zum 13. Lebensjahr bei einer Großmutter in Königsberg aufgewachsen. 1882 nach Petersburg, dort verkehrte sie in revolutionär gesinnten Intellektuellen- kreisen. Als 17jährige brach sie 1886 aus dem elterlichen Milieu aus und ging mit ihrer Schwester Hélène in die USA, wo sie ihren Lebensunterhalt als Arbeiterin in der Textilindustrie verdiente. Die Lebensverhältnisse des Proletariats kannte sie also aus eigener Erfahrung. 1886 große Kampagne für den Achtstundentag, an der maßgeblich Anarchisten beteiligt waren. Bei einer Demonstration kam es nach Bombenwurf, bei dem 7 Polizisten getötet wurden, zu blutigen Szenen. Die Polizei schoß wild in die Menge und viele wurden getötet und verletzt, zahlreiche Anarchisten wurden ver- haftet und 1887 hingerichtet, obwohl ihnen keine Verantwortung für das Attentat nachgewiesen werden konnte. Unter diesem Eindruck wurde Emma Goldman zu einer militanten Anarchistin. Seit 1889 lebte sie in New York, wo sie Berkman und Johann Most kennenlernte. 1893 erste einjäh- rige Gefängnisstrafe wegen 'Anstiftung zum Aufruhr'; erneute Inhaftierung, als sie für den Attentäter des Präsidenten McKinley eintrat (1901). Zwischen 1906 und 1917 gibt sie die anarchistische Zeitschrift 'Mutter Erde' heraus. Emma Goldman setzte sich nicht nur für die revolutionäre Befreiung der Arbeiterschaft, sondern gleichermaßen für die Gleichberechtigung der Frau, für freie Sexualmoral und Geburtenkontrolle (damals!) ein. Sie war ebenfalls radikale Antimilitaristin und wurde pausenlos angeklagt und ein- gesperrt. 1919 Ausweisung aus den USA, Rückkehr nach Rußland. Ihre Hoffnung auf die Revolution wurde total zerstört und in ihrer Schrift |
Wladimir Iljitsch, Ihre Handlungen sind der Ideen, die sie zu haben vorgeben, völlig unwürdig ...... Welche Zukunft hat der Kommunismus, wenn einer seiner wichtigsten Verfechter in dieser Weise auf jedem ehrlichen Gefühl herumtram- pelt.' 1921, kurz vor dem Aufstand in Kronstadt, stirbt Peter Kropotkin. Lit.: Kropotkin, Peter. Memoiren eines Revolutionärs.
dt. Frankfurt 1969. [DadA,
W]
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KROPOTKIN,
Peter 1842-1921 [Nr.117]
Russischer Revolutionär und Anarchist ( 'Wenn Unverstand im Schoße der Gesellschaft und Unordnung in den Geistern herrscht, werden die Gesetze zahlreich'). Peter Kropotkin stammt aus der königlichen Familie der Ruri- kiden, als erblicher Fürst wurde von Zar Nikolaus I das Kind für die Er- ziehung zum Höfling ausgewählt und diente Zar Alexander II als persönli- cher Page. Später Offizier bei einer Kosakeneinheit in Sibirien. Geografi- sche Studien, Studium in Moskau, Expeditionen nach Sibirien. Bedeuten- der Ruf als Geograph. 1865 durch den verbannten Schriftsteller Michajlov Kontakt zu den Schriften Proudhons, gerät dann unter den Einfluß Alexander Herzens und Michael Bakunins und schließt sich zu Beginn der siebziger Jahre der re- volutionären Intelligenz an. 1872 erste Auslandsreise in die Schweiz, trifft dort viele Emigranten und wird mit den Zielen der internationalen Arbeiter- assoziation vertraut, gerät frühzeitig mit den 'Autoritäten' (Marx und An- hänger) aneinander, die er ablehnt. Im Schweizer Jura trifft er auf die revo- lutionären Uhrmacher Schwitzguebel und Guillaume. Er kehrt als über- zeugter Anarchist nach Rußland zurück, schließt sich dort einem Bildungs- zirkel an und wird deshalb 1874 das erste Mal verhaftet. Kerker. 1876 gelingt ihm die Flucht nach London, von dort aus in die Schweiz, wo er nach Bakunins Tod zum führenden Theoretiker des Anarchismus wurde. 1879 Herausgabe der Zeitung 'Die Revolte', Ausweisung. 1881 Teilnahme am internationalen Anarchistenkongreß in London, danach in Frankreich niedergelassen, 1883 Festnahme durch die französische Polizei. 5 Jahre Gefängnis, nach 3 Jahren mußte man ihn jedoch durch den Druck der Öffentlichkeit entlassen. Bis 1917 in England, vor allem wissenschaftliche Tätigkeit; (wegen seiner schlechten Gesundheit aufgrund der Gefängnis- aufenthalte). 1917 Rückkehr nach Rußland, wo er die Revolution be- grüßte, später jedoch entsetzt war, was die Kommunisten anrichteten. Im November 1920 protestiert er in einem Brief an Lenin: 'Ich kann nicht glauben, daß es in Ihrer Umgebung keinen einzigen Mann gibt, der Ihnen sagt, daß solche Entscheidungen an das finstere Mittelalter, an die Zeiten der Kreuzzüge erinnern. |
Lit.: Italienische Nationalbiografie. [DadA,
W]
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MALATESTA,
Errico 1853-1932 [Nr.118]
Italienischer Anarchist. Studierte Medizin in Neapel und wurde durch Cafiero mit den anarchisti- schen und sozialistischen Ideen bekannt gemacht. Er wurde einer der stärksten Anhänger Bakunins. Entwickelte sich zu einer legendären Figur, wurde auf der ganzen Welt gejagt, ausgewiesen, eingesperrt. Zwischen seinen Gefängnisstrafen gab er die Zeitung 'Die soziale Frage' heraus und veröffentlichte einige Massenbroschüren ('Unter Bauern' und 'Die Anar- chie'), die in großen Auflagen Verbreitung fanden. Ausweisung aus Italien, Schweiz und Frankreich, sowie Belgien. Begab sich nach Amerika, von den Vereinigten Staaten nach Südamerika bis hinunter nach Feuerland. Nach seiner Rückkehr gründet er die Zeitung 'Die Agitation', wurde aber 1898 abermals verhaftet. Verbannung auf eine südsizilianische Insel. Ihm gelingt die Flucht über Tunesien und er gelangt nach Spanien, wo er sich an einem Aufstand beteiligt und zum Tode verurteilt wird. Abermals gelingt ihm die Flucht. Er geht in die USA, wird dort ausgewiesen und wendet sich nach England. 1913 kann er aufgrund einer Amnestie nach Italien zurück. In Ancona gründet er die Zeitung 'Volonta' (der Wille) und 1914 war er bei der 'rote(n) Woche' dabei. Abermalige Flucht nach London, dort scharfe Kritik am Krieg. 1919 Rückkehr nach Italien, gründet die Zeitun- gen 'Neue Menschheit' und 'Gedanke und Wille', wird ständig von der Po- lizei überwacht. Nach der Machtergreifung der Faschisten mußte er seine Zeitungen einstellen. Er arbeitete - als beinahe 80jähriger - als Elektriker in Rom und stirbt dort 1932. |
dort gewonnenen Erkenntnisse in einem Büchlein nieder 'Die Wissenschaft der revolutionären Kriegsführung. Ein Handbuch zur Anleitung im Gebrauch und in der Herstellung von Nitroglyzerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knall- quecksilber, Bomben, Zündern, Giften etc.'. Erneut Gefängnis. Noch 1902 zwei Monate Knast, nachdem er vertrat, die Ermordung des Präsidenten McKinley sei kein Verbrechen. Völlig vereinsamt stirbt Johann Most 1906. Lit.: Rocker, Rudolf. Johann Most - das Leben eines Rebellen. 1924. [W] |
MOST, Johann 1846-1906
[Nr.119]
Deutscher Feuerkopf ('Nieder mit dem Privateigentum - Nieder mit dem Staat - Nieder mit der Kirche, mit allem Glaubensschwindel und Pfaffen- trug!') Schwierige Kindheit, ungeliebt erzogen, mit 13 Jahren Gesichtsoperation, die ihn für immer entstellte (ausgerenkter Unterkiefer) und einen langen Bart tragen ließ. Buchbinderlehre. Wanderjahre in Deutschland, Öster- reich, Ungarn, Italien und der Schweiz. Schloß sich in Wien der Arbeiter- bewegung an und wurde einer der mutigsten und leidenschaftlichsten Ver- fechter für Sozialismus und Freiheit. Erste Gefängnisstrafe 1869. Danach 5 Jahre Zuchthaus wegen Beteiligung an einer Demonstration für Presse- und Versammlungsfreiheit. 1871 Amnestie, später für 'ewige Zeiten' aus Öster- reich verwiesen. Bebel und Wilhelm Liebknecht schickten Most nach Chemnitz, dort wurde er Redakteur, weil die beiden Redakteure der 'Chemnitzer freien Presse' gerade 'saßen'. Innerhalb eines einzigen Jahres wurden gegen Johann Most 43 Strafverfahren in Gang gesetzt. Gefängnis. 1874 und 1877 Wahl in den Reichstag. Wegen Verteidigungsrede zur Pa- riser Kommune eineinhalb Jahre Gefängnis. 1878 Agitation, entgegen so- zialdemokratischer Parteitaktik, für den Massenkirchenaustritt. Im selben Jahr Ausweisung. Emigration nach London, dort Herausgabe der Zeitung 'Freiheit', ganz in roten Lettern gedruckt. Most wurde immer radikaler und 1880 wurde er aus der SPD ausgeschlossen. Aber auch den liberalen Engländern fiel er bald zur Last, als er das geglückte Attentat auf Alexan- der II in der 'Freiheit' besang: 'Endlich' - so die riesige Titelüberschrift. 'Was man allenfalls beklagen könnte, das ist nur die Seltenheit des sog. Tyrannenmordes. Würde nur alle Monate ein einziger Kronenschuft abge- tan, in kurzer Zeit sollte es keinem mehr behagen, noch fernerhin einen Monarchen zu spielen.' 16 Monate Gefängnis. 1882 Einschiffung nach Amerika, wo er sich sofort aktiv in die Auseinandersetzungen stürzte und aktiv die Gründung der Internationale der Arbeiterverbindung 1833 in Chicago vorantrieb. Er arbeitete in einer Sprengstoffirma und legte seine |
Umfangreich schriftstellerisch tätig, u. a. dreibändige Geschichte
des Sozialismus.
Lit.: Domela-Nieuwenhuis, F. Van christen tot anarchist. 1910 ( Autobiografie). [W.en] |
NIEUWENHUIS-DOMELA,
F. 1846-1919 [Nr.120]
Niederländischer Pfarrer, Gründer der holländischen Sozialdemokratie und Anarchosozialist. Nach Rocker (Memoiren, Suhrkamp) ein hervorragen- der Sozialist auf freier Basis, der sich auf der Internationale gegen den Ausschluß der Anarchisten wandte, der große Kontrahent von Liebknecht auf dem Brüsseler Kongreß in der Einschätzung des Preußischen Militaris- mus. Nieuwenhuis behielt Recht, aber Liebknecht siegte, zum Schaden der Arbeiterbewegung. 1846 in Amsterdam geboren, lutherischer Prediger in Harlingen (1870/71), Beverwijk (71-75) und in Den Haag (75-79). Überaus sozial engagiert legt er 1879 sein Amt als Prediger nieder und tritt aus der Kirche aus, um sich ganz der Sache des freien Sozialismus zu wid- men. Schreibt im Arbeiterboten, Organ des holländischen Arbeiterbundes. Zwischen 1879 und 1897 gibt er die Zeitschrift 'Recht für alle' heraus. 1896 ein Jahr Gefängnis wegen Majestätsbeleidigung (sitzt 7 Monate ab), wegen eines Artikels 'Der König kommt', den er gar nicht selber geschrie- ben hatte. 1881 gründet er den Sozialdemo- kratischen Bund (SDB) und 1882 den Bund für das allgemeine Wahlrecht. Zwischen 1888 und 1891 Mitglied der zweiten Kammer für den Distrikt Schoterland. Die niederlän- dische Enzyklopädie kritisiert ihn als einen feurigen Apostel und das Ge- genteil von einem Taktiker, obendrein sei er noch ein unklarer Kopf ge- wesen in seinen ewigen Zweifeln zwischen utopischem und wissenschaftli- chem Sozialismus. Nun ja, die Enzyklopädie muß es bekanntlich wissen ..... Ab 1891, so die Enzyklopädie, die es bekanntlich wissen muß, entwickelte er sich enttäuscht und verbittert über den parlamentarischen Debattierclub immer mehr in die Richtung zur APO (außerparlamentarische Opposition), zu Deutsch: in Richtung anarcho-syndikalistische Bewegung (siehe Text zum Anarchismus). 1897 bricht er mit dem von ihm ins Leben gerufenen sozialdemokratischen Bund und gab eine eigene Zeitschrift heraus: 'Der freie Sozialist', in der er den Anarchosozialisrnus erklärte und propagierte. |
Lit.: In jedem Literaturlexikon. [W.en] |
ORWELL, George
1903-1950 [Nr.121]
Mit bürgerlichem Namen eigentlich Eric Blair. Journalist und Schriftsteller ('1984'). Orwell kam Ende 1936 als linker Journalist nach Barcelona. Unter dem gewaltigen Eindruck der gesellschaftlichen Umwälzung, für die er sich begeisterte, trat er in die neugebildete Volksmiliz ein. und kämpfte gegen die Franco-Truppen. Orwell ist in Indien zur Welt gekommen und war Zeit seines Lebens ein schwerkranker Mann, dessen hervorstechendstes Persönlichkeitsmerkmal eiserne Härte gegen sich selbst bei großem sozialen Engagement und Wärme für die Geknechteten war. Er war Polizeisergeant in Burma, Tellerwäscher in Paris, Landstreicher in England, Soldat und Journalist in Spanien. Nach schweren Blutstürzen, die sein kommendes Ende abzeichneten, zog er sich entgegen den ärztlichen Ratschlägen auf eine kleine stürmische Insel der Hebriden (Inselgruppe nordwestlich von Schottland) zurück. Dort lebte er ganz alleine mit seinem kleinen Adoptivsohn und das Werk, dessen Weltruhm er nicht mehr er- lebte ('1984'), eine gigantische Warnung vor jeglichem Totalitarismus, den er bereits bei den Kommunisten im spanischen Bürgerkrieg vorausahnte, entstand dort. 1938 veröffentlichte Orwell einen authentischen Bericht über den Bürgerkrieg 'Homage to Catalonia'. |
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PROUDHON,
Pierre-Joseph 1809-1865 [Nr.122]
Französischer Anarchosozialist ('Eigentum ist Diebstahl'). Proudhon stammt aus armen Handwerkerverhältnissen und ist selbst gelernter Schriftsetzer gewesen; er hat sich sein gesamtes Wissen selber angeeignet, sogar Hebräisch, Griechisch und Latein brachte er sich selber bei. 1838 erhielt er ein Paris-Stipendium, das er dazu benutzte, die provokatorische Streitschrift 'Was ist das Eigentum?' herauszugeben, was sofort die Behör- den und die öffentliche Anklage auf den Plan rief. Dadurch wurde er be- rühmt und populär; er wurde von der Anklage freigesprochen. Da er von der Schriftstellerei nicht leben konnte (was ihm erst später glückte), arbei- tete er in einem Flußtransportunternehmen in Lyon, wo er den Güteraus- tausch in praxi studierte und Kontakt mit militanten Arbeitern aufnahm. 1847 ließ er sich endgültig in Paris nieder, hatte Kontakt mit Marx (seiner- zeit noch relativ unbekannt) und Bakunin. Mit Marx gerät er aneinander, Proudhon lehnt revolutionäre Gewalt ab, er versteht sich selber als einen 'evolutionären Revolutionär'. Er fordert die Entthronung Louis-Philippes und 1849 attackiert er Napoleon, wurde wegen Aufruhrs angeklagt und mußte sich verstecken. Später steckte man ihn noch 3 Jahre ins Gefängnis. Proudhon war jedoch weder im Gefängnis noch im Exil zum Schweigen zu bringen. |
Nach der Machtergreifung der Nazis ging Rocker in die USA, wo er bis 1958 lebte. Lit.: Rocker, Rudolf. Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten. Frankfurt 1974. [DadA, W] |
ROCKER, Rudolf
1873-1958 [Nr.]
Deutscher Anarchist. Geboren in Mainz und nach dem frühen Tod seiner Eltern im Waisenhaus aufgewachsen. Buchbinderlehre und frühzeitiges Interesse für die sozialisti- sche Bewegung. Die dogmatische Engstirnigkeit der deutschen Sozialdemokratie, das 'vollständige Fehlen irgendeines libertären Konzepts' und insbesondere 'ihre ausgesprochene Intoleranz gegenüber jeder Meinung, die nicht in voller Übereinstimmung mit den Buchstaben des Programmes war', stieß ihn ab. 1891 kam er mit anarchistischen Anschauungen in Berührung, die ihn fes- selten. Als Handwerksbursche durchwanderte er Europa und nahm überall mit anarchistischen Kreisen Kontakt auf. 1893 - 95 als politischer Flücht- ling in Paris, anschließend in London. Er lebte unter den armen Ostjuden, lernte jiddisch und gab in dieser Sprache den 'Arbeiterfreund' und das Monatsheft 'Germinal' heraus und gewann damit starken Einfluß auf die jüdischen Gewerkschaften in England. Internation nach Ausbruch des Weltkrieges. 1919 Rückkehr nach Deutschland. 1922 Gründung der Syn- dikalistischen Internationale in Berlin, deren Sekretär er zusammen mit Schapiro und Souchy wurde. Bis 1932 war Berlin der Sitz, danach Am- sterdam, seit 1939 Stockholm. Rocker war, wie alle Anarchisten, ein scharfer Kritiker des autoritären Sozialismus. Seine Auffassungen legte er in der Schrift 'Der Bankerott des russischen Staatskommunismus' nieder ('dort kann man schon nicht mehr von der Diktatur einer Partei, sondern höchstens von der Diktatur einer Handvoll Männer sprechen, auf die die Partei keinerlei Einfluß mehr hat .... Eine wahre Befreiung ist nur möglich, wenn der Machtapparat verschwindet, denn das Monopol der Macht ist nicht minder gefährlich wie das Monopol des Besitzes'). |
Matthäus von Paris |
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Kropotkin: DIE NOTWENDIGKEIT
DER REVOLUTION
"Es gibt Abschnitte im Leben der Menschheit, wo die Notwendigkeit einer
heftigen Aufrüttelung, einer Umwälzung, welche die Gesellschaft
bis ins Innerste bewegt, sich unter allen Gesichtspunkten als notwendig
erweist. In diesen Zeitpunkten fängt jeder Mensch, der ein Herz hat,
an zu sagen, daß die Sachen nicht so weitergehen können; daß
es großer Ereignisse bedarf, die gewaltsam den Faden der Geschichte
abbrechen, die Menschheit aus dem alten Geleise, in das sie hineingeraten
ist, hinausschleudern und sie in neue Bahnen werfen, einem Unbekannten,
der Suche nach dem Ideal entgegen. Man fühlt die Notwendigkeit einer
riesigen, unerbittlichen Revolution, die kommen muß: nicht nur um
die wirtschaftliche Herrschaftsordnung - die auf kaltblütiger Ausbeutung,
Spekulation und Betrug gegründet ist - umzuwälzen; nicht nur
um das Gerüst der politischen Macht - das auf der durch List, Ränke
und Lügen ausgeübten Herrschaft Einiger aufgebaut ist -, zu stürzen;
sondern auch um die Gesellschaft in ihrem Gedanken- und Gefühlsleben
zu bewegen, die Erstarrung wachzurütteln, die Sitten umzugestalten,
inmitten der niederen und kleinlichen Gefühle des Augenblicks den
belebenden Hauch der edlen Leidenschaften, der großherzigen Begeisterung,
der opferfreudigen Hingabe zu entfachen.
In solchen Zeiten, wo die aufgeblasene Mittelmäßigkeit
jeden Verstand erstickt, der sich nicht vor den Hohepriestern auf die Knie
wirft, wo die Moral der goldenen Mittelstraße das allgemeine Gesetz
ist und die Gemeinheit siegreich herrscht - in diesen Zeiten wird die Revolution
zur Notwendigkeit, die ehrlichen Menschen aller Gesellschaftsklassen rufen
den Sturm herbei, damit dieser mit seinem Feueratem die Pest, die uns erstickt,
verbrenne, den Moder, der uns verzehrt, wegfege, in seinem Rasen alle Trümmer
der Vergangenheit, die auf uns lasten, uns ersticken, uns Licht und Luft
nehmen, zerstreue; damit er endlich der ganzen Welt einen neuen Hauch von
Leben, von Jugend, von Ehrlichkeit bringe.
Es ist nicht die Brotfrage allein, die sich in solchen
Zeitläufen aufdrängt; es ist die Frage des Fortschrittes gegen
die Unbeweglichkeit, der menschlichen Entwicklung gegen die Verrohung,
des Lebens gegen die stinkende Verrottung des Sumpfes.
Die Geschichte hat uns die Erinnerung an solch ein
Zeitalter bewahrt: es ist jenes des Niederganges des römischen Weltreiches;
heute erlebt die Menschheit eine zweite solche Epoche.
Wie die Römer der Verfallszeit, so stehen wir
einer tiefen Umwandlung gegenüber, die in den Geistern vor sich geht
und nichts weiter verlangt als die günstigen Umstände, um sich
in Tatsachen umzusetzen. Wenn die Revolution sich uns auf wirtschaftlichem
Gebiet aufdrängt, wenn sie auf politischem Gebiet zur gebieterischen
Notwendigkeit wird, so ist sie noch viel unvermeidlicher auf moralischem
Gebiet. [> 21]
Ohne moralische Bande, ohne gewisse Verpflichtungen,
die sich jedes Mitglied der Gesellschaft gegenüber den anderen schafft
und die bei ihm alsbald zu Gewohnheiten werden, ist keine Gesellschaft
möglich. Wir finden diese moralischen Bande, diese geselligen Gewohnheiten
auch tatsächlich bei allen menschlichen Gruppen; wir sehen sie sehr
entwickelt und streng befolgt bei den primitiven Völkerschaften, den
überlebenden Bruchstücken von dem, was ihrem Anfang die ganze
Menschheit war.
Aber die Ungleichheit der Besitztümer und der Verhältnisse,
die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Beherrschung der Massen
durch einige Menschen, haben im Laufe der Zeitalter diese kostbaren Ergebnisse
des ursprünglichen Lebens der Gesellschaft untergraben und zerstört.
Die auf der Ausbeutung aufgebaute Großindustrie, der Handel, der
auf dem Betrug gegründet ist, die Herrschaft derjenigen, die sich
Regierung nennen, können nicht mehr mit diesen Prinzipien einer Moral,
deren Grundlage die Solidarität aller Menschen ist, zusammenbestehen,
welche wir noch bei den primitiven Volksstämmen, die an die Grenzen
der polizeilich reglementierten Welt zurückgedrängt sind, vorfinden.
Denn wie kann irgendeine Solidarität zwischen dem Kapitalisten und
dem Arbeiter, den jener ausbeutet, zwischen dem Armee-Befehlshaber und
dem Soldaten, zwischen dem Regierenden und dem Beherrschten bestehen?
So sehen wir auch, wie an Stelle der primitiven
Moral, die sich darauf gründet, daß der Einzelne sich mit
allen Seinesgleichen eins fühlt, die scheinheilige Moral der Religionen
tritt; diese sind bestrebt, mit ihren Trugschlüssen die Ausbeutung
und die Herrschaft zu rechtfertigen und beschränken sich nur darauf,
die rohesten Betätigungsformen der einen sowie der anderen zu rügen.
Sie befreien den Einzelnen von seinen moralischen Verpflichtungen gegen
Seinesgleichen und legen ihm bloß Verpflichtungen gegen ein höchstes
Wesen auf - gegen eine unsichtbare Abstraktion, deren Zorn man beschwören
und deren Wohlwollen man erkaufen kann, wenn man nur seine angeblichen
Diener gut bezahlt.
Aber die immerfort häufiger werdenden Beziehungen,
die sich heute zwischen den einzelnen Menschen, den Gruppen, den Nationen,
den Kontinenten anknüpfen, legen der Menschheit neue moralische Verpflichtungen
auf. Und in dem Maße, als der religiöse Glaube verschwindet,
erkennt der Mensch, daß er, um glücklich zu sein, sich neue
Pflichten auferlegen muß - nicht mehr gegen ein unbekanntes Wesen,
sondern all jenen gegenüber, mit denen er in Beziehungen tritt. Der
Mensch begreift mehr und mehr, daß das Glück des vereinzelten
Menschen nicht möglich ist; daß dasselbe nur im Glück aller
- im Glück der ganzen Menschheit - gesucht werden kann. An Stelle
der negativen Prinzipien der religiösen Moral: «Du sollst nicht
stehlen, du sollst nicht töten», usw. treten die unendlich weiteren
und sich immerfort erweiternden positiven Prinzipien der menschlichen Moral.
Die Verbote eines Gottes - welche man immer verletzen konnte, um ihn später
durch [> 22] Opfergaben zu besänftigen - werden ersetzt durch das
Gefühl der Solidarität mit jedem und mit allen, das dem Menschen
sagt: «Wenn du glücklich sein willst, so tue jedem und allen
das Gleiche, was du willst, das andere dir tun sollen!» Und dieser
einfache Ausspruch, diese wissenschaftliche Schlußfolgerung, die
nichts mehr mit den religiösen Vorschriften zu tun hat, öffnet
mit einem Schlag einen ganzen weiten Horizont der Vervollkommnung, der
Verbesserung des Menschengeschlechtes. ..."
Quelle: Worte eines Rebellen, S 20ff
(1885 orig.; dt. 1922).
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