Der Verdacht: Psychoanalytische Aufarbeitung der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie im Nationalsozialismus:
Entwertende Verdächtigung statt Wissenschaft?
Kritik der Methoden der Professores Ulrich Schultz-Venrath
und Ludger M. Hermanns (1991).
von Rudolf Sponsel, Erlangen, zu:
Schultz-Venrath, Ulrich & Hermanns, Ludger M. (1991). Gleichschaltung
zur Ganzheit. Gab es eine Psychosomatik im Nationalsozialismus? In: Richter,
H. E. & Wirsching, M. (1991, Hg.). Neues Denken in der Psychosomatik.
Frankfurt: Fischer, 83-103.
Zur Aufarbeitung
des Nationalsozialismus - die "Helden" von heute:
Ein kritischer psychopolitischer Kommentar zur Bewältigungsarbeit
Die Auseinandersetzung wird zunächst darstellen, was die Autoren herausgefunden haben (wollen) und wie ihre wissenschaftliche Methodik einzuschätzen ist. Zunächst eine
Der Titel der Arbeit enthält einige Thesen,
die die Autoren beweisen wollen: (1) im Nationalsozialismus habe es entgegen
vieler anderslautender Meinungen - wie etwa Mitscherlich oder selbst noch
der im selben Buch das Vorwort schreibende H. E. Richter - sehr wohl eine
psychosomatische Medizin gegeben; (2) es habe eine Gleichschaltung zur
Ganzheitsmedizin gegeben. Zudem sind in der Arbeit weitere starke Thesen
aufgestellt: (3) "Obwohl die Heilkunde populistisch psychosomatisiert wird,
wird deren Wurzel, die Psychoanalyse, wegen ihrer »maßlose(n)
Übertreibung«, »verstiegene(n) Deutekunst« und ihres
»Wühlen(s) im Sexuellen ... verworfen« (Liek
1940)" [S. 85-87]. Hier wird behauptet, daß die Wurzel der Psychosomatik
in der Psychoanalyse liege. Ein bekannter und häufig von PsychoanalytikerInnen
vertretener Irrtum, in verallgemeinerter Form: die Psychotherapie beginne
mit Freud. Im letzten Satz ihrer Zusammenfassung versteigen sich die Autoren
zu der These:
(4) "Inwieweit eine von der Psychoanalyse entkernte Psychosomatik, die während des Dritten Reichs in Uniform auftrat, personell und wissenschaftstheoretisch noch heute etwa in so unvereinbaren Fraktionen wie der ganzheitsmedizinischen Bewegung, der Neo-Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie oder der anthroposophischen Medizin weiterlebt, bedarf der weiteren Klärung." [S.99] |
Der Schlußsatz enthüllt die tatsächlichen Motive der Autoren unverblümt: Eine "von der Psychoanalyse entkernte Psychosomatik", die ganzheitsmedizinische Bewegung, die Neo-Psychoanalyse (Kardiner, Sullivan, Fromm, Horney, Schultz-Hencke), die Verhaltenstherapie und die anthroposophische Medizin seien dergestalt klärungsbedürftig, ob sie nicht ihre geistigen Ziehväter im Dritten Reich haben. Das ist eine wirklich relativ einmalige und gelungene Zusammenstellung, wobei weder die Grundlagen bibliographisch dokumentiert noch die ungeheuerlichen Verdächtigungen belegt werden. Ich denke, es kann keinen Zweifel darüber geben, daß der in der Beweispflicht ist, der starke Behauptungen und Entwertungen aufstellt. Wenigstens aber wären eine ordentliche bibliographische Dokumentation, Beleg- und Quellenangaben zu erwarten.
Im einzelnen:
(1)
Gab es im Dritten Reich eine Psychosomatik?
Die Antwort lautet ganz klar: Ja - falls ihr Kriterium
mindestens
zwei publizierte psychosomatische Arbeiten (S. 85) richtig
ist. Angesichts der Schwere ihrer Vorhalte, wäre es das mindeste an
wissenschaftlicher Pflicht und Redlichkeit gewesen, alle diese Arbeiten
bibliographisch zu dokumentieren, damit die Zuordnungen auf ihre Korrektheit
überprüft werden könnten. Die Autoren gehen somit zwar einen
klaren operationalen und empirischen Weg, ihre These überzeugend zu
untermauern, aber nur unter der Voraussetzung, daß ihre Zuordnungen
richtig sind:
"Von der Überlegung ausgehend, daß sich Mitscherlichs Behauptung
an einem Absinken psychosomatischer Original- und Übersichtsarbeiten
in den für die Psychosomatik damals wichtigsten Zeitschriften nachweisen
lassen müßte, werteten wir den »Nervenarzt«, das
»Zentralblatt für Psychotherapie« und die »Internationale
Zeitschrift für Psychoanalyse« aus (Tab. 1). Trotz der Einschränkung,
daß das »Zentralblatt« und der »Nervenarzt«
erst 1928 begründet wurden, läßt sich unschwer erkennen,
daß Mitscherlichs Behauptung nicht gestützt werden kann. Aus
einer Gegenüberstellung vertriebener und nicht-emigierter Psychosomatiker
(Kriterium: mindestens zwei psychosomatische Publikationen) geht hervor,
daß wesentlich mehr Psychosomatiker hiergeblieben sind (Tab. 2 und
3)." [S. 84-85].
"Hiergebliebene" deutschsprachige Psychosomatiker (S. 86) | Emigrierte deutschsprachige Psychosomatiker (S. 87) |
Leopold Alkan
Gustav Bally Gustav von Bergmann Fritz Besold Rudolf Bilz Otto Binswanger [?] P. Büchler Otto Bunnemann Felix Buttersack Theodor Brugsch Paul Christian Hans Christoffel Walter Cimbal N. Costa Hans Curschmann H. Cramer Günter Elsässer P. Engelen Karl Fahrenkamp Hans Fendel Kurt Gauger Mathias H. Goering Gustav H. Graber Georg Groddeck [?] Carl Haeberlin [?] Benno Hahn A. Hanse Karl Hansen Hans von Hattingberg E. Heinrich W. R. Hess Eugen Heun Gustav R. Heyer Werner Hollmann Walter Jaensch Carl Gustav Jung [?] |
Imre Hermann [?]
Gerhard Katsch Werner Kemper Arthur Kielholz Ludolf von Krehl Friedrich Kraus Paul Krauß H. Krisch Arthur Jores B. Liegner Joh. J. Marcinowski [?] Hellmut Marx August Mayer Fritz Mohr Const. v. Monakow [?] Erwin Moos L. von Muralt L. R. Müller J. Novak A. Oswald G. A. Roemer Carl Römer [?] W. Th. Sack [?] Rudolf Schindler Johannes H. Schultz Harald Schultz-Hencke Oswald Schwarz. Richard Siebeck Ernst Speer Thure von Uexküll Max Walthard [?] Viktor von Weizsäcker Karl Westphal [?] Otto Wuth Walter von Wyss [?] Theodor Ziehen [?] |
Alfred Adler
Franz Alexander Rudolf Allers Michael Balint Julius Bauer Moses Barinbaum Clemens Ernst Benda Therese Benedek Edmund Bergler Ludwig Braun Gustav Bychowski Bernhard Dattner Felix Deutsch Helene Deutsch Karl Dreyfuss Ludwig Eidelberg Dorian Feigenbaum Otto Fenichel Sandor Ferenczi Sigmund Freud Josef K. Friedjung F. Fromm-Reichmann Felix Georgi Kurt Goldstein Emil Gutheil Erich Guttmann Carl M. Herold Hans Hoff Karen Horney Ludwig Jaffé Georg Klemperer Walter Kluge Arthur Kronfeld Karl Landauer Erich Lindemann O. Mauthner |
Käthe Misch
Emil Oberholzer Martin Pappenheim Fritz Perls Sandor Rado Wilhelm Reich Walter Riese Friedrich S. Rothschild Paul Schilder Melitta Schmiedeberg Ernst Simmel Wilhelm Stekel Maxim Steiner Erwin Stengel Erich Stern Leopold Szondi A. A. Weinfeld Edoardo Weiss Fritz Wengraf Erwin Wexberg Erich Wittkower Henry von Witzleben Moshe Wulff
|
Die Autoren zeigen [S. 86-87] falls ihre - in ihrer Arbeit - nicht überprüfbaren Voraussetzungen richtig sein sollten, daß 72 "Psychosomatiker" hier blieben, während 59 emigrierten. Bei den 72 "hiergebliebenen" sind allerdings einige abzuziehen, weil sie entweder Ausländer waren oder frühzeitig verstarben, so Otto Binswanger, der 1929 in Kreuzlingen, und Constantin v. Monakow, der 1930 in Zürich, verstarb. "Carl Römer" fand ich nicht, dafür einen Carl Roemer mit entsprechenden Veröffentlichungen im Kriterienzeitraum, der aber bereits 1934 in Hirsau verstarb. Hätten er und die anderen Toten etwa vom Friedhof emigrieren sollen? Wie Max Walthard, der nicht nur 1933 und außerdem in Zürich als Gynäkologe starb. Ja welchen Grund hätte er gehabt, aus der Schweiz zu emigrieren? Wohin denn? Auch der Baden-Badener Arzt und Psychosomatiker Geogr Groddeck starb 1934 in Zürich. Einen "Oswald" Schwarz konnte ich bei meiner Recherche ebenso wenig finden wie W. Th. Sack. Auch C. G. Jung kann - trotz seiner unheilvollen pro-nationalsozialistischen Rolle - als einer der hierblieb nicht gezählt werden, weil er ja Schweizer war und dort auch lebte. Wohin hätte er denn emigrieren sollen? Auch Marcinowski starb 1935. Theodor Ziehen wurde 1930 im Alter von 68 Jahren emeritiert. Imre Hermann war Ungar und lebte in Budapest. Einen "Karl Westphal" konnte ich nicht finden, wohl einen Alexander Westphal, der in die Zeit paßt - aber 1928 mit 65 emeritiert wurde - und einen Carl Friedrich Otto, der bereits 1890 starb. Einen "Walter von Wyss" konnte ich nicht recherchieren, mir ist nur ein Dieter Wyss bekannt. Einen "Carl Haeberlin" habe ich nicht gefunden, aber einen Victor Haeberlin, der die zeitlichen Veröffentlichungs-Kriterien erfüllen könnte, allerdings Schweizer war, ehemaliger Direktor von Pirminsberg (St. Gallen). Ich will es bei diesen ernüchternden Stichproben belassen und bezweifle aufgrund dieser Daten, der mangelnden Dokumentation und Belege die Seriösität dieser Arbeit. Das hat, noch dazu angesichts der Schwere der Verdächtigungen, mit Wissenschaft nichts mehr zu tun. Im übrigen werden hier zudem Birnen mit Kartoffeln und Tomaten verglichen, nämlich AllgemeinmedizinerInnen, InternistInnen, PsychoanalytikerInnen, GynäkologInnen, NeurologInnen, PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen. Nur wenn man über diese Schwäche des Vergleichens hinweg sieht, kann man die erste These als empirisch begründet ansehen, aber zusätzlich auch nur dann, wenn man den Autoren unterstellt, daß ihre Auswahlen, die nicht dokumentiert werden, richtig sind. Seltsam ist, weshalb der Mitherausgeber, H. E. Richter, die - nach den Autoren - alten Mythen im Vorwort wieder bemüht: Als sich in Deutschland nach 1945 einzelne Psychoanalytiker und psychosomatische Ärzte - die Mehrzahl war unter Hitler emigriert ...." [Vorwort S. 13]
(2)
Gab es eine Gleichschaltung zur Ganzheitsmedizin?
Hier bleiben die Autoren die Begründung schuldig. Zunächst
einmal unternehmen sie nicht einmal den Versuch, den Begriff der Ganzheitsmedizin
zu definieren und werfen so ungefähr alle Richtungen jener Zeit, die
nicht-psychoanalytisch waren, in diesen Topf.
Als Beleg dafür, was Heyer für ein Schlimmer gewesen sein
soll, zitieren die Autoren: "»Ein seelenkundiger Arzt wird man nicht
dadurch«, so Heyer (1935), »daß man - kühl bis ans
Herz hinan - Fakten und Daten memoriert; vielmehr ist - genau umgekehrt
- die erste Arbeit, die ein solcher zu leisten hat, nicht die am Objekt,
sondern Bildungsarbeit an sich selbst. Ehe Objekte erkannt und Methoden
benutzt werden können, muß der Therapeut sehen gelernt haben.«"
[S. 88 FN]. Was aus dieser Aussage anderes folgen soll, als was sie eben
aussagt, bleibt das Geheimnis der Ganzheitsmedizin-Detektive Schultz-Venrath
und Hermanns. Genauso verhält es sich mit mit folgendem Zitat /Fußnote
9, S. 88):
Auch hier bleibt völlig unklar, was an dieser Position nationalsozialistisch
sein soll. Ganzheits- und ganzheitsmedizinisches Denken durchzieht die
gesamte Geschichte der Heilkunde und ist eine weit verbreitete Auffassung
vor allem auch von PraktikerInnen.
Die Autoren versteigen sich gar zu folgendem (S. 89): "Trotz ihrer Verschiedenheit sind sich »Ganzheits«-Vertreter der Naturheilkunde (FN 11: Kötschau), des (Neo)-Vitalismus (FN 12: Ehrenfels, Driesch, J. von Uexküll, Wulff), der anthropologischen Medizin (FN 13: Christian, Goldstein, His, Hollmann, Jores, Leibbrand, V. von Weizsäcker und von Wyss) oder der Medizin der Person (FN 14: Kraus, von Krehl, von Bergmann) und der Psychosomatik (FN 15: Alexander, Bilz, Curtius, Deutsch, Goering, Hattingberg, Heyer, Kemper, Kronfeld, Mohr, J. H. Schultz, Schultz-Hencke und Wittkower) gleichermassen einig gegen das
»zersetzende Gift der Psychoanalyse«, (FN2)
wobei diese Metapher für die Psychoanalyse mit antisemitischen
Konnotationen aufgeladen ist." [S. 89] Es ist unzweifelhaft richtig, daß
die Formulierung das »zersetzende Gift der Psychoanalyse« ein
typisch nationalsozialistisches Vokabular repräsentiert. Der generelle
Vorwurf an alle die oben genannten Autoren ist jedoch eine solch starke
Behauptung und im Grunde fürchterlicher Vorwurf, daß dieser
an jedem einzelnen Autor textkritisch eindeutig belegt gehörte. Das
tun die Autoren gegen alle Gebote elementarer Wissenschaftsethik nicht.
Es kommt darüber hinaus auch noch zu mehrfachen Widersprüchen.
Während Gustav von Bergmann - der tatsächlich sowohl einen Ganzheitsstandpunkt
und einen Funktionalismus in der Krankheitslehre vertrat - oben noch als
einer gebrandtmarkt wird, der sich mit allen anderen einig gegen das »zersetzende
Gift der Psychoanalyse« sei, heißt es eine Seite weiter plötzlich:
Ich kann hier keine Ambivalenz erkennen. Einerseits wird die Einheit
betont, andererseits wird klar gemacht, es gibt noch eine Organ-Medizin
und nicht alles ist PSYCHO-somatisch, es gibt auch den ganz normalen Schnupfen
oder Blinddarm. Im übrigen stört mich sehr, daß Gustav
von Bergmanns Hauptwerk (Funktionelle Pathologie, 1932) nicht zitiert und
bemüht wird, sondern nur eine Rede und seine Biographie.
Während Victor von Weizsäcker auf S. 88 noch zu vereinzelten Kritikern der Ganzheitsmedizin gezählt wird, wandelt er sich eine Seite weiter zu einem, der sich mit den anderen über das »zersetzende Gift der Psychoanalyse« einig sei. Das hat doch nichts mehr mit Wissenschaft zu tun, sondern ist im Grunde - weil nicht belegte - entwertende Verdächtigung, wenn nicht gar üble Denunziation. Die Idee der Ganzheit, die Überwindung einer nur rationalen Betrachtung findet sich in der gesamten Geistesgeschichte (Nikolaus von Kues, Schelling z. B.; wird von Gustav von Bergmann aber auch schon Hippokrates zugeschrieben [Autobiographie S. 231]; Bräutigam et al. 1973, S. 5; Wirsching 1996, S. 9f), woran der Nationalsozialismus sicher keinen nennenswerten Anteil hat.
(3) Ist die Psychoanalyse die Grundlage der Psychosomatik?
und ist es richtig, daß der Psychoanalytiker und Facharzt für
Innere Medizin Peter Hahn in der Reihe "Die Psychologie des 20. Jahrhunderts"
in dem von ihm herausgegebenen Band IX (Psychosomatik) Ausführungen
zur Geschichte der Psychosomatik auch im Nationalsozialismus wegläßt,
wie die Autoren gleich zu Anfang ihrer Arbeit beklagen? Ich verfüge
über diese Enzyklopädie und habe nachgesehen. Tatsächlich
gibt es zur Geschichte allein zwei Einzelbände. Und im Band 2, hrsg.
von Heinrich Bahmer (Weinheim 1982), findet sich folgendes Kapitel:
Zur Geschichte der Psychosomatik. Die Entwicklung der Psychosomatischen Medizin von Peter Hahn (!), S. 248-268. |
Im Gegensatz zu den Autoren kann der Psychoanalytiker und Facharzt für Innere Medizin Peter Hahn mit außerordentlich fundierten historischen Kenntnissen zur Geschichte der Psychosomatischen Medizin aufwarten. Er beginnt mit Paracelsus, Descartes, Leibniz, Plattner, dann Nasse, Jacobi, Friedreich, Fleming, Griesinger, Heinroth - der Erfinder des Wortes psychosomatisch (1818) -, Feuchtersleben, Ideler, erörtert dann die romantische Medizin (Novalis, C. G. Carus mit einer glänzenden Theorie des Unbewußten weit vor Freud, die christlich-germanische süddeutsche Richtung um Ringeis,) und die Entwicklungslinien seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit der überragenden Bedeutung Victor von Weizsäckers in der Wertung Peter Hahns. Richtig ist nur, daß in dem 20-Seiten-Kapitel keine explizit kritische Abhandlung der Psychosomatik im Nationalsozialismus enthalten ist, wobei die natürlichste Erklärung die ist, daß es eine nationalsozialistische Psychosomatik nie gegeben hat. Falls es sie gegeben haben sollte, wäre es an den Autoren, dies zu beweisen.
(4) Nachkommen der nationalsozialistischen Ziehväter
Da die Anspielungen im Schluß so ungeheuerlich sind, sollen sie
noch einmal hervorgehoben werden:
Der Schlußsatz enthüllt die tatsächlichen Motive
der Autoren unverblümt: ob die "von der Psychoanalyse entkernte Psychosomatik",
die ganzheitsmedizinische Bewegung, die Neo-Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie
und die anthroposophische Medizin ihre geistigen Ziehväter im Dritten
Reich hätten, das sei klärungsbedürftig. Das ist eine wirklich
relativ einmalige und gelungene Zusammenstellung. Hieraus spricht eine
blinde Ablehnung gegen alles, was die klassische Psychoanalyse kritisiert
oder auch nur andere Wege geht als ob es eine ausgemachte Seite sei, wer
die Psychoanalyse kritisiert, der wird von nationalsozialistischem Gedankengut
und nationalsozialistischen Motiven gespeist.
Nachbemerkung:
Prof. Dr. U. Schultz-Venrath
hat - an anderer Stelle - mehrfach behauptet und angespielt, er hätte
mit der seiner Arbeit - während derer er sich in psychoanalytischer
Ausbildung (DPV) befand [S. 186]- die wissenschaftliche Qualifikation erworben,
sich ein Urteil über die integrative Psychotherapie zu bilden. Das
Gegenteil ist wahr. Mit dieser Arbeit spricht er sich diese Qualifikation
ab. Fragt man zudem weiter, was wissen die Autoren in dieser Arbeit vom
Begriff und der Weltbewegung der integrativen Therapie und ihrer Geschichte,
dann lautet die Antwort klar: gar nichts. Ich habe selbst 1995
ungefähr 800 Arbeiten ausgewertet und seither sind noch einige
dazugekommen. Im Literaturverzeichnis der Autoren finden sich so gut wie
keine integrativen Arbeiten. Die Gleichsetzung von nationalsozialistischer
Ganzheitsmedizin - die es so nie gegeben hat - und allgemeiner und integrativer
Psychotherapie ist in keiner Weise belegt und begründet. Sie beruht
auf dem Grundaffekt, sich gegen alles zu wenden, was die konservative Psychoanalyse
kritisiert.
Zur
Aufarbeitung des Nationalsozialismus - die "Helden" von heute
Ein kritischer psychopolitischer Kommentar zur Bewältigungsarbeit Angesichts der erschreckenden Entwicklung rechtsradikaler Auswüchse in unserer Gesellschaft (siehe unser Engagement) mit nie für möglich gehaltener offener Brutalität bis jetzt schon mit über 100 Morden - mit statistischen Tricks von den Regierungen Kohl, aber auch Schröder und Fischer verschleiert und vertuscht - und der rechtsradikalen Beherrschung ganzer Regionen und Gemeinden, vor allem in den neuen Ländern, die im Grunde zu innerstaatlichen Notstandsgebieten erklärt werden müßten, ist es sicher nicht nur richtig und wichtig, sondern dringendst geboten, unsere Vergangenheit im 3. Reich aufzuarbeiten. Hierbei sollten aber auch Augenmaß und Fairneß neben wissenschaftlicher Kompetenz und Korrektheit gewahrt und den soziologischen und sozialpsychologischen Gegebenheiten Rechnung getragen werden. Das Schwingen der Nazikeule gegen alles, was die konservative Psychoanalyse kritisiert, erfüllt keines dieser Kriterien. Ab 1933, spätestens ab 1938 war es lebensgefährlich, sich offen gegen das Regime zu wenden. Es ist nun sehr leicht aus heutiger Sicht, mit einem sicheren Plätzchen hinter dem Ofen, von den Menschen damals zu verlangen, ihr Leben zu riskieren. Ohne Zweifel und zu Recht gelten diejenigen heute als wahre und wirkliche Helden, die es getan haben. Das aber ist eine verschwindende, kleine Minderheit. Der Mensch im allgemeinen verliert spätestens dann seine Zivilcourage und folgt nicht mehr dem Ruf seiner Ethik und seines Gewissens, wenn er massive Nachteile fürchten muß oder wenn gar seine Unversehrheit und sein Leben bedroht ist. Das gilt besonders auch für eine deutsche ProfessorIn, die bekanntlich immer schon viel zu verlieren hat. Speziell zur Rolle der Medizin im 3. Reich muß man auch sehen, daß Hitler von der Mehrheit der Ärzteschaft, der es damals sehr schlecht ging, aus wirtschaftlichen Gründen begrüßt wurde (Schott 1997, S. 437), doch schon 1936 wurden die Organisationen der deutschen Ärzteschaft aufgelöst. Aber selbst die Psychoanalytischen Vereinigungen unter Freud kooperierten mit den Nazis, wie Nitzschke am Fall Wilhelm Reich ausführt. Nun: heute ist es leicht, rückblickend und rückwirkend ein "Held" zu sein, doch was qualifiziert diese heutigen "Helden" nun wirklich? Augenmaß? Fairneß? Wissenschaftliche Kompetenz und Korrektheit? Berücksichtigung soziologischer und sozialpsychologischer Faktoren? |