Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    Abteilung Politische Psychologie - Bereich Politische Geschichte -  Präambel
    IP-GIPT DAS=09.06.2005 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TT.MM.JJ
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail:_sekretariat@sgipt.org_

    Anfang_Leben & Treiben in Rußland _Service_ Überblick_ Relativ Aktuelles_Rel. Beständiges Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region__ __Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen

    Willkommen in der Abteilung Allgemeine und Integrative Politische Psychologie, Abteilung Politische Geschichte, Rußland (einschließlich UdSSR), hier zum Thema:

    Leben und Treiben in Russland zur Zeit Katharainas II.

    nach und aus Soloveytchik, George (dt. 1953). Potemkin.
    Soldat, Staatsmann, Liebhaber und Gemahl der Kaiserin Katharina der Großen. Stuttgarter Hausbücherei.
    Einzig berechtige Lizenzausgabe für Deutschland der bei der Fretz & Wasmuth AG in Zürich erschienen Originalausgabe.

    aufbereitet  mit  Zwischen- Überschriften versehen
    von Rudolf Sponsel, Erlangen

    "Erstes Kapitel

    LEBEN UND TREIBEN IN RUSSLAND

        Im europäischen Geschehen des 18. Jahrhunderts, in dessen Verlauf sich einige der wichtigsten Ereignisse moderner Geschichte abgespielt haben, kommt Rußland eine ganz besondere Stellung zu. Der beispiellose Aufstieg und die Konsolidierung des russischen Reichs, die von einer ungeheuren gebietsmäßigen Expansion begleitet waren; die Bedeutung, die sich die neu erbaute und rasch anwachsende, im wahren Sinn des Wortes kosmopolitische Hauptstadt Petersburg erworben hatte; Prunk und Aufwand des Zarenhofes, der an Glanz sogar den Hof von Versailles, seinem Vorbild, übertraf all das ist etwas Einzigartiges selbst für eine so bewegte und vielgestaltige Epoche, in der praktisch jede Szene, die sich auf der europäischen Bühne abspielte, einem größeren Drama glich und in der die meisten handelnden Personen Darsteller von ungewöhnlicher Begabung waren.
        Europa bot im 18. Jahrhundert ein seltenes Schauspiel von Fortschritt und rückläufiger Entwicklung, von übertriebenem Glanz, Schmutz und Elend, die durchaus nebeneinander bestehen konnten. Nirgends aber war dieser Gegensatz auffallender und tiefer verwurzelt als in Rußland."
     

    Verselbständigung des Adels und unglaubliche Versklavung der Bauern. Kultur-Mix.

        "Zwei parallele Entwicklungen zeichneten sich ab: einerseits die Verselbständigung des Adels, andererseits die fortschreitende Versklavung des Bauernstandes, die ganz beispiellose und unglaubliche Formen annahm. Das Zarenreich hatte seit dem Tag, als Peter der Große die alten moskowitischen Adligen nicht ohne Gewaltanwendung zwang, ihre Bärte abzuschneiden und den [<11] europäischen Lebensstil zu übernehmen, in bemerkenswert kurzer Zeit einen weiten Weg zurückgelegt. Während des halben Jahrhunderts, das zwischen Peters Reformen und der Thronbesteigung Katharinas II. verstrich, war die Umformung der herrschenden Schicht beinahe zum Abschluß gelangt. Der Boden, auf den Anschauungen und Sitten des westlichen Europa ursprünglich mit Gewalt verpflanzt worden waren, erwies sich in Wahrheit als so fruchtbar, daß die Ergebnisse bald beunruhigende Ausmaße annahmen. Das Gemisch von europäischer Bildung und asiatischem Gepräge wurde ein ungesundes Gewächs am russischen Volkskörper."
     

    Europäische Gesandte geblendet durch den Prunk bei Hofe und den Adeligen 

        "Auf den Glanz und Prunk dieses Hofes war ich zwar vorbereitet", schreibt der Botschafter Großbritanniens, der spätere Lord Malmesbury - damals noch der einfache Mister James Harris - in seinem ersten Bericht aus Petersburg vom s. Januar 1778, "doch meine Vorstellungen werden in jeder Beziehung übertroffen, da mit allem eine vollendete Gesellschaftsordnung und Etiquette verbunden ist". Die überwiegende Mehrheit der ausländischen Besucher Rußlands zu jener Zeit vermerkt ebenfalls ihr höchstes Erstaunen angesichts des Bildes, das sich ihnen bot. Sie waren durch den Prunk bei Hofe und bei den Adligen, mit denen sie in Kontakt kamen, geblendet, und sie hatten sicherlich allen Grund, derart beeindruckt zu sein. Eine überspanntere, ausschweifendere und verkommenere Gesellschaft hätte man schwerlich finden können."
     

    Gigantischer Luxus, gigantische Verschwendung, gigantische Ausbeutung und Versklavung

        "Kaiserin Katharina, die es als "unwürdig" ansah, "mit dem Pfennig zu rechnen", war selbst tonangebend, und alle aus ihrer Umgebung wetteiferten miteinander, um mit dem allgemeinen Standard Schritt zu halten oder ihn womöglich noch zu übertreffen. Die Mittel für ihren ausschweifenden Luxus, der sich nur mit der Lebensweise orientalischer Machthaber vergleichen läßt, mußten aus Sklavenarbeit bestritten werden. Katharina war - nach ihren eigenen Worten - "als arme, umherziehende Prinzessin" im Alter von fünfzehn Jahren von einem deutschen Fürstenhof nach Rußland gekommen und entwickelte jetzt eine Fähigkeit im Geldausgeben, wie sie in ihrem neuen Land bisher unbekannt gewesen war; dabei ist Verschwendungssucht stets [<12] eine russische Nationaleigenschaft gewesen, und sie ist es noch immer. Der Wert des Rubels entsprach damals ungefähr 1 1/4 Dollar. Katharina gab nicht nur für den Bau ihrer eigenen Paläste und Landhäuser, für die Sammlung wertvollster Kunstgegenstände, für Kleider, Juwelen und andere Luxusartikel Millionen aus, sondern sie verteilte auch mit der gleichen verschwenderischen Freigebigkeit Reichtümer unter ihre Günstlinge und andere bevorrechtete Personen. So schenkte sie beispielsweise dem Grigory Orlow einen goldbestickten Rock, der eine Million Rubel kostete. Der Wert der Paläste, die sie für ihn und später für Potemkin erstellen ließ, oder der Ländereien, die sie samt Hunderten und Tausenden von "Seelen" oder leibeigenen Bauern zur "Unterhaltung" der glücklichen Empfänger verschenkte, stieg ins Märchenhafte. Der reiche Adel folgte dem Beispiel der Kaiserin und errichtete ebenfalls prunkvolle städtische Paläste und Landhäuser, Villen, Treibhäuser, Ställe und Reitschulen und private Theater; er ließ die prachtvollsten Parks und Gärten anlegen, die durch Springbrunnen und Seen verschönt wurden; er sammelte Juwelen und verschiedenartige Schätze und scheute keine Mühe, um sich mit der Atmosphäre eines beinahe unwirklichen Luxuslebens zu umgeben. Die meisten Gebäude wurden durch französische und italienische Baumeister erbaut, und in erstaunlich kurzer Zeit entstanden nicht nur in der Stadt Petersburg und ihren Vororten, sondern auch auf dem Lande und natürlich innerhalb der verschiedenen kaiserlichen Residenzen, wie in Zarskoje Selo, in Peterhof und Gatschina, die entzückendsten Paläste, von denen viele bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben sind."
     

    Sucht nach Vergnügen, Zerstreuung, Müßiggang - Reiche 300 bis 800 Bedienstete

        "Ein zeitgenössischer Schriftsteller verglich im Jahre 1788 Petersburg mit dem "ruhmreichen Versailles", und ein anderer bemerkte einige Jahre später, die Petersburger Gesellschaft sei das "genaue Spiegelbild des Hofes. Man kann sie mit der Eingangshalle eines ungeheuren Tempels vergleichen, wo alle Anvwesenden ihre Blicke nur auf die thronende Göttin richten, der sie ihre Opfergaben darbringen und für die sie Weihrauch verbrennen."
        Nicht nur die Höflinge und die reichen Adligen, die in der [<13] Hauptstadt lebten, sondern sogar der ärmere Landadel wurden bald von einer vollkommen verrückten Sucht nach Vergnügen und Zerstreuung befallen. Um mit der allgemeinen Mode Schritt halten zu können, mußten sie häufig ihre Besitzungen verkaufen öder verpfänden, und viele von ihnen, ursprünglich einfache und besonnene Leute, stürzten sich ins Verderben. Doch dem Vorbild des "ruhmreichen Versailles" mußte um jeden Preis nachgeeifert werden. Und genau wie die kaiserliche "Göttin" in Petersburg Vorbild für die reichen Adligen und Höflinge ihrer Umgebung war, die sie im Grunde verachtete, so waren diese ihrerseits wieder die lokalen, kleinen Götter ihrer ärmeren und anspruchsloseren Nachbarn, die sie natürlich ebenfalls verachteten und nicht selten demütigten.
        Es entsprach der Müde, einen so umfangreichen Haushalt wie nur möglich zu führen, und die gesellschaftliche Stellung wurde in hohem Maße darnach beurteilt. Konnte man eine Unmenge Dienstboten aufweisen, so erhöhte man dadurch sein eigenes Ansehen. Man hielt sich fünf  öder sechsmal soviel Bediente wie in den entsprechenden Kreisen in Europa. Die sehr Reichen verfügten häufig über einen Stab von 300 bis 800 Leuten, während 100 bis 150 Bediente für eine Einzelperson von Rang als bescheiden galten. Sogar die armen Edelleute leisteten sich ein Dutzend öder einige zwanzig Dienstboten und fuhren beständig in Vierspännern.
        Die meisten dieser Dienstboten wurden von den besitzenden Ständen aus den Reihen ihrer bäuerlichen Leibeigenen genommen, und nur gelegentlich wurde ein Koch oder ein Barbier oder anderes Hauspersonal - dann meist ein Franzose öder ein Italiener -  aus dem Ausland als freier Angestellter angeworben, doch selten auch als solcher behandelt. Es kam manchmal vor, daß bäuerliche Dienstboten zur Bestrafung öder aus häuslichen Sparsamkeitsgründen wieder aufs Land zurückversetzt und einen Teil des Jahres als Arbeiter und nur die übrige Zeit im Hausdienst verwendet wurden. Was ihre Tätigkeit betrifft, muß man sich daran erinnern, daß ein reicher russischer Adliger zu jener Zeit sich seine eigenen Schneider, Schuster, Sattler, Tischler, Pferde  und Stallknechte und  mägde, Apotheker, Musiker, [<14] Schauspieler und Schauspielerinnen, Dichter, Architekten und Maler hielt, und daß er eine ganze Armee von persönlichen Bedienten besaß, wie Köche, Bäcker, Konditoren, Tellerwäscher, Waschfrauen, Lakaien, Kellermeister, Trancheure, Diener, die den Kaffee servierten, Stubenmädchen, Kammerdiener, et hoc genus omne. Für jede einzelne Hantierung standen gewöhnlich mehrere Leute zur Verfügung, mit Gehilfen und Nebengehilfen zur Unterstützung. Da außerdem die meisten reicheren Leute nicht nur mehrere große Stadthäuser, sondern auch auf dem Lande unzählige Güter besaßen, war jeder Wohnsitz mit einem eigenen Stab an Dienstpersonal versehen. Manche hielten sich eine eigene Leibwache, die sie auf dem Land gegen Räuber schützen und auf Reisen begleiten mußte, und das war keineswegs überflüssig. Wieder andere benötigten für ihre speziellen Liebhabereien eine ganze Armee von Sklaven. So hielt sich Graf  Scheremetiew zwölf "Husaren" mit einem  "Kommandanten", die zu seinem und seiner Gäste Ergötzen jeweils zur Parade aufmarschieren mußten. Ein anderer berühmter Edelmann hatte mehrere hundert Jäger mit zweitausend Jagdhunden nur zum Vergnügen. Ein dritter wiederum pflegte reguläre Kavalleriegefechte mit Spezialtruppen bewaffneter Krieger zu inszenieren. Aber auch selche, die sich privat einen Theologen öder sogar einen Astronomen hielten, waren nicht selten. Diese Gewohnheit scheint eine besondere nationale Schrulle zu sein, denn es sind nach nicht so viele Jahre her, seit der Verfasser in einem französischen Badeort einem berühmten russischen Millionär begegnete, der von einem ungeheuren Gefolge begleitet war, unter dem sich auch ein privater Astronom befand. Auf die Frage, wozu die Dienste dieses Herrn benötigt würden, erfolgte die klassische Antwort: "Soll doch der Kerl in die Sterne gucken, ich kann es mir ja leisten." Und das war nicht im 18., sondern tief im 20. Jahrhundert."
     

    "Soll doch der Kerl in die Sterne gucken, ich kann es mir ja leisten."

        "Die Funktionen jedes einzelnen Untergebenen waren genau festgelegt, und in jedem größeren Gebäude gab der Hausherr in regelmäßigen Abständen ausführliche schriftliche Instruktionen persönlich. Selbst die kultiviertesten Leute jener Epoche verwandten viel Zeit und Energie auf endlose Schreibereien [<15] darüber, wer die Kerzen anzünden und wer sie ausblasen, wer die Dochte zurechtschneiden und wer das geschmolzene Wachs sammeln sollte, ganz zu schweigen von so ernsthaften Problemen, wie wer auf welches Glockenzeichen hören, wer welche Tür öffnen öder auf welche Wünsche der Herrschaft öder ihrer Gäste hören müsse. Die Möglichkeiten und Fälle, die in einigen dieser Instruktionen vorgesehen waren, überlassen nichts dem Zufall oder der eigenen Initiative. Nichtbefolgung dieser wunderlichen Befehle wurde mit Prügeln öder sogar mit Folterung bestraft. Im Vorzimmer eines Edelmannes saßen Tag und Nacht siebzehn Lakaien, von denen der eine die Pfeife des Hausherrn, der andere ein Glas Wasser, der dritte ein Buch und so weiter holen mußte. Das festgelegte Ritual im Hause eines anderen, der sich dreihundert Dienstboten hielt, umfaßte ein tägliches Mahl von vierzig Gängen. Jeder einzelne Gang wurde von einem besonderen Küchenchef mit weißer Schürze und höher Mütze hereingebracht, der seine Platte auf den Tisch stellen, seine Mütze abnehmen und sich mit einer tiefen Verbeugung zurückziehen mußte, während zwölf Diener und Trancheure in röten Uniformen und mit gepuderten Perücken bei Tisch bedienten. Der gleiche Herr hatte übrigens auch sieben Katzen, die zur Nacht an einen Tisch mit sieben Beinen gebunden wurden, und wenn es geschah, daß sich eine von ihnen losriß, wurden die Mägde, die diese Katzen zu betreuen hatten, streng bestraft. Diese Verrücktheit stellte keine Ausnahme dar, denn es gab Hunderte von anderen Herrn mit ebenso närrischen Wünschen, die ihre Sklaven erfüllen mußten. So machte Graf Skawronsky, ein einflußreicher und unheimlich begüterter Adliger, der sich für einen großen Komponisten hielt, es allen seinen Angestellten zur Pflicht, sich in der Form des Sprechgesangs an ihn zu wenden und sich untereinander auf die gleiche Weise zu unterhalten."
     

    Krankhafter Machtmißbrauch: ,;Ich habe dir immer gesagt, daß ich dich ertappen werde, du Sau."

        "Ein anderer russischer Edelmann, der einen Sklaven bestrafen wollte, gefiel sich darin, jedesmal zum Schein eine Gerichtsverhandlung zu inszenieren, bei der er selbst sowohl als Ankläger wie als Verteidiger mehrere Reden hielt und erst danach das verwirrte Opfer einer Prügelstrafe öder sonstigen Züchtigung [<16] unterwarf. Ausschweifungen und Narrheiten dieser unglaublichen Gesellschaft kannten tatsächlich keine Grenzen, und es gab wenig öder keinen Schutz gegenüber solch krankhaftem Machtmißbrauch. Die Obliegenheiten der Dienerschaft waren nicht immer auf reine Hausarbeit öder persönliche Aufwartung beschränkt. Ähnlich wie die alten Römer ihre Sklaven auch als Schauspieler und Musiker verwandten, hielten sich viele reiche russische Adlige im 18. Jahrhundert ihre eigenen Theater und Orchester, von denen einige mehr als hundert Mitwirkende zählten. Man muß sich dabei vergegenwärtigen, daß diese Adelsleute, die einen Großteil ihrer Zeit auf dem Lande verbrachten, sich langweilten: denn sie waren häufig durch ungeheure Entfernungen von ihrem nächsten Nachbarn getrennt, und die schlechten Wege waren zu verschiedenen Zeiten des Jahres (besonders im Frühling bei beginnender Schneeschmelze) praktisch unbenutzbar. Sie mußten daher etwas anfangen, um sich und die größten üblichen Hausgesellschaften zu unterhalten. Die traditionelle russische Gastfreundschaft in ihrer verschwenderischsten Form haben alle sozialen und politischen Umwandlungen überlebt. Was sollten Gastgeber und Gäste besonders während der langen Wintermonate tun? Diese Privattheater und Orchester spielten auf dem Lande die Rolle des modernen Radios, Grammophons, Kinos oder anderer Vergnügungen.
        Auch in ihrem künstlerischen Geschmack waren dieadligen Herren sehr ausgeprägt und scheuten weder Mühe noch Geld, um ihre Leibeigenen gehörig ausbilden zu lassen. Oft ließen sie französische oder italienische Lehrmeister kommen, die sie im Singen, im Verhalten auf der Bühne, in der Handhabung eines schwer zu spielenden Instruments öder im Ballettanz unterrichten mußten. Manche sandten sogar ihre bäuerlichen Schauspieler und Musiker ins Ausland, damit ihre künstlerischen Fähigkeiten gefördert und entwickelt würden, und nicht selten ereignete es sich, daß diese Unglückseligen, die ihren Auslandsaufenthalt in verhältnismäßiger Freiheit genossen hatten und nach ihrer Rückkehr von neuem zum Sklavendienst gezwungen wurden, sich dem Trunk ergaben oder sogar Selbstmord verübten. Auch für die Bühne dachte sich der Herr, der alles selbst überwachte, die Besetzung [<17] und jede Art von Anweisung sorgfältig aus. Ein Edelmann z. B sah sich regelmäßig alle Wiederaufführungen seiner Privatoper an und pflegte in Schlafrock und Nachthaube auf der Bühne zu erscheinen, um seine Schauspieler Sklaven mit Worten und Gesten anzufeuern. Eines Abends, während der Aufführung von "Dido", gefiel ihm der Gesang der Hauptdarstellerin nicht, und so sprang er über die Rampenlichter, ohrfeigte das Mädchen und schrie: ,;Ich habe dir immer gesagt, daß ich dich ertappen werde, du Sau. Nach der Vorstellung marsch in den Stall, dort erwartet dich deine Belohnung!" Nach der Vorstellung, wohlgemerkt, denn er dachte nicht daran, sich deswegen sein Vergnügen entgehen zu lassen, und so mußte die arme "Dido" sich zusammennehmen und von neuem beginnen."
     

    Großgrundbesitzer ein beinahe klinischer Fall sadistischer Machtpsychose. Potemkin übertriftt alle. 

        "Wenn die Edlen von einem Gut zum anderen fuhren oder von der Stadt aufs Land übersiedelten, nahmen sie gewöhnlich ihre privaten Theater und Orchester mit. So führte ein gewisser Adelsherr nicht weniger als zwanzig große Wagen, die mit
        Musikern und Schauspielern vollbesetzt waren, ständig auf seinen Reisen mit, damit sie ihn überall unterhalten könnten. Heutzutage reisen solche Leute mit einem Koffergrammographen oder Radioapparat.
        Es war Mode geworden, Vergnügungen in großem Stil zu halten, und Höflinge und andere wetteiferten in ihren Ausschweifungen miteinander. Graf Kamensky ließ 30 000 Rubel springen, um den "Kalifen von Bagdad" für seine Gäste zu inszenieren. Zur Feier der Beendigung des Türkenkrieges veranstaltete Leo Narischkin, der Stallmeister Katharinas eine Gesellschaft, bei der er den ganzen Krieg mit seinen Hauptschlachten nachmals verführen ließ. Das Theater des Grafen Scheremetiew im Dorf Kuskowo - vielleicht das berühmteste von allen, das häufig von Katharina, Kaiser Joseph II. von Österreich, dem König von Polen und anderen Machthabern besucht wurde -  verfügte über ein Repertoire von nicht weniger als vierzig Opern. Am Theater des Fürsten Yussupow trat ein Ballett von mehrer hundert nackten Mädchen auf. Potemkins Gesellschaften übertrafen selbst die verschwenderischten Festlichkeiten bei Hofe. [<18]
        Jeder "Grand Seigneur" hatte den Ehrgeiz, für seine Gäste irgendeine neue Art der Unterhaltung auszuklügeln öder ein besonders neuartiges Gericht auf den Tisch zu bringen. Graf Rasumowsky kam plötzlich auf die Idee, daß es amüsant sein müßte, eine Nachtigall gerade dann singen zu hören, wenn der Fluß des Ortes die ganze Gegend überschwemmt hatte: und prompt wurden Tausende von Bauern eingesetzt, um Dämme und Deiche zu bauen, damit er mit seinen Gästen hindurchspazieren könne. Es war ein beliebter Zeitvertreib, sozusagen über Nacht ein Feld in einen See oder in einen Berg zu verwandeln oder in wenigen Stunden einen Pavillon, einen Turm, einen Triumphbögen oder ein architektonisches Kunstwerk errichten zu lassen. Ein Adliger war wegen seiner "Liebesinsel" berühmt, weil dort den Gästen die hübschesten Mädchen des Dorfes zur Verfügung gestellt wurden. Ein anderer vermittelte die höchsten künstlerischen und musikalischen Genüsse. Orlow bewirtete seine Gäste mit knüppelgroßem Spargel, und Potemkin ließ sich stets die ausgesuchtesten Delikatessen aus Frankreich und anderen fernen Ländern kommen. Harris berichtet, daß die Speisen im Palast manchmal auf Platten serviert wurden, die nicht nur aus massivem Gold bestanden, sondern sogar mit Juwelen besetzt waren.
        Geld, Zeit, Mühe und Menschenleben bedeuteten für die Kaiserin und den russischen Adligen des 18. Jahrhunderts wenig. Seine Bauern waren für ihn keine menschlichen Wesen. Er sah seine Leibeigenen nicht viel anders an als das liebe Vieh, vielleicht als nicht ganz so wertvoll und eben als etwas, das zum Auspeitschen und zur Arbeit da war, bis es tot umfiel. Diese Einstellung ist nicht nur für die "zählebigen" Großgrundbesitzer zutreffend, von denen es unzählige gab und die einen beinahe klinischen Fall sadistischer Machtpsychose darstellten."
     

    Geld, Zeit, Mühe und Menschenleben bedeuteten für die Kaiserin und den Adel wenig

        "Die von den russischen Bauern erduldeten Marterqualen gereichen diesen Leuten zur ewigen Schande. Bedeutsam ist jedoch, daß sogar die aufgeklärten und vornehmen Vertreter der oberen Kreise, sogar jene, die mit ihren Bauern und ihrem Personal auf verhältnismäßig vertrautem Fuße standen, sie auch nur als Viehbetrachteten. Der gütige Andreas Bolotow, der in seinen inter[<19]essanten Memoiren Geist und Geschehnisse seiner Epoche gebrandmarkt hat, und der große Feldmarschall Suworow, der große Sympathien für die Untergebenen empfand und als Großgrundbesitzer in seiner natürlichen Menschlichkeit die meisten seiner Zeitgenossen übertraf, sind interessante Beispiele dafür Ihre Beziehungen zu den eigenen Bauern waren nicht nur "patriarchalisch", beide glaubten vielmehr aufrichtig, diese seien nicht besser als das Vieh und müßten entsprechend behandelt werden. Eine Parallele dazu ließe sich vielleicht in der Haltung amerikanischer Familien ihrem Negerpersonal und besonders den schwarzen Ammen gegenüber finden. Diese dürfen zwar weiße Kinder nähren und aufziehen, werden auch von ihren Herrschaften nicht nur geschätzt, sondern sogar geliebt, werden aber trotzdem allgemein als eine vollkommen verschiedene und niedere Rasse angesehen."
     

    Sklavenhandel zu keiner Zeit in höherer Blüte als unter der "aufgeklärten" Katharinas II.

        "Es war in Rußland damals zur festen Gewohnheit geworden, bäuerliche Leibeigene zu verkaufen, zu verpfänden oder auszutauschen. Einen Begriff von der Höhe der jeweiligen Preise erhalt man aus den Annoncen der Moskauer und Petersburger Zeitungen jener Tage. Ein guter junger Barsoi konnte 3 000 Rubel einbringen, während der Wert einer jungen Bauernmagd etwa zwischen 2 1/2 und 33 Rubel schwankte. Ein Kind war unter Umständen für zehn Kopeken erhältlich. Verfügte ein Leibeigener über höhere Qualitäten, so konnte er allerdings sehr beträchtliche Preise erzielen. Ein guter Koch oder ein guter Musiker waren 800 Rubel oder sogar noch mehr wert. Graf Kamensky gab im Austausch für eine Schauspielertruppe, an der ihm sehr gelegen war, ein ganzes Dorf mit 250 Einwohnern weg. Ein anderer verkaufte 20 Musiker für 10 000 Rubel. Leibeigene oder "Seelen" wurden zusammen mit Haushaltungsgegenständen und allen Arten von Gebrauchsartikeln feilgeboten. Nur einige Beispiele seien hier genannt: "Zu verkaufen: Ein Barbier nebst vier Bettstellen, einer Daunendecke und anderer häuslicher Habe." "Zu verkaufen: Bankett Tischtücher sowie Zwei gelernte Mädchen und ein Bauer". "Zu verkaufen: Ein sechzehnjähriges gutartiges Mädchen und ein nur wenig gebrauchter Wagen". [<20] Dieser abscheuliche Handel blühte zu keiner Zeit der russischen Geschichte mehr als in den "aufgeklärten" Tagen Katharinas, genau so wie die Vergnügungssucht in keiner anderen Epoche ausschweifendere Formen zeigte."
     

    Image und narzißtischer Kult der "aufgeklärten" Despotin als Generalziel des Regierens 

        "Der Widerspruch zwischen dieser traurigen Wirklichkeit und den liberalen Ideen, die von der Kaiserin verkündet wurden, oder der Außenseite des russischen Ruhms ist niederschmetternd. Die lange Regierungsperiode Katharinas (1762-1796) wird auch als das goldene Zeitalter Rußlands beschrieben, Katharina selbst als "aufgeklärte Despotin" bezeichnet. Und es besteht kein Zweifel, daß sie selbst am eifrigsten bemüht war, die Welt - Zeitgenossen wie Nachwelt - sie und ihr Werk in diesem Licht sehen zu lassen. Sie scheute keine Anstrengung, um einen günstigen Eindruck hervorzurufen, und sie hatte dabei in hohem Maße Erfolg. Dies war auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Ihr Talent, sich in der Öffentlichkeit beliebt zu machen, war einzigartig. Sie betrachtete das Sich beliebt machen als einen wesentlichen Teil der Regierungskunst, und man kann sagen, daß sie diese Kunst wahrlich in hohem Maße beherrschte. Während ihrer ganzen Regierungszeit zeichnete sie sich nicht nur dadurch aus, daß sie es geschickt verstand, auf nationaler wie auf internationaler Grundlage ihre eigene Beliebtheit zu fördern, sondern auch dadurch, daß sie andere dafür gewann, ihr dabei behilflich zu sein. Ihre unzähligen Manifeste und Verlautbarungen an das russische Volk - zum Beispiel jene nach der Absetzung ihres Gatten, als sie selbst den Thron an sich riß - könnten jeder modernen Pressekampagne zum Vorbild dienen.
        Die Meinung des Auslandes lag ihr ständig am Herzen. Öfter ließ sie von ihren Reden oder Gesetzesvorlagen, die auch außerhalb Rußlands Eindruck machen sollten, Übersetzungen in fremde Sprachen herstellen und im Ausland verteilen. Andrerseits war sie jedoch klug genug, um die Grenzen ihres Eigenlobes zu erkennen, und wußte, daß ihre Monologe, so elegant und überzeugend sie auch waren, nicht allein die Wirkung erzielen konnten, die sie im Sinne hatte. Schon lange vorher war es ihr gelungen, eine ganze Schar von begeisterten Anhängern [<21] in allen führenden Ländern zu gewinnen, die durch ihr maßgebendes Urteil die eigenen Äußerungen der Kaiserin bekräftigten. Sie erreichte das, indem sie mit den größten und einflußreichsten Persönlichkeiten ihrer Zeit regelmäßige Korrespondenzen führte - ein geistiger Austausch, der ihr zweifellos viel Vergnügen bereitete, den sie aber auch bewußt dazu benutzte, diese Persönlichkeiten zu willfährigen und unverdächtigen Förderern ihrer 'öffentlichen Beliebtheit' zu machen. Mit erstaunlicher Energie und Ausdauer schrieb sie ihnen in kurzen Zeitabständen, erläuterte ihre Ideen, diskutierte mit ihnen über politische Ideologien, die damals gerade Mode waren, und vor allen Dingen schilderte sie ihnen in allen Einzelheiten ihre eigenen Taten und in Aussicht genommenen Pläne. Außer dieser regelmäßigen Übermittlung von Informationen bat sie von Zeit zu Zeit ganz offen, bestimmte Erklärungen in ihrem Interesse abzugeben oder zu verbreiten, und das wurde besorgt. Sie fand außerdem Gefallen daran, durch dieses Sprachrohr "Europa zu sagen", was sie von Europa hielt. Die bloße Aufzählung der Männer, mit denen sie im regelmäßigen Briefwechsel stand, dröhnt von großen Namen wie ein französischer Trommelwirbel: Voltaire, Diderot, D'Alembert, der kosmopolitische und überall auftauchende Fürst von Ligne, Madame Geoffrin, Madame Bjelke, Friedrich der Große, Kaiser Joseph II. von Österreich und viele andere. Doch der Mann, mit dem sie in erster Linie korrespondierte und der im 18. Jahrhundert ungefähr das war, was heute ein persönlicher Presseagent ist, war Friedrich Melchior Grimm, ein in Paris lebender Deutscher, ein eitler Schwätzer, der sich auf dem Gebiet internationaler Beziehungen betätigte. Grimm gab die "Literarische Korrespondenz" heraus, eine Art Rundschreiben oder Zeitschrift, die er einigen wenigen bevorzugten einflußreichen Abonnenten für ein stattliches Honorar zustellte. Lange Jahre hindurch war Katharina bei weitem seine beste Abnehmerin. Er verbrachte sogar einige Zeit an ihrem Hofe in Petersburg."



    Anmerkungen und Endnoten
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    aufbereitet. Zur Klärung des Copyrights und der zuständigen Rechtsnachfolger habe ich ziemlich viel Mühe aufgewandt. Die Urheberrechte lagen beim Schweizer Fretz & Wasmuth Verlag, der später in den Scherzverlag und dieser in den Fischerverlag überging. Der Fischerverlag teilte mir am 9.5.5 mit, daß er die Rechtfrage mangels Informationen letztlich nicht genau klären könne, aber selber keine Rechte geltend mache.
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    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    tt.mm.jj


    Querverweise
    Standort: Soloveytchik: Leben und Treiben in Rußland zur Zeit Katharinas II.
    Materialien zur Justiz in Rußland zur Zeit Katharinas II.
    Russische Zustände nach Michael Bakunin.
    War Potemkin ein Hochstapler? Gab es die potemkinschen Dörfer wirklich?
    Überblick Geschichte in der IP-GIPT.
    Psychpathographien von Herrschern (Überblick).
    Überblick Politische Psychologie in der IP-GIPT.
    *
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Leben und Treiben in Rußland [zur Zeit Katharainas II.]. Aus dem Ersten Kapitel Potemkin von Georges Soloveytchik. Abteilung Politische Psychologie, Geschichte, Rußland. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/politpsy/gesch/russl/ruzuk2s.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Die Rechtefrage zur Abdruckgenehmigung war bislang nicht klärbar. Die ursprünglichen Urheberrechte lagen beim Schweizer Fretz & Wasmuth Verlag, der später in den Scherzverlag und dieser in den Fischerverlag überging. Der Fischerverlag teilte mir am 9.5.5 mit, daß er die Rechtefrage mangels Informationen letztlich nicht genau klären könne, selber aber keine Rechte geltend mache.


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    korrigiert: