Leben und Treiben in Russland zur Zeit Katharainas II.
nach und aus Soloveytchik, George (dt. 1953). Potemkin.
Soldat, Staatsmann, Liebhaber und Gemahl der Kaiserin Katharina der
Großen. Stuttgarter Hausbücherei.
Einzig berechtige Lizenzausgabe für Deutschland
der bei der Fretz & Wasmuth AG in Zürich erschienen Originalausgabe.
aufbereitet mit
Zwischen- Überschriften versehen
von Rudolf Sponsel, Erlangen
"Erstes Kapitel
LEBEN UND TREIBEN IN RUSSLAND
Im europäischen Geschehen des 18. Jahrhunderts,
in dessen Verlauf sich einige der wichtigsten Ereignisse moderner Geschichte
abgespielt haben, kommt Rußland eine ganz besondere Stellung zu.
Der beispiellose Aufstieg und die Konsolidierung des russischen Reichs,
die von einer ungeheuren gebietsmäßigen Expansion begleitet
waren; die Bedeutung, die sich die neu erbaute und rasch anwachsende, im
wahren Sinn des Wortes kosmopolitische Hauptstadt Petersburg erworben hatte;
Prunk und Aufwand des Zarenhofes, der an Glanz sogar den Hof von Versailles,
seinem Vorbild, übertraf all das ist etwas Einzigartiges selbst für
eine so bewegte und vielgestaltige Epoche, in der praktisch jede Szene,
die sich auf der europäischen Bühne abspielte, einem größeren
Drama glich und in der die meisten handelnden Personen Darsteller von ungewöhnlicher
Begabung waren.
Europa bot im 18. Jahrhundert ein seltenes Schauspiel
von Fortschritt und rückläufiger Entwicklung, von übertriebenem
Glanz, Schmutz und Elend, die durchaus nebeneinander bestehen konnten.
Nirgends aber war dieser Gegensatz auffallender und tiefer verwurzelt als
in Rußland."
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"Zwei parallele Entwicklungen zeichneten sich ab:
einerseits die Verselbständigung des Adels, andererseits die fortschreitende
Versklavung des Bauernstandes, die ganz beispiellose und unglaubliche Formen
annahm. Das Zarenreich hatte seit dem Tag, als Peter der Große die
alten moskowitischen Adligen nicht ohne Gewaltanwendung zwang, ihre Bärte
abzuschneiden und den [<11] europäischen Lebensstil zu übernehmen,
in bemerkenswert kurzer Zeit einen weiten Weg zurückgelegt. Während
des halben Jahrhunderts, das zwischen Peters Reformen und der Thronbesteigung
Katharinas II. verstrich, war die Umformung der herrschenden Schicht beinahe
zum Abschluß gelangt. Der Boden, auf den Anschauungen und Sitten
des westlichen Europa ursprünglich mit Gewalt verpflanzt worden waren,
erwies sich in Wahrheit als so fruchtbar, daß die Ergebnisse bald
beunruhigende Ausmaße annahmen. Das Gemisch von europäischer
Bildung und asiatischem Gepräge wurde ein ungesundes Gewächs
am russischen Volkskörper."
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"Auf den Glanz und Prunk dieses Hofes war ich zwar
vorbereitet", schreibt der Botschafter Großbritanniens, der spätere
Lord Malmesbury - damals noch der einfache Mister James Harris - in seinem
ersten Bericht aus Petersburg vom s. Januar 1778, "doch meine Vorstellungen
werden in jeder Beziehung übertroffen, da mit allem eine vollendete
Gesellschaftsordnung und Etiquette verbunden ist". Die überwiegende
Mehrheit der ausländischen Besucher Rußlands zu jener Zeit vermerkt
ebenfalls ihr höchstes Erstaunen angesichts des Bildes, das sich ihnen
bot. Sie waren durch den Prunk bei Hofe und bei den Adligen, mit denen
sie in Kontakt kamen, geblendet, und sie hatten sicherlich allen Grund,
derart beeindruckt zu sein. Eine überspanntere, ausschweifendere und
verkommenere Gesellschaft hätte man schwerlich finden können."
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"Kaiserin Katharina, die es als "unwürdig" ansah,
"mit dem Pfennig zu rechnen", war selbst tonangebend, und alle aus ihrer
Umgebung wetteiferten miteinander, um mit dem allgemeinen Standard Schritt
zu halten oder ihn womöglich noch zu übertreffen. Die Mittel
für ihren ausschweifenden Luxus, der sich nur mit der Lebensweise
orientalischer Machthaber vergleichen läßt, mußten aus
Sklavenarbeit bestritten werden. Katharina war - nach ihren eigenen Worten
- "als arme, umherziehende Prinzessin" im Alter von fünfzehn Jahren
von einem deutschen Fürstenhof nach Rußland gekommen und entwickelte
jetzt eine Fähigkeit im Geldausgeben, wie sie in ihrem neuen Land
bisher unbekannt gewesen war; dabei ist Verschwendungssucht stets [<12]
eine russische Nationaleigenschaft gewesen, und sie ist es noch immer.
Der Wert des Rubels entsprach damals ungefähr 1 1/4 Dollar. Katharina
gab nicht nur für den Bau ihrer eigenen Paläste und Landhäuser,
für die Sammlung wertvollster Kunstgegenstände, für Kleider,
Juwelen und andere Luxusartikel Millionen aus, sondern sie verteilte auch
mit der gleichen verschwenderischen Freigebigkeit Reichtümer unter
ihre Günstlinge und andere bevorrechtete Personen. So schenkte sie
beispielsweise dem Grigory Orlow einen goldbestickten Rock, der eine Million
Rubel kostete. Der Wert der Paläste, die sie für ihn und später
für Potemkin erstellen ließ, oder der Ländereien, die sie
samt Hunderten und Tausenden von "Seelen" oder leibeigenen Bauern zur "Unterhaltung"
der glücklichen Empfänger verschenkte, stieg ins Märchenhafte.
Der reiche Adel folgte dem Beispiel der Kaiserin und errichtete ebenfalls
prunkvolle städtische Paläste und Landhäuser, Villen, Treibhäuser,
Ställe und Reitschulen und private Theater; er ließ die prachtvollsten
Parks und Gärten anlegen, die durch Springbrunnen und Seen verschönt
wurden; er sammelte Juwelen und verschiedenartige Schätze und scheute
keine Mühe, um sich mit der Atmosphäre eines beinahe unwirklichen
Luxuslebens zu umgeben. Die meisten Gebäude wurden durch französische
und italienische Baumeister erbaut, und in erstaunlich kurzer Zeit entstanden
nicht nur in der Stadt Petersburg und ihren Vororten, sondern auch auf
dem Lande und natürlich innerhalb der verschiedenen kaiserlichen Residenzen,
wie in Zarskoje Selo, in Peterhof und Gatschina, die entzückendsten
Paläste, von denen viele bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben
sind."
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"Ein zeitgenössischer Schriftsteller verglich
im Jahre 1788 Petersburg mit dem "ruhmreichen Versailles", und ein anderer
bemerkte einige Jahre später, die Petersburger Gesellschaft sei das
"genaue Spiegelbild des Hofes. Man kann sie mit der Eingangshalle eines
ungeheuren Tempels vergleichen, wo alle Anvwesenden ihre Blicke nur auf
die thronende Göttin richten, der sie ihre Opfergaben darbringen und
für die sie Weihrauch verbrennen."
Nicht nur die Höflinge und die reichen Adligen,
die in der [<13] Hauptstadt lebten, sondern sogar der ärmere Landadel
wurden bald von einer vollkommen verrückten Sucht nach Vergnügen
und Zerstreuung befallen. Um mit der allgemeinen Mode Schritt halten zu
können, mußten sie häufig ihre Besitzungen verkaufen öder
verpfänden, und viele von ihnen, ursprünglich einfache und besonnene
Leute, stürzten sich ins Verderben. Doch dem Vorbild des "ruhmreichen
Versailles" mußte um jeden Preis nachgeeifert werden. Und genau wie
die kaiserliche "Göttin" in Petersburg Vorbild für die reichen
Adligen und Höflinge ihrer Umgebung war, die sie im Grunde verachtete,
so waren diese ihrerseits wieder die lokalen, kleinen Götter ihrer
ärmeren und anspruchsloseren Nachbarn, die sie natürlich ebenfalls
verachteten und nicht selten demütigten.
Es entsprach der Müde, einen so umfangreichen
Haushalt wie nur möglich zu führen, und die gesellschaftliche
Stellung wurde in hohem Maße darnach beurteilt. Konnte man eine Unmenge
Dienstboten aufweisen, so erhöhte man dadurch sein eigenes Ansehen.
Man hielt sich fünf öder sechsmal soviel Bediente wie in
den entsprechenden Kreisen in Europa. Die sehr Reichen verfügten häufig
über einen Stab von 300 bis 800 Leuten, während 100 bis 150 Bediente
für eine Einzelperson von Rang als bescheiden galten. Sogar die armen
Edelleute leisteten sich ein Dutzend öder einige zwanzig Dienstboten
und fuhren beständig in Vierspännern.
Die meisten dieser Dienstboten wurden von den besitzenden
Ständen aus den Reihen ihrer bäuerlichen Leibeigenen genommen,
und nur gelegentlich wurde ein Koch oder ein Barbier oder anderes Hauspersonal
- dann meist ein Franzose öder ein Italiener - aus dem Ausland
als freier Angestellter angeworben, doch selten auch als solcher behandelt.
Es kam manchmal vor, daß bäuerliche Dienstboten zur Bestrafung
öder aus häuslichen Sparsamkeitsgründen wieder aufs Land
zurückversetzt und einen Teil des Jahres als Arbeiter und nur die
übrige Zeit im Hausdienst verwendet wurden. Was ihre Tätigkeit
betrifft, muß man sich daran erinnern, daß ein reicher russischer
Adliger zu jener Zeit sich seine eigenen Schneider, Schuster, Sattler,
Tischler, Pferde und Stallknechte und mägde, Apotheker,
Musiker, [<14] Schauspieler und Schauspielerinnen, Dichter, Architekten
und Maler hielt, und daß er eine ganze Armee von persönlichen
Bedienten besaß, wie Köche, Bäcker, Konditoren, Tellerwäscher,
Waschfrauen, Lakaien, Kellermeister, Trancheure, Diener, die den Kaffee
servierten, Stubenmädchen, Kammerdiener, et hoc genus omne. Für
jede einzelne Hantierung standen gewöhnlich mehrere Leute zur Verfügung,
mit Gehilfen und Nebengehilfen zur Unterstützung. Da außerdem
die meisten reicheren Leute nicht nur mehrere große Stadthäuser,
sondern auch auf dem Lande unzählige Güter besaßen, war
jeder Wohnsitz mit einem eigenen Stab an Dienstpersonal versehen. Manche
hielten sich eine eigene Leibwache, die sie auf dem Land gegen Räuber
schützen und auf Reisen begleiten mußte, und das war keineswegs
überflüssig. Wieder andere benötigten für ihre speziellen
Liebhabereien eine ganze Armee von Sklaven. So hielt sich Graf Scheremetiew
zwölf "Husaren" mit einem "Kommandanten", die zu seinem und
seiner Gäste Ergötzen jeweils zur Parade aufmarschieren mußten.
Ein anderer berühmter Edelmann hatte mehrere hundert Jäger mit
zweitausend Jagdhunden nur zum Vergnügen. Ein dritter wiederum pflegte
reguläre Kavalleriegefechte mit Spezialtruppen bewaffneter Krieger
zu inszenieren. Aber auch selche, die sich privat einen Theologen öder
sogar einen Astronomen hielten, waren nicht selten. Diese Gewohnheit scheint
eine besondere nationale Schrulle zu sein, denn es sind nach nicht so viele
Jahre her, seit der Verfasser in einem französischen Badeort einem
berühmten russischen Millionär begegnete, der von einem ungeheuren
Gefolge begleitet war, unter dem sich auch ein privater Astronom befand.
Auf die Frage, wozu die Dienste dieses Herrn benötigt würden,
erfolgte die klassische Antwort: "Soll doch der Kerl in die Sterne gucken,
ich kann es mir ja leisten." Und das war nicht im 18., sondern tief im
20. Jahrhundert."
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"Die Funktionen jedes einzelnen Untergebenen waren
genau festgelegt, und in jedem größeren Gebäude gab der
Hausherr in regelmäßigen Abständen ausführliche schriftliche
Instruktionen persönlich. Selbst die kultiviertesten Leute jener Epoche
verwandten viel Zeit und Energie auf endlose Schreibereien [<15] darüber,
wer die Kerzen anzünden und wer sie ausblasen, wer die Dochte zurechtschneiden
und wer das geschmolzene Wachs sammeln sollte, ganz zu schweigen von so
ernsthaften Problemen, wie wer auf welches Glockenzeichen hören, wer
welche Tür öffnen öder auf welche Wünsche der Herrschaft
öder ihrer Gäste hören müsse. Die Möglichkeiten
und Fälle, die in einigen dieser Instruktionen vorgesehen waren, überlassen
nichts dem Zufall oder der eigenen Initiative. Nichtbefolgung dieser wunderlichen
Befehle wurde mit Prügeln öder sogar mit Folterung bestraft.
Im Vorzimmer eines Edelmannes saßen Tag und Nacht siebzehn Lakaien,
von denen der eine die Pfeife des Hausherrn, der andere ein Glas Wasser,
der dritte ein Buch und so weiter holen mußte. Das festgelegte Ritual
im Hause eines anderen, der sich dreihundert Dienstboten hielt, umfaßte
ein tägliches Mahl von vierzig Gängen. Jeder einzelne Gang wurde
von einem besonderen Küchenchef mit weißer Schürze und
höher Mütze hereingebracht, der seine Platte auf den Tisch stellen,
seine Mütze abnehmen und sich mit einer tiefen Verbeugung zurückziehen
mußte, während zwölf Diener und Trancheure in röten
Uniformen und mit gepuderten Perücken bei Tisch bedienten. Der gleiche
Herr hatte übrigens auch sieben Katzen, die zur Nacht an einen Tisch
mit sieben Beinen gebunden wurden, und wenn es geschah, daß sich
eine von ihnen losriß, wurden die Mägde, die diese Katzen zu
betreuen hatten, streng bestraft. Diese Verrücktheit stellte keine
Ausnahme dar, denn es gab Hunderte von anderen Herrn mit ebenso närrischen
Wünschen, die ihre Sklaven erfüllen mußten. So machte Graf
Skawronsky, ein einflußreicher und unheimlich begüterter Adliger,
der sich für einen großen Komponisten hielt, es allen seinen
Angestellten zur Pflicht, sich in der Form des Sprechgesangs an ihn zu
wenden und sich untereinander auf die gleiche Weise zu unterhalten."
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"Ein anderer russischer Edelmann, der einen Sklaven
bestrafen wollte, gefiel sich darin, jedesmal zum Schein eine Gerichtsverhandlung
zu inszenieren, bei der er selbst sowohl als Ankläger wie als Verteidiger
mehrere Reden hielt und erst danach das verwirrte Opfer einer Prügelstrafe
öder sonstigen Züchtigung [<16] unterwarf. Ausschweifungen
und Narrheiten dieser unglaublichen Gesellschaft kannten tatsächlich
keine Grenzen, und es gab wenig öder keinen Schutz gegenüber
solch krankhaftem Machtmißbrauch. Die Obliegenheiten der Dienerschaft
waren nicht immer auf reine Hausarbeit öder persönliche Aufwartung
beschränkt. Ähnlich wie die alten Römer ihre Sklaven auch
als Schauspieler und Musiker verwandten, hielten sich viele reiche russische
Adlige im 18. Jahrhundert ihre eigenen Theater und Orchester, von denen
einige mehr als hundert Mitwirkende zählten. Man muß sich dabei
vergegenwärtigen, daß diese Adelsleute, die einen Großteil
ihrer Zeit auf dem Lande verbrachten, sich langweilten: denn sie waren
häufig durch ungeheure Entfernungen von ihrem nächsten Nachbarn
getrennt, und die schlechten Wege waren zu verschiedenen Zeiten des Jahres
(besonders im Frühling bei beginnender Schneeschmelze) praktisch unbenutzbar.
Sie mußten daher etwas anfangen, um sich und die größten
üblichen Hausgesellschaften zu unterhalten. Die traditionelle russische
Gastfreundschaft in ihrer verschwenderischsten Form haben alle sozialen
und politischen Umwandlungen überlebt. Was sollten Gastgeber und Gäste
besonders während der langen Wintermonate tun? Diese Privattheater
und Orchester spielten auf dem Lande die Rolle des modernen Radios, Grammophons,
Kinos oder anderer Vergnügungen.
Auch in ihrem künstlerischen Geschmack waren
dieadligen Herren sehr ausgeprägt und scheuten weder Mühe noch
Geld, um ihre Leibeigenen gehörig ausbilden zu lassen. Oft ließen
sie französische oder italienische Lehrmeister kommen, die sie im
Singen, im Verhalten auf der Bühne, in der Handhabung eines schwer
zu spielenden Instruments öder im Ballettanz unterrichten mußten.
Manche sandten sogar ihre bäuerlichen Schauspieler und Musiker ins
Ausland, damit ihre künstlerischen Fähigkeiten gefördert
und entwickelt würden, und nicht selten ereignete es sich, daß
diese Unglückseligen, die ihren Auslandsaufenthalt in verhältnismäßiger
Freiheit genossen hatten und nach ihrer Rückkehr von neuem zum Sklavendienst
gezwungen wurden, sich dem Trunk ergaben oder sogar Selbstmord verübten.
Auch für die Bühne dachte sich der Herr, der alles selbst überwachte,
die Besetzung [<17] und jede Art von Anweisung sorgfältig aus.
Ein Edelmann z. B sah sich regelmäßig alle Wiederaufführungen
seiner Privatoper an und pflegte in Schlafrock und Nachthaube auf der Bühne
zu erscheinen, um seine Schauspieler Sklaven mit Worten und Gesten anzufeuern.
Eines Abends, während der Aufführung von "Dido", gefiel ihm der
Gesang der Hauptdarstellerin nicht, und so sprang er über die Rampenlichter,
ohrfeigte das Mädchen und schrie: ,;Ich habe dir immer gesagt, daß
ich dich ertappen werde, du Sau. Nach der Vorstellung marsch in den Stall,
dort erwartet dich deine Belohnung!" Nach der Vorstellung, wohlgemerkt,
denn er dachte nicht daran, sich deswegen sein Vergnügen entgehen
zu lassen, und so mußte die arme "Dido" sich zusammennehmen und von
neuem beginnen."
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"Wenn die Edlen von einem Gut zum anderen fuhren
oder von der Stadt aufs Land übersiedelten, nahmen sie gewöhnlich
ihre privaten Theater und Orchester mit. So führte ein gewisser Adelsherr
nicht weniger als zwanzig große Wagen, die mit
Musikern und Schauspielern vollbesetzt waren, ständig
auf seinen Reisen mit, damit sie ihn überall unterhalten könnten.
Heutzutage reisen solche Leute mit einem Koffergrammographen oder Radioapparat.
Es war Mode geworden, Vergnügungen in großem
Stil zu halten, und Höflinge und andere wetteiferten in ihren Ausschweifungen
miteinander. Graf Kamensky ließ 30 000 Rubel springen, um den "Kalifen
von Bagdad" für seine Gäste zu inszenieren. Zur Feier der Beendigung
des Türkenkrieges veranstaltete Leo Narischkin, der Stallmeister Katharinas
eine Gesellschaft, bei der er den ganzen Krieg mit seinen Hauptschlachten
nachmals verführen ließ. Das Theater des Grafen Scheremetiew
im Dorf Kuskowo - vielleicht das berühmteste von allen, das häufig
von Katharina, Kaiser Joseph II. von Österreich, dem König von
Polen und anderen Machthabern besucht wurde - verfügte über
ein Repertoire von nicht weniger als vierzig Opern. Am Theater des Fürsten
Yussupow trat ein Ballett von mehrer hundert nackten Mädchen auf.
Potemkins Gesellschaften übertrafen selbst die verschwenderischten
Festlichkeiten bei Hofe. [<18]
Jeder "Grand Seigneur" hatte den Ehrgeiz, für
seine Gäste irgendeine neue Art der Unterhaltung auszuklügeln
öder ein besonders neuartiges Gericht auf den Tisch zu bringen. Graf
Rasumowsky kam plötzlich auf die Idee, daß es amüsant sein
müßte, eine Nachtigall gerade dann singen zu hören, wenn
der Fluß des Ortes die ganze Gegend überschwemmt hatte: und
prompt wurden Tausende von Bauern eingesetzt, um Dämme und Deiche
zu bauen, damit er mit seinen Gästen hindurchspazieren könne.
Es war ein beliebter Zeitvertreib, sozusagen über Nacht ein Feld in
einen See oder in einen Berg zu verwandeln oder in wenigen Stunden einen
Pavillon, einen Turm, einen Triumphbögen oder ein architektonisches
Kunstwerk errichten zu lassen. Ein Adliger war wegen seiner "Liebesinsel"
berühmt, weil dort den Gästen die hübschesten Mädchen
des Dorfes zur Verfügung gestellt wurden. Ein anderer vermittelte
die höchsten künstlerischen und musikalischen Genüsse. Orlow
bewirtete seine Gäste mit knüppelgroßem Spargel, und Potemkin
ließ sich stets die ausgesuchtesten Delikatessen aus Frankreich und
anderen fernen Ländern kommen. Harris berichtet, daß die Speisen
im Palast manchmal auf Platten serviert wurden, die nicht nur aus massivem
Gold bestanden, sondern sogar mit Juwelen besetzt waren.
Geld, Zeit, Mühe und Menschenleben bedeuteten
für die Kaiserin und den russischen Adligen des 18. Jahrhunderts wenig.
Seine Bauern waren für ihn keine menschlichen Wesen. Er sah seine
Leibeigenen nicht viel anders an als das liebe Vieh, vielleicht als nicht
ganz so wertvoll und eben als etwas, das zum Auspeitschen und zur Arbeit
da war, bis es tot umfiel. Diese Einstellung ist nicht nur für die
"zählebigen" Großgrundbesitzer zutreffend, von denen es unzählige
gab und die einen beinahe klinischen Fall sadistischer Machtpsychose darstellten."
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"Die von den russischen Bauern erduldeten Marterqualen
gereichen diesen Leuten zur ewigen Schande. Bedeutsam ist jedoch, daß
sogar die aufgeklärten und vornehmen Vertreter der oberen Kreise,
sogar jene, die mit ihren Bauern und ihrem Personal auf verhältnismäßig
vertrautem Fuße standen, sie auch nur als Viehbetrachteten. Der gütige
Andreas Bolotow, der in seinen inter[<19]essanten Memoiren Geist und
Geschehnisse seiner Epoche gebrandmarkt hat, und der große Feldmarschall
Suworow, der große Sympathien für die Untergebenen empfand und
als Großgrundbesitzer in seiner natürlichen Menschlichkeit die
meisten seiner Zeitgenossen übertraf, sind interessante Beispiele
dafür Ihre Beziehungen zu den eigenen Bauern waren nicht nur "patriarchalisch",
beide glaubten vielmehr aufrichtig, diese seien nicht besser als das Vieh
und müßten entsprechend behandelt werden. Eine Parallele dazu
ließe sich vielleicht in der Haltung amerikanischer Familien ihrem
Negerpersonal und besonders den schwarzen Ammen gegenüber finden.
Diese dürfen zwar weiße Kinder nähren und aufziehen, werden
auch von ihren Herrschaften nicht nur geschätzt, sondern sogar geliebt,
werden aber trotzdem allgemein als eine vollkommen verschiedene und niedere
Rasse angesehen."
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"Es war in Rußland damals zur festen Gewohnheit
geworden, bäuerliche Leibeigene zu verkaufen, zu verpfänden oder
auszutauschen. Einen Begriff von der Höhe der jeweiligen Preise erhalt
man aus den Annoncen der Moskauer und Petersburger Zeitungen jener Tage.
Ein guter junger Barsoi konnte 3 000 Rubel einbringen, während der
Wert einer jungen Bauernmagd etwa zwischen 2 1/2 und 33 Rubel schwankte.
Ein Kind war unter Umständen für zehn Kopeken erhältlich.
Verfügte ein Leibeigener über höhere Qualitäten, so
konnte er allerdings sehr beträchtliche Preise erzielen. Ein guter
Koch oder ein guter Musiker waren 800 Rubel oder sogar noch mehr wert.
Graf Kamensky gab im Austausch für eine Schauspielertruppe, an der
ihm sehr gelegen war, ein ganzes Dorf mit 250 Einwohnern weg. Ein anderer
verkaufte 20 Musiker für 10 000 Rubel. Leibeigene oder "Seelen" wurden
zusammen mit Haushaltungsgegenständen und allen Arten von Gebrauchsartikeln
feilgeboten. Nur einige Beispiele seien hier genannt: "Zu verkaufen: Ein
Barbier nebst vier Bettstellen, einer Daunendecke und anderer häuslicher
Habe." "Zu verkaufen: Bankett Tischtücher sowie Zwei gelernte Mädchen
und ein Bauer". "Zu verkaufen: Ein sechzehnjähriges gutartiges Mädchen
und ein nur wenig gebrauchter Wagen". [<20] Dieser abscheuliche Handel
blühte zu keiner Zeit der russischen Geschichte mehr als in den "aufgeklärten"
Tagen Katharinas, genau so wie die Vergnügungssucht in keiner anderen
Epoche ausschweifendere Formen zeigte."
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"Der Widerspruch zwischen dieser traurigen Wirklichkeit
und den liberalen Ideen, die von der Kaiserin verkündet wurden, oder
der Außenseite des russischen Ruhms ist niederschmetternd. Die lange
Regierungsperiode Katharinas (1762-1796) wird auch als das goldene Zeitalter
Rußlands beschrieben, Katharina selbst als "aufgeklärte Despotin"
bezeichnet. Und es besteht kein Zweifel, daß sie selbst am eifrigsten
bemüht war, die Welt - Zeitgenossen wie Nachwelt - sie und ihr Werk
in diesem Licht sehen zu lassen. Sie scheute keine Anstrengung, um einen
günstigen Eindruck hervorzurufen, und sie hatte dabei in hohem Maße
Erfolg. Dies war auf verschiedene Gründe zurückzuführen.
Ihr Talent, sich in der Öffentlichkeit beliebt zu machen, war einzigartig.
Sie betrachtete das Sich beliebt machen als einen wesentlichen Teil der
Regierungskunst, und man kann sagen, daß sie diese Kunst wahrlich
in hohem Maße beherrschte. Während ihrer ganzen Regierungszeit
zeichnete sie sich nicht nur dadurch aus, daß sie es geschickt verstand,
auf nationaler wie auf internationaler Grundlage ihre eigene Beliebtheit
zu fördern, sondern auch dadurch, daß sie andere dafür
gewann, ihr dabei behilflich zu sein. Ihre unzähligen Manifeste und
Verlautbarungen an das russische Volk - zum Beispiel jene nach der Absetzung
ihres Gatten, als sie selbst den Thron an sich riß - könnten
jeder modernen Pressekampagne zum Vorbild dienen.
Die Meinung des Auslandes lag ihr ständig am
Herzen. Öfter ließ sie von ihren Reden oder Gesetzesvorlagen,
die auch außerhalb Rußlands Eindruck machen sollten, Übersetzungen
in fremde Sprachen herstellen und im Ausland verteilen. Andrerseits war
sie jedoch klug genug, um die Grenzen ihres Eigenlobes zu erkennen, und
wußte, daß ihre Monologe, so elegant und überzeugend sie
auch waren, nicht allein die Wirkung erzielen konnten, die sie im Sinne
hatte. Schon lange vorher war es ihr gelungen, eine ganze Schar von begeisterten
Anhängern [<21] in allen führenden Ländern zu gewinnen,
die durch ihr maßgebendes Urteil die eigenen Äußerungen
der Kaiserin bekräftigten. Sie erreichte das, indem sie mit den größten
und einflußreichsten Persönlichkeiten ihrer Zeit regelmäßige
Korrespondenzen führte - ein geistiger Austausch, der ihr zweifellos
viel Vergnügen bereitete, den sie aber auch bewußt dazu benutzte,
diese Persönlichkeiten zu willfährigen und unverdächtigen
Förderern ihrer 'öffentlichen Beliebtheit' zu machen. Mit erstaunlicher
Energie und Ausdauer schrieb sie ihnen in kurzen Zeitabständen, erläuterte
ihre Ideen, diskutierte mit ihnen über politische Ideologien, die
damals gerade Mode waren, und vor allen Dingen schilderte sie ihnen in
allen Einzelheiten ihre eigenen Taten und in Aussicht genommenen Pläne.
Außer dieser regelmäßigen Übermittlung von Informationen
bat sie von Zeit zu Zeit ganz offen, bestimmte Erklärungen in ihrem
Interesse abzugeben oder zu verbreiten, und das wurde besorgt. Sie fand
außerdem Gefallen daran, durch dieses Sprachrohr "Europa zu sagen",
was sie von Europa hielt. Die bloße Aufzählung der Männer,
mit denen sie im regelmäßigen Briefwechsel stand, dröhnt
von großen Namen wie ein französischer Trommelwirbel: Voltaire,
Diderot, D'Alembert, der kosmopolitische und überall auftauchende
Fürst von Ligne, Madame Geoffrin, Madame Bjelke, Friedrich der Große,
Kaiser Joseph II. von Österreich und viele andere. Doch der Mann,
mit dem sie in erster Linie korrespondierte und der im 18. Jahrhundert
ungefähr das war, was heute ein persönlicher Presseagent ist,
war Friedrich Melchior Grimm, ein in Paris lebender Deutscher, ein eitler
Schwätzer, der sich auf dem Gebiet internationaler Beziehungen betätigte.
Grimm gab die "Literarische Korrespondenz" heraus, eine Art Rundschreiben
oder Zeitschrift, die er einigen wenigen bevorzugten einflußreichen
Abonnenten für ein stattliches Honorar zustellte. Lange Jahre hindurch
war Katharina bei weitem seine beste Abnehmerin. Er verbrachte sogar einige
Zeit an ihrem Hofe in Petersburg."
<suchbegriff site:www.sgipt.org>
Beispiel: <Herrscher
site:www.sgipt.org>
Hier gibt Ihnen die Suchmaschine aus, auf welchen IP-GIPT Seiten der Suchbegriff "Herrscher" vorkommt. |
korrigiert: