Russische Zustände zur Zeit Katharinas II.
nach Michael Bakunin
Aus: Bakunin, Michael (1849). Der Adel. In: Russische Zustände.
Leipzig: Matthes.
Neu aufgelegt 1996: Karin
Kramer-Verlag, Berlin. (S. 73-
aufbereitet von Rudolf Sponsel, Erlangen
Der Adel. Wie über Heer und Volk, so hat man im Auslande auch über die
Aristokratie Rußlands die irrigsten Ansichten, die durch falsche
Auffassungen von Schriftstellern über Rußland und berechnete
Behauptungen russischer Schriftsteller genährt, die abgeschmacktesten
Sagen über die Macht und Hoheit dieser Aristokratie und die Abhängigkeit
des Kaisers von ihr gebären. Wir werden diese Vorstellungen von Grund
aus zerstören, indem wir eine gedrängte Uebersicht der Entstehung
und Geschichte des russischen Adels geben. Das, was man die russische Aristokratie
nennt, bildete sich auf folgende Weise:
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die Söhne des Erblassers theilte, stiegen manche Fürstenfamilien
zu blosen Gutsbesitzern herab, von ihrer sonstigen Größe nur
den Namen bewahrend. Diesen von innerem Zwiespalt zerrissenen Komplex größerer
und kleinerer Fürstenthümer warf der Tartarensturm in der Schlacht
an der Kalka (31. Mai 1223 [EN59]) mit leichter Mühe über den
Haufen und stellten alle unter das gleiche Joch [EN60]. Allmälig aber
stieg unter der tartarischen Herrschaft die Macht und das Ansehen der von
Wladimir hernbergezogenen Großfürsten von Moskau und
zwar durch zwei ganz verschiedene zusammenwirkende Ursachen. Die Großfürsten
erkannten sehr bald ihre Machtlosigkeit gegen die Tartaren, zugleich aber
die noch größere Ohnmacht der übrigen Fürsten. Mit
der bis auf den heutigen Tag den Zaren verbliebenen Diolomatie spielten
die Großfürsten die ergebensten Untertha[<]nen der tartarischen
Khane und wußten durch Schmeichelei und Kriecherei bald eine Art
Agentur über die Fürsten Rußlands zu erlangen, kraft deren
sie Abgaben einzutreiben hatten und als Schiedsrichter in inneren Streitigkeiten
anerkannt wurden. Sehen wir, wie die russische Diplematie noch jetzt bedacht
ist, Vermittlerrollen zu spielen, wie sie auf diese Weise Polen, Georgien
erworben hat, wie sie auf die Moldau und Walachei, Griechenland, die Pforte
[EN61] drückt, wie sie ihren Einfluß auf Deutschland geltend
zu machen weiß, so begreifen wir, wie gut ihr Spiel gegen die kleinen,
von den Tartaren ohnehin niedergehaltenen Fürsten Rußlands gelingen
mußte. Das war die erste Schule der russischen Diplematie, von hier
datirt der Fluch, der auf Rußlands Politik haftet. Die Großfürsten
Moskaus legten den ersten Grund zur Zentralisation Rußlands. Dazu
half ihnen außer der eigenen Schlauheit noch ein Umstand, noch ein
Bundesgenosse, das Volk. Unter der Gewalt der Tartaren und dem Drucke seiner
Fürsten zugleich seufzend, deren Gewalt nur durch die unantastbare
patriarchalische und traditionelle Gemeindeordnung, die einzige Verfassung
Rußlands, beschränkt war, durch welche die Bauern das Nutznießungsrecht
vom Boden, der dem Herrn gehörte, und die Freizügigkeit hatten,
sehnte sich dasVolk nach Befreiung von dieser Last, und da es die Unmöglichkeit
einsah, in dieser Zersplitterung sich gegen die Tartaren zu erheben, so
begünstigte es instinktmäßig die Machtvergrößerung
der Großfürsten auf Kosten der übrigen Grundherren. Während
so die Zentralisationsbestrebungen Moskaus sich immer mehr mit Erfolg krönten,
verfielen die tartarischen Gewaltherrscher in dieselbe Spaltung und Zerrissenheit,
durch welche ihnen Rußland unterlegen war, und die Großfürsten
benutzten dies, um das tartarische Joch endlich abzuschütteln [EN62].
Vollständig wurde dies Ziel und die Zentralisation des Reiches erreicht
unter Iwan III. und IV. (dem Schrecklichen) von 1462 bis 1584 [EN63], durch
Eroberung von Nowgorod, Pskow etc. und durch die völlige Niederwerfung
der Fürstengeschlechter. Unter dem Namen Bojaren aus unabhängigen
Fürsten zu blosen Höflingen und Beamten der Groß[<74]fürsten
geworden, verdummt und verknechtet schon unter der tartarischen Herrschaft,
mit wenig ehrenvollen Ausnahmen roh, beschränkt, abergläubig,
bildeten sie während der Reformen Iwans [IV.] [EN64] den passiven
Widerstand einer gedankenlos am Alten, Hergebrachten hängenden, rath-
und thatlosen Partei, während sie nach Unten, gegen ihre Bauern, die
übermüthigen, grausamen Herren waren. So führten sie selbst
ihren Untergang herbei. Denn noch war im Volke die Liebe für die Zaren
mächtig, die es von den Tartaren frei gemacht hatte, und in Iwan dem
Schrecklichen fand die Diplomatie der russischen Großfürsten
ihren kräftigsten Ausdruck. Seine eigenen Gelüste nach Unumschränktheit
und Machtvergrößerung hinter seine Sorgfalt für das Volk
versteckend, schlug er unter dessen Jubelruf die tyrannischen Bojaren in
Massen todt und befestigte so seine Macht durch Schrecken und Liebe zugleich.
Wie treu diese Sympathie des Volkes mit den Zaren aushielt, beweist am
besten der Volksaufstand gegen die Polen zur Zeit der falschen Demetrier
[EN65] im Jahrhunderte und die aus dem Volkswillen hervorgegangene Wahl
der Romanows auf den Thron der Zare. [EN66] Wir haben zur Charakteristik
dieser Aristokratie, ihres stumpfsinnigen Hindämmerns in einer wahrhaft
chinesischen Hierarchie, ihres kleinlichen, lächerlichen Ehrgefühls
für Rangbeleidigungen und ihrer hündischen Niederträchtigkeit
nur einen Beweis noch zu liefern. Es ist dies eine Anekdote aus einem der
langweiligsten Bücher der Welt, aus der Regierungschronik des Großfürsten
Alexis Michalowitsch [EN67], worin täglich mit der ganzen Pedanterie
des Orients jeder Tritt und Schritt des Zaren berichtet wird, mit derselben
Ernsthaftigkeit, womit Scheherezade die Kleidung der Frauen beschreibt
und die Geschenke aufzählt und doch das so wichtig und unterhaltend
hält, daß ihr der Sultan das Leben schenken muß. [EN68]
Eines Tages fand an der Tafel des Alexis ein Streit zweier Bojaren um den
höheren Ehrenplatz statt. Eine Weile ließ sich das der Großfürst
gefallen, dann vertheilte er die Sessel nach Gutdünken. Der vermeintlich
in seiner Ehre Gekränkte warf sich dem Fürsten zu Füßen,
wälzte sich unter der Tafel [<75] und heulte und schrie: Laß
mich tödten, aber entehre meine Familie nicht. Alexis hatte ein besseres
Mittel; er ließ den Stammbaum versessenen Narren in den Hof führen,
ihm ein paar Hundert Stocktiebe aufzählen — und als dieser wieder
eintrat, setzte er sich ganz beruhigt auf den vorher verschmähten
Platz. Das ist dieAristokratie jener Zeit. Diese lächerlichen Streitigkeiten
und chinesischen Dummheiten kehrten aber so oft wieder, daß Alexis
Nachholger Fedor III. zu dem heilsamen Despotenstreiche griff, die Rangbücher
der adligen Familien auf die sich alle Streitigkeiten gründeten, unter
dem Vorwande einer Revision zusammenbringen und verbrennen zu lassen.[EN69]
Den Todesstoß versetzte aber der alten Aristokratie Peter der Große
[EN70] durch seine eigenmächtigen Befehle über Scheeren des Bartes,
Einführung der bisher asiatisch eingesperrten Frauen in die Gesellschaften
u. dgl. und durch Begründung eines neuen, des Dienst oder
Klassenadels, wonach in dritter Generation der Adel verloren geht,
wenn weder Vater noch Sohn im Staatsdienst ein Militär oder Zivilamt
verwaltet haben. Dies und die Ernennung einer Menge verdienter Ausländer
reizte die Altadeligen zu den vielen Aufständen gegen Peter, dessen
Reformen sie dem abergläubigen Volke als irreligiös vorstellten.
Die Erfolglosigkeit dieses Widerstandes ist bekannt.
Unter Peter I. bis Katharina II. bildete sich aus diesem Adel zugleich eine neue Aristokratie, die der mächtigen Höflinge, deren Stützpunkt in den Regimentern der Garde lag, in denen die Söhne und Verwandten jener Familien die Offizierstellen bekleideten. Soviel aber auch die Kaisergeschichte Rußlands von der Thätigkeit dieser Aristokratie unter Peter II., Anna, Elisabeth, Peter III. zu erzählen weiß, die Masse des Landadels stand fast in gar keinem Zusammenhange mit den das Reich erschütternden nächtlichen Unternehmungen derselben. Bei alle diesen Palastintriguen und Palastrevolutionen blieb der übrige Adel unbetheiligt und ließ den Höflingen völlig freies Feld. Gleichwohl hatte diese Hofaristokratie tüchtige energische Männer aufzuweisen, meist aus der Schule Peters des Großen, Nationalrussen und Ausländer; zu ihr gehörten die Men[<76]tschikow, Mün[ni]ch, Ostermann [EN71] u.[nd] A[ndere]. Unter der Regierung Katharinens nimmt aber diese Aristokratie, durch die Kaiserin begünstigt, eine verfeinerte Gestalt an, indem ihre Mitglieder durch deutsche und französische Literatur sich bildeten und tüchtige staatsmännische Talente hervorbrachten, »erlauchte Herren (Welmoschy [EN72]«, wie man sie nennt, ausgezeichnet durch selbstständiges Auftreten. Zu ihnen gehören die Potemkin, Rumjanzow, Orlow, Bestuchew, und wenigstens durch seine rauhe Selbstständigkeit Suworow. [EN73] Katharina, die nur eine aristokratische Freiheit kannte, von den Rechten des Bauern aber so wenig wissen wollte, daß gerade unter ihr die bis dahin freien Bauem der Ukraine leibeigen wurden [EN74], beabsichtigte die Erhebung des Adels zu einer wahren Aristokratie. Zu diesem Zwecke bewilligte sie ihm politische Rechte [EN75] (d.h. das Recht, seine Marschälle selbst zu ernennen, Richter zu wählen, keineswegs aber in dem Sinne Rechte, daß der Adel gegen sie, die Kaiserin, opponiren durfte), ließ in den verschiedenen Gouvernements Bibliotheken anlegen und schuf wirklich in diesem bisher noch ziemlich ungeleckten Adel eine, wenn auch noch oberflächliche Politur und ein gewisses Gefühl eigner Würde. Aber wie alle Einrichtungen, warf der Haß Pauls [EN76] gegen seine Mutter auch diese Hebungsversuche des Adels wieder um. Er gefiel sich in seiner autokratischen Verrücktheit, die Menschenwürde überall niederzutreten und Alles in beständiger Furcht, Unsicherheit und Abhängigkeit zu erhalten. Das ging soweit, daß das Volk und dabei selbst Gardeoffiziere in Uniform lieber in die Kanäle liefen und sich dort einstweilen versteckten, als daß sie dem Wagen des Kaisers begegnen und vor ihm in den Koth fallen wollten. So weit, daß die diensthabenden Offiziere der Garde sich stets mit Geld versahen, da sie nie wußten, ob nicht der Weg aus dem Schlosse einer Laune Pauls zufolge nach Sibirien führte; schickte er doch einmal wegen schlechten Manövers ein ganzes Kavalerieregiment vom Platze weg nach Sibirien, bis es unterwegs wieder zurückgerufen wurde. Die Ermordung dieses Kaisers war ein Freudenfest für den Adel in ganz Rußland, [<77] besonders in Moskau, wo man sich beglückwiinschte, weil man die größten Hoffnungen auf den von Laharpe erzogenen Großfürsten Alexonder [EN77] setzte, die sich auch erfüllten, indem längere Zeit hindurch fast gar keine Zensur existirte und die Schriften des Auslandes lebhaft studirt werden durften. |
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