Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    Abteilung Politische Psychologie - Bereich Politische Geschichte -  Präambel
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    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
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    Willkommen in der Abteilung Allgemeine und Integrative Politische Psychologie, Abteilung Politische Geschichte, Rußland (einschließlich UdSSR), hier zum Thema:

    Russische Zustände zur Zeit Katharinas II.
    nach Michael Bakunin

    Aus: Bakunin, Michael (1849). Der Adel. In: Russische Zustände. Leipzig: Matthes.
    Neu aufgelegt 1996: Karin Kramer-Verlag, Berlin. (S. 73-

    aufbereitet von Rudolf Sponsel, Erlangen

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    III.
    Der Adel.

    Wie über Heer und Volk, so hat man im Auslande auch über die Aristokratie Rußlands die irrigsten Ansichten, die durch falsche Auffassungen von Schriftstellern über Rußland und berechnete Behauptungen russischer Schriftsteller genährt, die abgeschmacktesten Sagen über die Macht und Hoheit dieser Aristokratie und die Abhängigkeit des Kaisers von ihr gebären. Wir werden diese Vorstellungen von Grund aus zerstören, indem wir eine gedrängte Uebersicht der Entstehung und Geschichte des russischen Adels geben. Das, was man die russische Aristokratie nennt, bildete sich auf folgende Weise:
        Vor dem Einfall der Tartaren war ganz RuBland in eine Menge kleiner Fürstenthümer getheilt, deren Häupter, aus einem Stamme hervorgegangen, wohl die Großfürsten von Kiew und später von Wladimir [EN57] als Stammhaupt anerkannten, sonst aber sich durch diese Verwandtschaft von blutigen Kriegen gegen einander nicht abhalten ließen, wobei das Ansehen der Großfürsten I wenig beachtet wurde. In Folge des patriarchalischen Zustandes, der keine [EN58] Majorate in den Familien gestattete und die Besitzung immer wieder unter 
     

    die Söhne des Erblassers theilte, stiegen manche Fürstenfamilien zu blosen Gutsbesitzern herab, von ihrer sonstigen Größe nur den Namen bewahrend. Diesen von innerem Zwiespalt zerrissenen Komplex größerer und kleinerer Fürstenthümer warf der Tartarensturm in der Schlacht an der Kalka (31. Mai 1223 [EN59]) mit leichter Mühe über den Haufen und stellten alle unter das gleiche Joch [EN60]. Allmälig aber stieg unter der tartarischen Herrschaft die Macht und das Ansehen der von Wladimir hernbergezogenen Großfürsten von Moskau und zwar durch zwei ganz verschiedene zusammenwirkende Ursachen. Die Großfürsten erkannten sehr bald ihre Machtlosigkeit gegen die Tartaren, zugleich aber die noch größere Ohnmacht der übrigen Fürsten. Mit der bis auf den heutigen Tag den Zaren verbliebenen Diolomatie spielten die Großfürsten die ergebensten Untertha[<]nen der tartarischen Khane und wußten durch Schmeichelei und Kriecherei bald eine Art Agentur über die Fürsten Rußlands zu erlangen, kraft deren sie Abgaben einzutreiben hatten und als Schiedsrichter in inneren Streitigkeiten anerkannt wurden. Sehen wir, wie die russische Diplematie noch jetzt bedacht ist, Vermittlerrollen zu spielen, wie sie auf diese Weise Polen, Georgien erworben hat, wie sie auf die Moldau und Walachei, Griechenland, die Pforte [EN61] drückt, wie sie ihren Einfluß auf Deutschland geltend zu machen weiß, so begreifen wir, wie gut ihr Spiel gegen die kleinen, von den Tartaren ohnehin niedergehaltenen Fürsten Rußlands gelingen mußte. Das war die erste Schule der russischen Diplematie, von hier datirt der Fluch, der auf Rußlands Politik haftet. Die Großfürsten Moskaus legten den ersten Grund zur Zentralisation Rußlands. Dazu half ihnen außer der eigenen Schlauheit noch ein Umstand, noch ein Bundesgenosse, das Volk. Unter der Gewalt der Tartaren und dem Drucke seiner Fürsten zugleich seufzend, deren Gewalt nur durch die unantastbare patriarchalische und traditionelle Gemeindeordnung, die einzige Verfassung Rußlands, beschränkt war, durch welche die Bauern das Nutznießungsrecht vom Boden, der dem Herrn gehörte, und die Freizügigkeit hatten, sehnte sich dasVolk nach Befreiung von dieser Last, und da es die Unmöglichkeit einsah, in dieser Zersplitterung sich gegen die Tartaren zu erheben, so begünstigte es instinktmäßig die Machtvergrößerung der Großfürsten auf Kosten der übrigen Grundherren. Während so die Zentralisationsbestrebungen Moskaus sich immer mehr mit Erfolg krönten, verfielen die tartarischen Gewaltherrscher in dieselbe Spaltung und Zerrissenheit, durch welche ihnen Rußland unterlegen war, und die Großfürsten benutzten dies, um das tartarische Joch endlich abzuschütteln [EN62]. Vollständig wurde dies Ziel und die Zentralisation des Reiches erreicht unter Iwan III. und IV. (dem Schrecklichen) von 1462 bis 1584 [EN63], durch Eroberung von Nowgorod, Pskow etc. und durch die völlige Niederwerfung der Fürstengeschlechter. Unter dem Namen Bojaren aus unabhängigen Fürsten zu blosen Höflingen und Beamten der Groß[<74]fürsten geworden, verdummt und verknechtet schon unter der tartarischen Herrschaft, mit wenig ehrenvollen Ausnahmen roh, beschränkt, abergläubig, bildeten sie während der Reformen Iwans [IV.]  [EN64] den passiven Widerstand einer gedankenlos am Alten, Hergebrachten hängenden, rath- und thatlosen Partei, während sie nach Unten, gegen ihre Bauern, die übermüthigen, grausamen Herren waren. So führten sie selbst ihren Untergang herbei. Denn noch war im Volke die Liebe für die Zaren mächtig, die es von den Tartaren frei gemacht hatte, und in Iwan dem Schrecklichen fand die Diplomatie der russischen Großfürsten ihren kräftigsten Ausdruck. Seine eigenen Gelüste nach Unumschränktheit und Machtvergrößerung hinter seine Sorgfalt für das Volk versteckend, schlug er unter dessen Jubelruf die tyrannischen Bojaren in Massen todt und befestigte so seine Macht durch Schrecken und Liebe zugleich. Wie treu diese Sympathie des Volkes mit den Zaren aushielt, beweist am besten der Volksaufstand gegen die Polen zur Zeit der falschen Demetrier [EN65] im Jahrhunderte und die aus dem Volkswillen hervorgegangene Wahl der Romanows auf den Thron der Zare. [EN66] Wir haben zur Charakteristik dieser Aristokratie, ihres stumpfsinnigen Hindämmerns in einer wahrhaft chinesischen Hierarchie, ihres kleinlichen, lächerlichen Ehrgefühls für Rangbeleidigungen und ihrer hündischen Niederträchtigkeit nur einen Beweis noch zu liefern. Es ist dies eine Anekdote aus einem der langweiligsten Bücher der Welt, aus der Regierungschronik des Großfürsten Alexis Michalowitsch [EN67], worin täglich mit der ganzen Pedanterie des Orients jeder Tritt und Schritt des Zaren berichtet wird, mit derselben Ernsthaftigkeit, womit Scheherezade die Kleidung der Frauen beschreibt und die Geschenke aufzählt und doch das so wichtig und unterhaltend hält, daß ihr der Sultan das Leben schenken muß. [EN68] Eines Tages fand an der Tafel des Alexis ein Streit zweier Bojaren um den höheren Ehrenplatz statt. Eine Weile ließ sich das der Großfürst gefallen, dann vertheilte er die Sessel nach Gutdünken. Der vermeintlich in seiner Ehre Gekränkte warf sich dem Fürsten zu Füßen, wälzte sich unter der Tafel [<75] und heulte und schrie: Laß mich tödten, aber entehre meine Familie nicht. Alexis hatte ein besseres Mittel; er ließ den Stammbaum versessenen Narren in den Hof führen, ihm ein paar Hundert Stocktiebe aufzählen — und als dieser wieder eintrat, setzte er sich ganz beruhigt auf den vorher verschmähten Platz. Das ist dieAristokratie jener Zeit. Diese lächerlichen Streitigkeiten und chinesischen Dummheiten kehrten aber so oft wieder, daß Alexis Nachholger Fedor III. zu dem heilsamen Despotenstreiche griff, die Rangbücher der adligen Familien auf die sich alle Streitigkeiten gründeten, unter dem Vorwande einer Revision zusammenbringen und verbrennen zu lassen.[EN69] Den Todesstoß versetzte aber der alten Aristokratie Peter der Große [EN70] durch seine eigenmächtigen Befehle über Scheeren des Bartes, Einführung der bisher asiatisch eingesperrten Frauen in die Gesellschaften u. dgl. und durch Begründung eines neuen, des Dienst  oder Klassenadels, wonach in dritter Generation der Adel verloren geht, wenn weder Vater noch Sohn im Staatsdienst ein Militär oder Zivilamt verwaltet haben. Dies und die Ernennung einer Menge verdienter Ausländer reizte die Altadeligen zu den vielen Aufständen gegen Peter, dessen Reformen sie dem abergläubigen Volke als irreligiös vorstellten. Die Erfolglosigkeit dieses Widerstandes ist bekannt.

         Unter Peter I. bis Katharina II. bildete sich aus diesem Adel zugleich eine neue Aristokratie, die der mächtigen Höflinge, deren Stützpunkt in den Regimentern der Garde lag, in denen die Söhne und Verwandten jener Familien die Offizierstellen bekleideten. Soviel aber auch die Kaisergeschichte Rußlands von der Thätigkeit dieser Aristokratie unter Peter II., Anna, Elisabeth, Peter III. zu erzählen weiß, die Masse des Landadels stand fast in gar keinem Zusammenhange mit den das Reich erschütternden nächtlichen Unternehmungen derselben. Bei alle diesen Palastintriguen und Palastrevolutionen blieb der übrige Adel unbetheiligt und ließ den Höflingen völlig freies Feld. Gleichwohl hatte diese Hofaristokratie tüchtige energische Männer aufzuweisen, meist aus der Schule Peters des Großen, Nationalrussen und Ausländer; zu ihr gehörten die Men[<76]tschikow, Mün[ni]ch, Ostermann [EN71] u.[nd] A[ndere]. Unter der Regierung Katharinens nimmt aber diese Aristokratie, durch die Kaiserin begünstigt, eine verfeinerte Gestalt an, indem ihre Mitglieder durch deutsche und französische Literatur sich bildeten und tüchtige staatsmännische Talente hervorbrachten, »erlauchte Herren (Welmoschy [EN72]«, wie man sie nennt, ausgezeichnet durch selbstständiges Auftreten. Zu ihnen gehören die Potemkin, Rumjanzow, Orlow, Bestuchew, und wenigstens durch seine rauhe Selbstständigkeit Suworow. [EN73]

         Katharina, die nur eine aristokratische Freiheit kannte, von den Rechten des Bauern aber so wenig wissen wollte, daß gerade unter ihr die bis dahin freien Bauem der Ukraine leibeigen wurden [EN74], beabsichtigte die Erhebung des Adels zu einer wahren Aristokratie. Zu diesem Zwecke bewilligte sie ihm politische Rechte [EN75] (d.h. das Recht, seine Marschälle selbst zu ernennen, Richter zu wählen, keineswegs aber in dem Sinne Rechte, daß der Adel gegen sie, die Kaiserin, opponiren durfte), ließ in den verschiedenen Gouvernements Bibliotheken anlegen und schuf wirklich in diesem bisher noch ziemlich ungeleckten Adel eine, wenn auch noch oberflächliche Politur und ein gewisses Gefühl eigner Würde. Aber wie alle Einrichtungen, warf der Haß Pauls [EN76] gegen seine Mutter auch diese Hebungsversuche des Adels wieder um. Er gefiel sich in seiner autokratischen Verrücktheit, die Menschenwürde überall niederzutreten und Alles in beständiger Furcht, Unsicherheit und Abhängigkeit zu erhalten. Das ging soweit, daß das Volk und dabei selbst Gardeoffiziere in Uniform lieber in die Kanäle liefen und sich dort einstweilen versteckten, als daß sie dem Wagen des Kaisers begegnen und vor ihm in den Koth fallen wollten. So weit, daß die diensthabenden Offiziere der Garde sich stets mit Geld versahen, da sie nie wußten, ob nicht der Weg aus dem Schlosse einer Laune Pauls zufolge nach Sibirien führte; schickte er doch einmal wegen schlechten Manövers ein ganzes Kavalerieregiment vom Platze weg nach Sibirien, bis es unterwegs wieder zurückgerufen wurde. Die Ermordung dieses Kaisers war ein Freudenfest für den Adel in ganz Rußland, [<77] besonders in Moskau, wo man sich beglückwiinschte, weil man die größten Hoffnungen auf den von Laharpe erzogenen Großfürsten Alexonder [EN77] setzte, die sich auch erfüllten, indem längere Zeit hindurch fast gar keine Zensur existirte und die Schriften des Auslandes lebhaft studirt werden durften.



    Anmerkungen und Endnoten
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    Aufbereitet zum besseren Verständnis der Psychopathographien Potemkins und Katharinas II. sollen die "russischen Zustände" für diese Zeit erschlossen werden. Hierzu werden Texte aus verschiedenen Quellen zusammengestellt u.a. die hier präsentierten Russischen Zustände des Adels nach Michael Bakunin. Siehe auch Russische Zustände nach Georges Soloveytchik und Materialien zur Justiz in Rußland zur Zeit Katharinas II.
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    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    tt.mm.jj

    Querverweise
    Standort: Russische Zustände nach Michael Bakunin.
    Russische Zustände nach Georges Soloveytchik
    Materialien zur Justiz in Rußland zur Zeit Katharinas II.
    War Potemkin ein Hochstapler? Gab es die potemkinschen Dörfer wirklich?
    Überblick Geschichte in der IP-GIPT.
    Psychpathographien von Herrschern (Überblick).

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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Russische Zustände zur Zeit Katharinas II. nach Michael Bakunin. Abteilung Politische Psychologie, Geschichte, Rußland. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/politpsy/gesch/russl/ruzuk2b.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Die Rechte dieser Bakunin-Ausgabe liegen beim Karin Kramer-Verlag, Berlin, der uns freundlicherweise am 31.5.2005 eine Abdruckgenehmigung erteilt hat. Soweit Sie längere - und damit womöglich das Urheberrecht berührend - Texte übernehmen möchten, wenden Sie sich bitte zur Erlaubnis an den Karin Kramer-Verlag, Berlin.


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