Materialien zur Justiz in Rußland zur Zeit Katharinas
II. 1)
Nach und aus:
Kaiser, Friedhelm B. (1972). Die Justiz vor den Reformen.
In: Die russische Justizreform von 1864. Zur Geschichte der russischen
Justiz von Katharina II. bis 1917. Studien zur Geschichte Osteuropas. Herausgegeben
von W. Philipp (Berlin) und P. Scheibert (Marburg). Leiden: Brill, S. 1-4.
mit freundlicher Genehmigung des E.J.
Brill-Verlages in Leiden, Niederlande
[Aufbereitet von Rudolf Sponsel, Erlangen]
"KAPITEL I
DIE JUSTIZ VOR DEN REFORMEN
Das Ziel der Reformarbeiten auf dem Gebiet des Justizwesens zu Beginn
der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts war die Aufhebung des bestehenden
Justizsystems durch eine Neuorganisation der Gerichte und des Prozeßverfahrens,
durch welche dem einzelnen Rechtssicherheit gewährleistet werden sollte.
Der Kampf um die Justizreform wird daher nur verständlich, wenn der
Ausgangspunkt der Reform, nämlich die Mängel des alten Justizwesens
und die Unzufriedenheit fast aller Kreise der Bevölkerung mit denselben,
dargestellt wird.
Die Grundlagen für Gerichtsverfassung und Prozeßverfahren
hatte Katharina II. mit der Gouvernementsordnung vom 7. November 1775 1)
und der Städteordnung von 1785 2) gelegt, deren
Bestimmungen im wesentlichen für Gerichte, Prokuratur, Ermittlungsbehörden
usw. bis zu den Justizgesetzen des Jahres 1864 Geltung behielten 3).
Nur auf einzelnen Gebieten wurden Abänderungen und Ergänzungen
vorgenommen, durch welche die Prinzipien des Überkommenen nicht angetastet
wurden 4).
I. DIE GERICHTSVERFASSUNG
a) Die Vermischung der Gewalten
Das Hauptgebrechen der Gerichte vor den Reformen in Rußland war die Vermischung der Gewalten. Eine Gewaltentrennung, welche die Funktionen der Legislative, der Exekutive und der Justiz scharf voneinander abgegrenzt hätte, bestand nicht; dieser Mangel machte sich besonders unheilvoll auf dem Gebiet der Rechtspflege bemerkbar, die sich in einer kaum vorstellbaren Abhängigkeit von der Verwaltung befand 5). Zu dieser extremen Vermischung der [<2] Gewalten in Rußland hat die Entwicklung des Leibeigenschaftssystems entscheidend beigetragen, das der gesamten russischen Verwaltung seinen Stempel aufgedrückt hatte 1).
Erste Ansätze zur Überwindung der Vermischung von exekutiver und richterlicher Gewalt (im Original gesperrt gedruckt), die dem Moskauer Rußland zu eigen war 2), kann man in der Einsetzung von Landrichtern durch Peter den Großen im Jahre 1711 sehen. Doch auch bei ihnen blieben richterliche Aufgaben und Verwaltungsfunktionen vereint. Überdies wurde das Amt schon 1719 aufgehoben 3). Auch Katharina II., die Schülerin Montesquieus, hatte die Lehre von der Gewaltentrennung im Nakaz vom 8. April 1768 propagiert 4). Doch diese Ausführungen blieben rein deklaratorisch; in ihrer Gesetzgebung hat sie dieses Prinzip nicht berücksichtigt.
Dies zeigt besonders die Stellung, die der Gouverneur auf Grund der Gouvernementsordnung von 1775 erhielt und die ihm trotz der Neufassung dieses Gesetzes aus dem Jahre 1837 5) für die Justiz bis zu den Justizgesetzen des Jahres 1864 belassen blieb. Wenn in der Gouvernementsordnung von 1775 in § 82 festgestellt wurde, daß der Gouverneur nicht Richter sei, so bedeutete diese Bestimmung nur eine formale Trennung von Exekutive und Rechtsprechung 6). Der Einfluß des Gouverneurs auf die Gerichte seines Gouvernements war so groß, daß durchweg keine richterliche Entscheidung gegen seinen Willen ergehen konnte 7).
Durch die Gouvernementsordnung wurde dem Gouverneur die Bestätigung der ständisch gewählten Richter übertragen. Hierdurch hatte er einen entscheidenden Einfluß auf den Personalbestand der Gerichte 8). Das galt nicht nur für die Kreisgerichte und Magistrate, sondern auch für die Gerichtskammern 9), zumal seit der Zeit Nikolaus' I. auch die Vorsitzenden der Gerichtskammern vom Adel gewählt und vom Gouverneur bestätigt wurden 10). Dieses Bestätigungsrecht des Gouverneurs gab ihm die Möglichkeit, nur [<3] ihm ergebene und genehme Personen als Richter zuzulassen. Die Machtfülle des Gouverneurs ging in der Praxis zuweilen soweit, daß er sich in das Wahlverfahren der ständischen Korporationen einmischte und Anweisungen über die zu wählenden Personen erließ 1).
In einigen Fällen, in denen der Angeklagte durch ein Kriegsgericht abgeurteilt werden mußte, stand sogar die Einsetzung des Gerichtes und die Wahl des Vorsitzenden und der Mitglieder des Gerichtes im Ermessen des Gouverneurs. Andere Strafrechtsfälle waren direkt der Gouvernementsregierung unterstellt 2),
Darüber hinaus besaß der Gouverneur die Dienstaufsicht über die Gerichte seines Amtsbereiches. Er revidierte diese Gerichte, stellte Dienstzeugnisse für die Richter aus und schlug Richter zu Beförderungen und Anerkennungen vor. Außerdem konnte er gegen sie leichtere Disziplinarstrafen verhängen und ein Strafverfahren einleiten 3). Manche Gouverneure entließen ohne besondere Begründung nach eigenem Ermessen unliebsame Richter. So enthob im Verlauf von drei Jahren der Gouverneur von Smolensk 189 Adlige ihres Richteramtes 4). Die Abhängigkeit der Richter vom Wohlwollen des Gouverneurs führte allgemein zur Abhängigkeit der Gerichtsbehörden von der Gouvernementsverwaltung 5).
Daneben standen dem Gouverneur verschiedene Wege offen, auf das gerichtliche Verfahren selbst einzuwirken. So konnte er allen Gerichten — außer den Gerichtskammern — bestimmte Weisungen geben, welche ausgeführt werden mußten 6).
Besonders stark war der Einfluß des Gouverneurs auf das Strafverfahren. Das der Polizei übertragene Ermittlungsverfahren stand unter seiner Aufsicht 7). Er entschied darüber, ob eine Sache weiter zu ermitteln sei und gegebenenfalls eine besondere Kommission das Ermittlungsverfahren führen solle 8). Er konnte die Prokuratur auffordern, ein Strafverfahren vor der Strafkammer anhängig zu machen 9). Dasselbe Recht stand der Gouvernementsregierung für die Eröffnung eines Strafverfahrens vor den übrigen Gerichten [<3] zu 1). Außerdem überwachte der Gouverneur das Strafverfahren vor den Gerichten selbst 2). Die Strafurteile der Gewissensgerichte, der Kreisgerichte und der Strafkammern waren dem Gouverneur zur Bestätigung vorzulegen. Gegebenfalls konnte er die Ausführung eines Urteils aussetzen und das Strafverfahren vor dem Senat anhängig machen 3). Er konnte in einigen Fällen nach Erlaß eines Urteils ein neues Ermittlungsverfahren und ein neues gerichtliches Verfahren bestimmen. Das neu ergangene Urteil mußte ihm wiederum zur Bestätigung vorgelegt werden 4). In einigen Fällen hatte er sogar das Recht, die im Strafurteil ausgesprochenen Strafen zu mildern, sie zuweilen vollkommen abzuändern 5). Auch die Kontrolle der Vollstreckung von Gerichtsurteilen lag in den Händen des Gouverneurs bzw. der Gouvernementsregierung 6).
Diese Rechte verleiteten viele Gouverneure, auch außerhalb des gesetzlichen Rahmens auf die Rechtsprechung der Gerichte einzuwirken. Kurz vor den Reformen der sechziger Jahre setzte ein Gouverneur eigenmächtig eine strafrechtliche Untersuchungskommission ein und mischte sich ständig in das Prozeßverfahren der Strafkammer ein 7); ein anderer Gouverneur wollte den Vorsitzenden einer Gerichtskammer in Archangel'sk mit Brachialgewalt zu einer bestimmten Entscheidung zwingen. Nur durch Flucht konnte sich der Arme dem Stock des Gouverneurs entziehen 8). In einem anderen Fall war vom Handelsgericht als zweiter Instanz gegen den Generalgouverneur von Petersburg, A. A. Suvorov, ein Urteil erlassen worden. Kurzerhand ließ dieser alle Mitglieder des Gerichtes verhaften. Erst auf Intervention Nikolaus' I. wurden die Richter freigelassen. Suvorov entschuldigte sich damit, er habe den Haftbefehl unbesehen unterschrieben 9). Es war fast allgemein das Bestreben der Gouverneure, über die ihnen gesetzlich gewährten Möglichkeiten hinaus in den Gang der Rechtsprechung einzugreifen 10).
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korrigiert: irs 08.06.05