SGIPT
    Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT DAS=02.08.2001

    Anfang Geschichte Psy.Kranker_ Überblick __ Rel. Aktuelles __Rel. Beständiges __Titelblatt__  Konzept__Archiv __ Region__Service-iec-verlag__Mail: sekretariat@sgipt.org __ Zitierung  &  Copyright __
    Diskussion (nur für Fachkundige mit entsprechender Interessenlage: Anmeldung erforderlich): GIPT-ADEIS@egroups.de

    Willkommen in der Abteilung Medizinische Psychosomatik, Psychoapathologie und Psychiatrie

    Die Geschichte der Versorgung psychisch Kranker

         
        Häfner, Heinz (2000). Die Geschichte der Versorgung psychisch Kranker. In: Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt, S. 58-65. München: C.H. Beck. Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages. Ein sehr informatives Werk zu allen Aspekten der Krankheit. Fachbiographische Daten.
        Zum Reader: Falsche Vorstellungen über die Ursachen der Schizophrenie. Reader: Was ist nun eigentlich Schizophrenie? Reader: Die nationalsozialistische Ära 


    "1904 schrieb Kraepelin:

        'Wollen wir nunmehr auch der schweren Verblödungsformen gedenken, wie sie die große Masse unserer Anstaltsinsassen ausmachen: Ihnen ist gemeinsam die Vernichtung der einheitlichen psychischen Persönlichkeit, die Ausscheidung der Kranken aus der geistigen Gemeinschaft und ihrer Umgebung.'
        Ungewollt bringt er mit diesen Worten zweierlei zum Ausdruck: Er beschreibt, ohne es zu wissen, das soziale Stigma, das auf den Kranken lastete und sie aus der geistigen Gemeinschaft und aus der realen Gesellschaft ihrer Tage ausschloß. Er läßt zugleich erkennen, daß die Beobachtungen, auf deren Grundlage er sein Dementia- praecox- Konzept entwickelt hatte, an asylierten Patienten mit Dementia praecox gewonnen waren, die damals einen großen Teil der Insassen psychiatrischer Anstalten stellten. Er machte seine Beobachtungen an einem ganz bestimmten Ausschnitt der Krankheit, der durch eine extrem einseitige, das Leben der Kranken bestimmende Umweltsituation charakterisiert war. Damit sind wir bei der Geschichte der Versorgung psychisch Kranker angekommen.
        Das Bewußtsein, daß es sich bei Menschen, die unter Wahnvorstellungen und ähnlichem leiden, um Kranke handelt, die einer eigenen Versorgung bedürfen, hat sich historisch erst langsam entwickelt. In vielen Städten des Mittelalters existierte jenseits der von ihren Familien oder von Spitälern der Orden, Zünfte, Stiftungen oder Städte versorgten Alten, «Gebrechlichen» und «Siechen» eine Restkategorie von Fürsorgebedürftigen, die sich aus Straffälligen, psychisch kranken und nicht anderweitig versorgten pflegebedürftigen Personen zusammensetzte. Sie waren zumeist nicht in die bürgerlichen Hospitäler oder Stadtasyle aufgenommen worden. Teilweise waren diese Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft gemeinsam in Armen- oder Zuchthäusern untergebracht worden. [>59]

        Es existieren allerdings auch einige frühe Beispiele einer getrennten humaneren Unterbringung psychisch Kranker, etwa im unter Heinrich III. 1247 erstmals gegründeten Bethlehem Royal Hospital in London oder in den Spitälern, die Landgraf Philipp I., «der Großmütige», von Hessen im 16.Jahrhundert in den Klöstern Philippsburg, Goddelau, Eichberg und Haina einrichtete. Diese Klöster waren den katholischen Orden nach der Reformation weggenommen worden und boten sich so zur alternativen Nutzung an. Im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit mit ihren häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen, mit Hungersnöten und Epidemien mag das Leben in der Sicherheit dieser Spitäler für manche Kranken besser gewesen sein als der Verbleib in der Obhut einer verarmten, kranken oder weitgehend ausgerotteten Familie. Der Verbleib in der Anstalt währte jedoch in der Regel viele Jahre, wenn nicht lebenslang.
        Ein großer Teil der Hilfsbedürftigen unter den Kranken war zu Hause verblieben und vor allem in bäuerlichen Großfamilien beschäftigt und versorgt worden. Noch im 19. Jahrhundert berichteten Geisteskrankenzählungen in Schweden, Norwegen oder im Thurgau - die letztere ist auf der Basis der erhaltenen Aufzeichnungen vom Zürcher Psychiater Klaus Ernst 1983 veröffentlicht worden - über Zahl und Lebenssituation psychisch Kranker in der Bevölkerung. Das Bild, das sie vermittelten, entsprach den gesellschaftlichen und zivilisatorischen Lebensbedingungen ihrer Zeit.
        Ein Teil der Kranken lebte damals in Asylen oder Pflegeheimen höchst unterschiedlicher Qualität. Von jenen Kranken, die bei ihren Familien lebten, waren viele in Lebensalltag und Familiengemeinschaft integriert. Doch war auch das Gegenteil nicht selten: Kranke, die in verschmutzten stallähnlichen Verschlägen oder auf andere Weise unter unwürdigen und unerträglichen Bedingungen gehalten wurden. Die Autoren, die diese Erhebungen durchgeführt hatten, forderten alle die Errichtung staatlicher Asyle - die psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten, wie sie später hießen -, um den pflegebedürftigen psychisch Kranken eine humane und würdige Unterbringung und Beschäftigung zu gewähren.
        Die einschneidende Wende in der Versorgung psychisch Kranker und damit auch in der Unterbringung Schizophrener trat erst im Zusammenhang mit dem Übergang von der überwiegend ländlichen großfamiliären Agrargesellschaft zur verstädterten Industriegesellschaft im Laufe des letzten Jahrhunderts ein. Kleine Ein- Generationen- Familien außer Hauses Arbeitender waren nicht mehr in der Lage, kranken und pflegebedürftigen Angehörigen langfristige Unterbringung mit sinnvoller Beschäftigung und persönlicher Pflege zu gewähren. Der Bedarf an psychiatrischen Pflegeanstalten wuchs mit Industrialisierung und Ver[>60] städterung vor allem gegen Ende des letzten Jahrhunderts und Anfang dieses Jahrhunderts steil an.
        Es kam also im 19. Jahrhundert darauf an, die Familien kostengünstig von der Versorgung ihrer kranken Mitglieder zu entlasten und die Kranken selbst mit sinnvollen Beschäftigungsmöglichkeiten unterzubringen. Wie nach der Reformation, so standen auch nach dem Reichsdeputationshauptschluß 1803 und der nachfolgenden Säkularisierung zahlreiche Klöster in landschaftlich reizvoller Umgebung zur Verfügung, die einer sinnvollen Verwendung zugeführt werden mußten. Sie boten sich für die Einrichtung psychiatrischer Anstalten geradezu an. Einmal konnte man so Familienleben und Gewissen von der stark belastenden Versorgung eines «Verrückten» entlasten und diesen Störfaktor humanen Händen in der Ferne überantworten, zum anderen boten die großen Landwirtschaften und Werkstätten der Klöster ideale Beschäftigungsmöglichkeiten für langfristig untergebrachte, arbeitsfähige Kranke. Natürlich waren diese ländlichklösterlichen Idylle nicht mit Allgemeinkrankenhäusern verbunden. Die Folge dieses historischen Geschehens war deshalb die Ansiedlung psychiatrischer Krankenhäuser außerhalb der Ballungszentren der Bevölkerung und getrennt von den Krankenhäusern aller übrigen medizinischen Disziplinen.
        Die zweite Errichtungswelle psychiatrischer Heil- und Pflegeanstalten traf zudem auf eine ideologische Entwicklung, die unglücklicherweise den Trend zur Ausgrenzung und Isolierung psychiatrischer Krankenhäuser noch verstärkte. In der Tradition des deutschen Idealismus und seiner pädagogischen Ideen hatte schon Immanuel Kant die Behandlung der Verrückten für die Philosophen reklamiert. Er hielt die Mediziner nicht für kompetent, die in ihrer Vernunft entordneten Kranken wieder in die natürlichen Regeln geordneten Denkens zurückzuführen.
        Der Heidelberger Psychiater C.F.W. Roller (1802-1878) übersetzte diese Tradition in eine eigene Ideologie der psychiatrischen Versorgung. Er war der Überzeugung, daß psychische Krankheit, und nach seiner Beschreibung ist darunter in erster Linie die Schizophrenie zu verstehen, eine Folge belastender Lebensbedingungen sei. Deswegen müsse der Kranke von seiner pathogenen Umwelt isoliert werden. Sein entordneter, verworrener Geist müsse die Gelegenheit bekommen, in der ideal geordneten Umwelt einer psychiatrischen Anstalt, die vom Bauplan bis zur Hierarchie des Personals diese Ordnung atmet und sie pädagogisch umsetzt, wieder zur rechten Ordnung zurückfinden. 1831, im Alter von 29 Jahren, schrieb Roller:
     

      «Jeder Seelengestörte muß von den Personen getrennt werden, mit welchen er früher Umgang pflog. Er muß an einen anderen, ihm unbekannten Ort verbracht werden; die, welche ihn pflegen, müssen ihm fremd sein. Er muß, mit einem Wort gesagt, isoliert werden.»


    [61] Diese Philosophie hat Roller nicht nur in die Alltagspraxis seines Umgangs mit Kranken, sondern auch in die geographische Lage und Architektur der Pflegeanstalten umzusetzen versucht. Nach seinen Vorstellungen wurde die Musteranstalt Illenau in Baden (1837-1842) geplant und 1842 in Betrieb genommen. Sie wurde in idyllisch ländlicher Umgebung in gleicher Entfernung von den Universitätsstädten Freiburg und Heidelberg errichtet.
        Roller, der aus Heidelberg kam, hatte schon im Alter von 26 Jahren seinen Chef und Vorgänger Gross zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Amt gebracht und war danach zum ärztlichen Leiter des psychiatrischen Asyls der Stadt bestellt worden. Nach 1842, als Leiter der von ihm geplanten neuen badischen Anstalt Illenau berufen, verweigerte er die praktische Ausbildung der Heidelberger und Freiburger Medizinstudenten im Fach Psychiatrie. Er war überzeugt, daß Studenten in ganz besonderer Weise ungünstige Einflüsse in die Anstalt bringen und die pädagogische Atmosphäre stören würden.
        Der Bauplan der Anstalt Illenau spiegelt die Ordnung und Harmonie wider, die seinem Schöpfer vorschwebte: Symmetrisch konstruiert mit Direktion und Kirche in der Mitte, schließen sich links der Flügel der Frauenabteilung und rechts der Flügel der Männerabteilung an.
        Idealistische Systeme, inspiriert vom Geist der Zeit, die ein großes, mit vielen offenen Fragen belastetes Problem aus einem Guß zu lösen schienen, besaßen stets eine hohe Verführungskraft. Die Ideen Rollers und ihre Verwirklichung in der Anstalt Illenau wurden so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weltweit zum bewunderten und vielfach wiederholten Modell psychiatrischer Anstalten. Dabei spielte auch die Anziehungskraft echter Reformideen eine bedeutsame Rolle, denn Roller hatte sich energisch bemüht, die Anwendung körperlicher ZwangsmaBnahmen, die bis dahin gang und gäbe war, überflüssig zu machen und aus der «modernen» psychiatrischen Anstalt zu verbannen («No restraint»-Bewegung).
        Psychiater, Bauleute und Ministerialbeamte aus vielen Ländern pilgerten zur Illenau, kopierten ihre Pläne und errichteten im eigenen Land den klosterähnlichen Typus einer psychiatrischen Anstalt fernab von den Ballungszentren der Bevölkerung, konstruiert nach Prinzipien von Ordnung und Symmetrie und organisiert als abgeschlossene Welt hierarchisch gegliederter Autorität. Bei aller damaligen «Modernität» der von Auflklärung und Säkularisation beeinflußten Ideen spiegelt die «reformierte» psychiatrische Anstalt Rollers ihre klösterliche Vorgeschichte unverkennbar wider. Nicht nur Topographie und Bauplan, sondern auch Rollers Vorstellungen über das Leben in den Anstalten erinnern an die klösterlichen Lebensformen weltabgeschiedener Ordensgemeinschaften. [>62]

        Die weitere Geschichte der psychiatrischen Pflegeanstalten spiegelt die leidvollen Schicksale jener Frauen und Männer wider, die in der Folgezeit an Schizophrenie erkrankten und in den genannten Institutionen zur Aufnahme kamen. Das Kernproblem der Psychiatrie jener Zeit, das zugleich das Unglück der Kranken und das Handicap ihrer Arzte und Versorgungseinrichtungen war, bestand darin, daß es keine wirksame Behandlung für die Krankheit gab. Da aber die Schizophrenie überwiegend in unregelmäBig auftretenden psychotischen Episoden mit mehr oder minder langen symptomarmen oder -freien Intervallen verläuft, weist nur ein kleiner Teil der Kranken eine dauerhafte, mit Pflege- oder Unterstützungsbedürftigkeit verbundene Beeinträchtigung auf. Man hätte deshalb auch damals schon die meisten Kranken nach Abklingen ihrer Psychose wieder nach Hause schicken können und sollen. Aber dem standen schwer überwindbare Hindernisse im Wege.

    «Orte des Vergessens»

    Die erste Gruppe der Hindernisse war gesellschaftlicher Natur: Da die schizophrene Psychose als unverständlich und unheimlich empfunden wurde, erweckte sie bei vielen Scheu und Ängste. Hinzu kam, daß unaufgeklärte und unverständliche Gewaltverbrechen weniger den normalen Menschen wie «Du und ich», sondern gern den «unberechenbaren» Verrückten zugeschrieben wurden und noch werden. So festigte sich die Überzeugung, daß Geisteskranke im allgemeinen und Schizophrene im besonderen unberechenbar und gefährlich seien. Dieses soziale Stigma, das den Kranken, aber auch den Einrichtungen, in denen sie untergebracht wurden, anhaftet, hat die Weise, wie die Krankheit damals gesehen, beurteilt und behandelt wurde, zweifellos entscheidend beeinflußt. Wir werden das Thema an späterer Stelle von seinen wissenschaftlichen Grundlagen und seiner gegenwärtigen Bedeutung her noch einmal aufgreifen (s. S. 171 ff.).
        Die zweite Gruppe von Hindernissen war das gering ausgebildete Bedürfnis vieler Familien, ihre «verrückten» Angehörigen nach dem Abklingen der Psychose aus der Anstalt wieder zurückzunehmen. Auch die «gesunde» Bevölkerung neigte dazu, sich die Kranken und die Last ihrer Versorgung vom Halse zu halten. Die bequemsten Orte der Unterbringung waren Orte des Vergessens. Vergessen wurden die Kranken in den psychiatrischen Anstalten im Laufe der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nicht nur von vielen Angehörigen, sondern auch von der Öffentlichkeit, von Gemeinden, Städten, Regierungen. Erst dieser historische Sachverhalt macht verständlich, was den Kranken mit den Erbgesundheitsgesetzen und dem Euthanasieprogramm angetan werden konnte. [63]
        Ein folgenschwerer Faktor, der die historische Entwicklung der psychiatrischen Krankenhäuser bis in unser Jahrhundert hinein mit bestimmte, waren die direkten Folgen des Bevölkerungswachstums. In den europäischen Ländern und zumal in Deutschland wuchsen Lebenserwartung und Bevölkerung durch die sinkende Säuglings-, Kinder-und Müttersterblichkeit und aufgrund der sich allgemein verbessernden Lebensbedingungen von etwa 1865 an kontinuierlich an. Das bedeutete, daß auch die Anzahl der an Schizophrenie leidenden Kranken erheblich zu wachsen begann. Arbeiterfamilien waren, wie schon erwähnt, kaum noch in der Lage, ein erkranktes oder seelisch schwer behindertes Mitglied sinnvoll zu pflegen. Sie lebten meist in beengten Wohnverhältnissen, konnten keine Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten und meist auch keine ganztägige Aufsicht übernehmen. Die Heil- und Pflegeanstalten waren, um die enormen Versorgungsbedürfnisse abzudecken, regional organisiert und verpflichtet worden, jeden Kranken aufzunehmen, der aus ihrem Einzugsgebiet zugewiesen wurde und der Krankenhausbehandlung bedurfte.
        In den letzten zwei Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts setzte aus den angesprochenen Gründen ein großer Zustrom von Kranken in psychiatrische Krankenhäuser ein. 1877 wiesen die öffentlichen psychiatrischen Anstalten des Deutschen Reiches 33.023, 1904 jedoch bereits 101.951 Insassen auf (Blasius 1994, 1997). Diese Zahlen sind allerdings unzuverlässig, denn 1905 werden für die Irrenanstalten Preußens allein bereits 114.443 Insassen angegeben. Am steil ansteigenden Trend aber besteht kein Zweifel.
        Da die psychisch Kranken mit ihrer Unterbringung in den Anstalten meist aus den Augen der Regierenden und der Öffentlichkeit verschwunden waren, geschah zunächst wenig für die Modernisierung und Erweiterung der Krankenhäuser. Vor allem unterblieben weitgehend die notwendigen Neubauten. So passierte zweierlei: Es kam zu einer unerträglichen Überfüllung der meisten Heil- und Pflegeanstalten oft um das Doppelte der vorgesehenen Kapazität. Die Unterbringungsbedingungen fielen damit weit unter den Lebens- und Wohnstandard der Bevölkerung zurück, so daß sie mit Recht im Zwischenbericht der Enquetekommission der Bundesregierung 1972 als skandalös bezeichnet wurden. Kranke waren in Sälen mit 20 oder 30 Betten untergebracht, hatten ihre Habe in einer Schachtel unter dem Bett zu verstauen und allenfalls am Korridor ein Schrankabteil für die wertvolleren Besitztümer zur Verfügung. Die Sanitäreinrichtungen waren meist unzureichend.
        Die enorme Zunahme der psychisch Kranken in den Heil- und Pflegeanstalten führte vielerorts zu beunruhigenden Folgerungen. So glaubte beispielsweise der Würzburger Ordinarius für Psychiatrie Rieger, und [64] mit ihm viele seiner Kollegen, die Ursache in der raschen Zunahme der Geisteskrankheiten im Volke zu sehen. Diese Meinung, die in zunehmendem Maße in die eugenische Bewegung einging, konnte natürlich nur aus der Naivität eines vom Zeitgeist inspirierten Denkens entspringen, das frei von epidemiologischem Verständnis Krankenhausaufnahmen mit Erkrankungshäufigkeit in der Bevölkerung gleichsetzte und die demographischen und sozialen Prozesse im Hintergrund dieser Entwicklung übersah.

    Mendel, Darwin und die Folgen

    Der Grund für solch intellektuelle Einäugigkeit liegt im Biologismus jener Zeit begründet. Es war die Zeit der Entdeckung von Erbkrankheiten in der Nachfolge von Gregor Mendels genialer Formulierung der Gesetze für die rezessive und dominante Vererbung der «großen» Gene. Diese faszinierenden Entdeckungen, die mit einem großen Aufbruch der biologischen Wissenschaften und mit einem enormen Wissenschaftsoptimismus einhergingen, waren ein geeigneter Stoff für reduktionistische Generalisierung. Im Kontext der Darwinschen Selektionslehre führte die Entdeckung, daß die intellektuelle Oberschicht geringe Kinderzahlen, die ungebildete Unterschicht jedoch hohe Reproduktionsraten aufwies, zur Phantasie, der «Volkskörper» würde durch die überwiegende Weitergabe ungünstiger genetischer Ausstattung an der Vermittlung von Fähigkeiten und Begabungen von Generation zu Generation mehr und mehr ausdünnen und der Degeneration anheimfallen. Die Psychiatrie hatte dieser Lehre von der Degeneration des Volkskörpers eine eigene, individuelle «Degenerationslehre» vorausgeschickt, die schon 1853 von Morel erstmals formuliert worden war: Neurasthenie, d. h. eine leichte psychische Abnormität, soll in der nächsten Generation durch genetisch übermittelte Degenerationsprozesse zu Psychosen - etwa der Schizophrenie - und in der übernächsten Generation zu schweren Defekten - etwa zum Schwachsinn - führen.
        So entwickelte sich die der Darwinschen Evolutionstheorie entgegenlaufende, aber breitgestreute Überzeugung, die Befähigten und Begabten im Volke würden mehr und mehr von den genetisch Belasteten und «Minderwertigen» der Zahl nach überholt. Bestärkt durch die Idee, die Kultur habe der Natur die Selektion der biologisch Negativen aus der Hand genommen, und verstärkt durch Nietzsches Philosophie des Kampfes und der Stärke, beherrschten die psychiatrisch-individuelle und die biologisch-völkische Degenerationstheorie zunehmend das pessimistische Denken des Bürgertums jener Periode. Die Antwort darauf war die eugenische Bewegung. Das gilt für Deutschland, die Vereinigten Staaten - die einen besonderen Anstoß aus den niedrigeren IQ-Maßen [>65] der farbigen im Vergleich zur weißen Bevölkerung erfuhren (z. B. Charles Davenport 1866-1944) - ebenso wie für England, Frankreich, die skandinavischen und andere europäische Länder.
        Gegründet wurde die eugenische Bewegung allerdings viel früher und durch keineswegs unseriöse Wssenschaftler. Der Begriff Eugenik selbst geht auf den genialen britischen Statistiker Francis Galton (1822 -1911) zurück, der die Grundideen dazu bereits in seinem Buch «Hereditary Genius» (1869) niedergelegt hatte. Galton war ein Cousin von Charles Darwin. 1909 kam es vor diesem Hintergrund zur Gründung der «Eugenic Society» in London. 1910 richtete der Direktor des «Genetischen Laboratoriums» (USA) - aus dem später die Entdeckung der DNA-Doppelhelix durch die Nobelpreisträger Watson und Crick hervorging -, Charles B. Davenport, eine «Eugenics Research Station» ein. Sie sollte die Bevölkerungsentwicklung in den USA unter eugenischen Gesichtspunkten Davenports und seines Vizedirektors Harry P. Laughlin beobachten sowie die Fortpflanzung wertvoller Genträger aktiv befördern. So wurden «Eugenic Booths» auf der staatlichen Farmmesse 1920 eingerichtet mit dem Ziel, zur Züchtung begabter Nachkommen geeignete Familien zu vermitteln - wie auf einem Viehmarkt -, ein klassischer Vorläufer von Himmlers «Lebensborn»-Bewegung. Die Einführung einer staatlichen Fortpflanzungskontrolle von «geistig unstabilen oder unterentwickelten» Personen hatte Davenport schon 1911 gefordert. Er glaubte, dies sei durch die Isolierung von geistig behinderten Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter zu erreichen, keineswegs ein humaner oder freiheitlich demokratischer Vorschlag.
        Das demokratische Parlament und die Regierung der USA waren einigermaßen immun gegen die pseudowissenschaftliche Ideologie und Radikalität solcher Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bevölkerung. Dennoch breitete sich eine Bewegung zur Zwangssterilisierung, von den Ideen der Volkskörper-Eugenik getragen, über die ganze entwickelte Welt aus. Sie führte in mehr als 20 Ländern zu entsprechenden Gesetzen noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Diese genetische Laienphilosophie ging in die «völkische» Philosophie des Nationalsozialismus ein und trug zur geistigen Vorbereitung von Hitlers eugenisch-rassistischer Herrenmenschenideologie bei." [siehe bitte: Die nationalsozialistische Ära]


    Zitierung
    Sekretariat SGIPT (DAS). Die Geschichte der Versorgung psychisch Kranker. Reader aus Heinz Häfner: Das Rätsel Schizophrenie, 58-65. München: C.H. Beck  Abteilung Medizinische Psychosomatik, Psychoapathologie und Psychiatrie.  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/medppp/ges-pk.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Die Rechte dieses Readers liegen beim C.H. Beck Verlag, München.

      Endemedppp  Vorlage __Überblick  __Rel. Aktuelles __Rel. Beständiges __Titelblatt__  Konzept__Archiv __ Region__Service-iec-verlag__Mail: sekretariat@sgipt.org __
    Diskussion (nur für Fachkundige mit entsprechender Interessenlage: Anmeldung erforderlich): GIPT-ADEIS@egroups.de