Die Geschichte der Versorgung psychisch Kranker
Häfner,
Heinz (2000). Die Geschichte der Versorgung psychisch Kranker. In:
Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt,
S. 58-65. München: C.H. Beck. Mit freundlicher Genehmigung des C.H.
Beck Verlages. Ein sehr informatives Werk zu allen Aspekten der Krankheit.
Fachbiographische
Daten.
Zum Reader: Falsche Vorstellungen über die Ursachen der Schizophrenie. Reader: Was ist nun eigentlich Schizophrenie? Reader: Die nationalsozialistische Ära |
"1904 schrieb Kraepelin:
'Wollen wir nunmehr auch der schweren Verblödungsformen
gedenken, wie sie die große Masse unserer Anstaltsinsassen ausmachen:
Ihnen ist gemeinsam die Vernichtung der einheitlichen psychischen Persönlichkeit,
die Ausscheidung der Kranken aus der geistigen Gemeinschaft und ihrer Umgebung.'
Ungewollt bringt er mit diesen Worten zweierlei
zum Ausdruck: Er beschreibt, ohne es zu wissen, das soziale Stigma, das
auf den Kranken lastete und sie aus der geistigen Gemeinschaft und aus
der realen Gesellschaft ihrer Tage ausschloß. Er läßt
zugleich erkennen, daß die Beobachtungen, auf deren Grundlage er
sein Dementia- praecox- Konzept entwickelt hatte, an asylierten Patienten
mit Dementia praecox gewonnen waren, die damals einen großen Teil
der Insassen psychiatrischer Anstalten stellten. Er machte seine Beobachtungen
an einem ganz bestimmten Ausschnitt der Krankheit, der durch eine extrem
einseitige, das Leben der Kranken bestimmende Umweltsituation charakterisiert
war. Damit sind wir bei der Geschichte der Versorgung psychisch Kranker
angekommen.
Das Bewußtsein, daß es sich bei Menschen,
die unter Wahnvorstellungen und ähnlichem leiden, um Kranke handelt,
die einer eigenen Versorgung bedürfen, hat sich historisch erst langsam
entwickelt. In vielen Städten des Mittelalters existierte jenseits
der von ihren Familien oder von Spitälern der Orden, Zünfte,
Stiftungen oder Städte versorgten Alten, «Gebrechlichen»
und «Siechen» eine Restkategorie von Fürsorgebedürftigen,
die sich aus Straffälligen, psychisch kranken und nicht anderweitig
versorgten pflegebedürftigen Personen zusammensetzte. Sie waren zumeist
nicht in die bürgerlichen Hospitäler oder Stadtasyle aufgenommen
worden. Teilweise waren diese Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft
gemeinsam in Armen- oder Zuchthäusern untergebracht worden. [>59]
Es existieren allerdings auch einige frühe Beispiele
einer getrennten humaneren Unterbringung psychisch Kranker, etwa im unter
Heinrich III. 1247 erstmals gegründeten Bethlehem Royal Hospital in
London oder in den Spitälern, die Landgraf Philipp I., «der
Großmütige», von Hessen im 16.Jahrhundert in den Klöstern
Philippsburg, Goddelau, Eichberg und Haina einrichtete. Diese Klöster
waren den katholischen Orden nach der Reformation weggenommen worden und
boten sich so zur alternativen Nutzung an. Im späten Mittelalter und
zu Beginn der Neuzeit mit ihren häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen,
mit Hungersnöten und Epidemien mag das Leben in der Sicherheit dieser
Spitäler für manche Kranken besser gewesen sein als der Verbleib
in der Obhut einer verarmten, kranken oder weitgehend ausgerotteten Familie.
Der Verbleib in der Anstalt währte jedoch in der Regel viele Jahre,
wenn nicht lebenslang.
Ein großer Teil der Hilfsbedürftigen
unter den Kranken war zu Hause verblieben und vor allem in bäuerlichen
Großfamilien beschäftigt und versorgt worden. Noch im 19. Jahrhundert
berichteten Geisteskrankenzählungen in Schweden, Norwegen oder im
Thurgau - die letztere ist auf der Basis der erhaltenen Aufzeichnungen
vom Zürcher Psychiater Klaus Ernst 1983 veröffentlicht worden
- über Zahl und Lebenssituation psychisch Kranker in der Bevölkerung.
Das Bild, das sie vermittelten, entsprach den gesellschaftlichen und zivilisatorischen
Lebensbedingungen ihrer Zeit.
Ein Teil der Kranken lebte damals in Asylen oder
Pflegeheimen höchst unterschiedlicher Qualität. Von jenen Kranken,
die bei ihren Familien lebten, waren viele in Lebensalltag und Familiengemeinschaft
integriert. Doch war auch das Gegenteil nicht selten: Kranke, die in verschmutzten
stallähnlichen Verschlägen oder auf andere Weise unter unwürdigen
und unerträglichen Bedingungen gehalten wurden. Die Autoren, die diese
Erhebungen durchgeführt hatten, forderten alle die Errichtung staatlicher
Asyle - die psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten, wie sie später
hießen -, um den pflegebedürftigen psychisch Kranken eine humane
und würdige Unterbringung und Beschäftigung zu gewähren.
Die einschneidende Wende in der Versorgung psychisch
Kranker und damit auch in der Unterbringung Schizophrener trat erst im
Zusammenhang mit dem Übergang von der überwiegend ländlichen
großfamiliären Agrargesellschaft zur verstädterten Industriegesellschaft
im Laufe des letzten Jahrhunderts ein. Kleine Ein- Generationen- Familien
außer Hauses Arbeitender waren nicht mehr in der Lage, kranken und
pflegebedürftigen Angehörigen langfristige Unterbringung mit
sinnvoller Beschäftigung und persönlicher Pflege zu gewähren.
Der Bedarf an psychiatrischen Pflegeanstalten wuchs mit Industrialisierung
und Ver[>60] städterung vor allem gegen Ende des letzten Jahrhunderts
und Anfang dieses Jahrhunderts steil an.
Es kam also im 19. Jahrhundert darauf an, die Familien
kostengünstig von der Versorgung ihrer kranken Mitglieder zu entlasten
und die Kranken selbst mit sinnvollen Beschäftigungsmöglichkeiten
unterzubringen. Wie nach der Reformation, so standen auch nach dem Reichsdeputationshauptschluß
1803 und der nachfolgenden Säkularisierung zahlreiche Klöster
in landschaftlich reizvoller Umgebung zur Verfügung, die einer sinnvollen
Verwendung zugeführt werden mußten. Sie boten sich für
die Einrichtung psychiatrischer Anstalten geradezu an. Einmal konnte man
so Familienleben und Gewissen von der stark belastenden Versorgung eines
«Verrückten» entlasten und diesen Störfaktor humanen
Händen in der Ferne überantworten, zum anderen boten die großen
Landwirtschaften und Werkstätten der Klöster ideale Beschäftigungsmöglichkeiten
für langfristig untergebrachte, arbeitsfähige Kranke. Natürlich
waren diese ländlichklösterlichen Idylle nicht mit Allgemeinkrankenhäusern
verbunden. Die Folge dieses historischen Geschehens war deshalb die Ansiedlung
psychiatrischer Krankenhäuser außerhalb der Ballungszentren
der Bevölkerung und getrennt von den Krankenhäusern aller übrigen
medizinischen Disziplinen.
Die zweite Errichtungswelle psychiatrischer Heil-
und Pflegeanstalten traf zudem auf eine ideologische Entwicklung, die unglücklicherweise
den Trend zur Ausgrenzung und Isolierung psychiatrischer Krankenhäuser
noch verstärkte. In der Tradition des deutschen Idealismus und seiner
pädagogischen Ideen hatte schon Immanuel Kant die Behandlung der Verrückten
für die Philosophen reklamiert. Er hielt die Mediziner nicht für
kompetent, die in ihrer Vernunft entordneten Kranken wieder in die natürlichen
Regeln geordneten Denkens zurückzuführen.
Der Heidelberger Psychiater C.F.W. Roller (1802-1878)
übersetzte diese Tradition in eine eigene Ideologie der psychiatrischen
Versorgung. Er war der Überzeugung, daß psychische Krankheit,
und nach seiner Beschreibung ist darunter in erster Linie die Schizophrenie
zu verstehen, eine Folge belastender Lebensbedingungen sei. Deswegen müsse
der Kranke von seiner pathogenen Umwelt isoliert werden. Sein entordneter,
verworrener Geist müsse die Gelegenheit bekommen, in der ideal geordneten
Umwelt einer psychiatrischen Anstalt, die vom Bauplan bis zur Hierarchie
des Personals diese Ordnung atmet und sie pädagogisch umsetzt, wieder
zur rechten Ordnung zurückfinden. 1831, im Alter von 29 Jahren, schrieb
Roller:
[61] Diese Philosophie hat Roller nicht nur in die Alltagspraxis
seines Umgangs mit Kranken, sondern auch in die geographische Lage und
Architektur der Pflegeanstalten umzusetzen versucht. Nach seinen Vorstellungen
wurde die Musteranstalt Illenau in Baden (1837-1842) geplant und 1842 in
Betrieb genommen. Sie wurde in idyllisch ländlicher Umgebung in gleicher
Entfernung von den Universitätsstädten Freiburg und Heidelberg
errichtet.
Roller, der aus Heidelberg kam, hatte schon im Alter
von 26 Jahren seinen Chef und Vorgänger Gross zum vorzeitigen Ausscheiden
aus dem Amt gebracht und war danach zum ärztlichen Leiter des psychiatrischen
Asyls der Stadt bestellt worden. Nach 1842, als Leiter der von ihm geplanten
neuen badischen Anstalt Illenau berufen, verweigerte er die praktische
Ausbildung der Heidelberger und Freiburger Medizinstudenten im Fach Psychiatrie.
Er war überzeugt, daß Studenten in ganz besonderer Weise ungünstige
Einflüsse in die Anstalt bringen und die pädagogische Atmosphäre
stören würden.
Der Bauplan der Anstalt Illenau spiegelt die Ordnung
und Harmonie wider, die seinem Schöpfer vorschwebte: Symmetrisch konstruiert
mit Direktion und Kirche in der Mitte, schließen sich links der Flügel
der Frauenabteilung und rechts der Flügel der Männerabteilung
an.
Idealistische Systeme, inspiriert vom Geist der
Zeit, die ein großes, mit vielen offenen Fragen belastetes Problem
aus einem Guß zu lösen schienen, besaßen stets eine hohe
Verführungskraft. Die Ideen Rollers und ihre Verwirklichung in der
Anstalt Illenau wurden so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
weltweit zum bewunderten und vielfach wiederholten Modell psychiatrischer
Anstalten. Dabei spielte auch die Anziehungskraft echter Reformideen eine
bedeutsame Rolle, denn Roller hatte sich energisch bemüht, die Anwendung
körperlicher ZwangsmaBnahmen, die bis dahin gang und gäbe war,
überflüssig zu machen und aus der «modernen» psychiatrischen
Anstalt zu verbannen («No restraint»-Bewegung).
Psychiater, Bauleute und Ministerialbeamte aus vielen
Ländern pilgerten zur Illenau, kopierten ihre Pläne und errichteten
im eigenen Land den klosterähnlichen Typus einer psychiatrischen Anstalt
fernab von den Ballungszentren der Bevölkerung, konstruiert nach Prinzipien
von Ordnung und Symmetrie und organisiert als abgeschlossene Welt hierarchisch
gegliederter Autorität. Bei aller damaligen «Modernität»
der von Auflklärung und Säkularisation beeinflußten Ideen
spiegelt die «reformierte» psychiatrische Anstalt Rollers ihre
klösterliche Vorgeschichte unverkennbar wider. Nicht nur Topographie
und Bauplan, sondern auch Rollers Vorstellungen über das Leben in
den Anstalten erinnern an die klösterlichen Lebensformen weltabgeschiedener
Ordensgemeinschaften. [>62]
Die weitere Geschichte der psychiatrischen Pflegeanstalten spiegelt die leidvollen Schicksale jener Frauen und Männer wider, die in der Folgezeit an Schizophrenie erkrankten und in den genannten Institutionen zur Aufnahme kamen. Das Kernproblem der Psychiatrie jener Zeit, das zugleich das Unglück der Kranken und das Handicap ihrer Arzte und Versorgungseinrichtungen war, bestand darin, daß es keine wirksame Behandlung für die Krankheit gab. Da aber die Schizophrenie überwiegend in unregelmäBig auftretenden psychotischen Episoden mit mehr oder minder langen symptomarmen oder -freien Intervallen verläuft, weist nur ein kleiner Teil der Kranken eine dauerhafte, mit Pflege- oder Unterstützungsbedürftigkeit verbundene Beeinträchtigung auf. Man hätte deshalb auch damals schon die meisten Kranken nach Abklingen ihrer Psychose wieder nach Hause schicken können und sollen. Aber dem standen schwer überwindbare Hindernisse im Wege.
«Orte des Vergessens»
Die erste Gruppe der Hindernisse war gesellschaftlicher Natur: Da die
schizophrene Psychose als unverständlich und unheimlich empfunden
wurde, erweckte sie bei vielen Scheu und Ängste. Hinzu kam, daß
unaufgeklärte und unverständliche Gewaltverbrechen weniger den
normalen Menschen wie «Du und ich», sondern gern den «unberechenbaren»
Verrückten zugeschrieben wurden und noch werden. So festigte sich
die Überzeugung, daß Geisteskranke im allgemeinen und Schizophrene
im besonderen unberechenbar und gefährlich seien. Dieses soziale Stigma,
das den Kranken, aber auch den Einrichtungen, in denen sie untergebracht
wurden, anhaftet, hat die Weise, wie die Krankheit damals gesehen, beurteilt
und behandelt wurde, zweifellos entscheidend beeinflußt. Wir werden
das Thema an späterer Stelle von seinen wissenschaftlichen Grundlagen
und seiner gegenwärtigen Bedeutung her noch einmal aufgreifen (s.
S. 171 ff.).
Die zweite Gruppe von Hindernissen war das gering
ausgebildete Bedürfnis vieler Familien, ihre «verrückten»
Angehörigen nach dem Abklingen der Psychose aus der Anstalt wieder
zurückzunehmen. Auch die «gesunde» Bevölkerung neigte
dazu, sich die Kranken und die Last ihrer Versorgung vom Halse zu halten.
Die bequemsten Orte der Unterbringung waren Orte des Vergessens. Vergessen
wurden die Kranken in den psychiatrischen Anstalten im Laufe der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts nicht nur von vielen Angehörigen,
sondern auch von der Öffentlichkeit, von Gemeinden, Städten,
Regierungen. Erst dieser historische Sachverhalt macht verständlich,
was den Kranken mit den Erbgesundheitsgesetzen und dem Euthanasieprogramm
angetan werden konnte. [63]
Ein folgenschwerer Faktor, der die historische Entwicklung
der psychiatrischen Krankenhäuser bis in unser Jahrhundert hinein
mit bestimmte, waren die direkten Folgen des Bevölkerungswachstums.
In den europäischen Ländern und zumal in Deutschland wuchsen
Lebenserwartung und Bevölkerung durch die sinkende Säuglings-,
Kinder-und Müttersterblichkeit und aufgrund der sich allgemein verbessernden
Lebensbedingungen von etwa 1865 an kontinuierlich an. Das bedeutete, daß
auch die Anzahl der an Schizophrenie leidenden Kranken erheblich zu wachsen
begann. Arbeiterfamilien waren, wie schon erwähnt, kaum noch in der
Lage, ein erkranktes oder seelisch schwer behindertes Mitglied sinnvoll
zu pflegen. Sie lebten meist in beengten Wohnverhältnissen, konnten
keine Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten und meist auch keine
ganztägige Aufsicht übernehmen. Die Heil- und Pflegeanstalten
waren, um die enormen Versorgungsbedürfnisse abzudecken, regional
organisiert und verpflichtet worden, jeden Kranken aufzunehmen, der aus
ihrem Einzugsgebiet zugewiesen wurde und der Krankenhausbehandlung bedurfte.
In den letzten zwei Jahrzehnten des vergangenen
Jahrhunderts setzte aus den angesprochenen Gründen ein großer
Zustrom von Kranken in psychiatrische Krankenhäuser ein. 1877 wiesen
die öffentlichen psychiatrischen Anstalten des Deutschen Reiches 33.023,
1904 jedoch bereits 101.951 Insassen auf (Blasius 1994, 1997). Diese Zahlen
sind allerdings unzuverlässig, denn 1905 werden für die Irrenanstalten
Preußens allein bereits 114.443 Insassen angegeben. Am steil ansteigenden
Trend aber besteht kein Zweifel.
Da die psychisch Kranken mit ihrer Unterbringung
in den Anstalten meist aus den Augen der Regierenden und der Öffentlichkeit
verschwunden waren, geschah zunächst wenig für die Modernisierung
und Erweiterung der Krankenhäuser. Vor allem unterblieben weitgehend
die notwendigen Neubauten. So passierte zweierlei: Es kam zu einer unerträglichen
Überfüllung der meisten Heil- und Pflegeanstalten oft um das
Doppelte der vorgesehenen Kapazität. Die Unterbringungsbedingungen
fielen damit weit unter den Lebens- und Wohnstandard der Bevölkerung
zurück, so daß sie mit Recht im Zwischenbericht der Enquetekommission
der Bundesregierung 1972 als skandalös bezeichnet wurden. Kranke waren
in Sälen mit 20 oder 30 Betten untergebracht, hatten ihre Habe in
einer Schachtel unter dem Bett zu verstauen und allenfalls am Korridor
ein Schrankabteil für die wertvolleren Besitztümer zur Verfügung.
Die Sanitäreinrichtungen waren meist unzureichend.
Die enorme Zunahme der psychisch Kranken in den
Heil- und Pflegeanstalten führte vielerorts zu beunruhigenden Folgerungen.
So glaubte beispielsweise der Würzburger Ordinarius für Psychiatrie
Rieger, und [64] mit ihm viele seiner Kollegen, die Ursache in der raschen
Zunahme der Geisteskrankheiten im Volke zu sehen. Diese Meinung, die in
zunehmendem Maße in die eugenische Bewegung einging, konnte natürlich
nur aus der Naivität eines vom Zeitgeist inspirierten Denkens entspringen,
das frei von epidemiologischem Verständnis Krankenhausaufnahmen mit
Erkrankungshäufigkeit in der Bevölkerung gleichsetzte und die
demographischen und sozialen Prozesse im Hintergrund dieser Entwicklung
übersah.
Mendel, Darwin und die Folgen
Der Grund für solch intellektuelle Einäugigkeit liegt im Biologismus
jener Zeit begründet. Es war die Zeit der Entdeckung von Erbkrankheiten
in der Nachfolge von Gregor Mendels genialer Formulierung der Gesetze für
die rezessive und dominante Vererbung der «großen» Gene.
Diese faszinierenden Entdeckungen, die mit einem großen Aufbruch
der biologischen Wissenschaften und mit einem enormen Wissenschaftsoptimismus
einhergingen, waren ein geeigneter Stoff für reduktionistische Generalisierung.
Im Kontext der Darwinschen Selektionslehre führte die Entdeckung,
daß die intellektuelle Oberschicht geringe Kinderzahlen, die ungebildete
Unterschicht jedoch hohe Reproduktionsraten aufwies, zur Phantasie, der
«Volkskörper» würde durch die überwiegende Weitergabe
ungünstiger genetischer Ausstattung an der Vermittlung von Fähigkeiten
und Begabungen von Generation zu Generation mehr und mehr ausdünnen
und der Degeneration anheimfallen. Die Psychiatrie hatte dieser Lehre von
der Degeneration des Volkskörpers eine eigene, individuelle «Degenerationslehre»
vorausgeschickt, die schon 1853 von Morel erstmals formuliert worden war:
Neurasthenie, d. h. eine leichte psychische Abnormität, soll in der
nächsten Generation durch genetisch übermittelte Degenerationsprozesse
zu Psychosen - etwa der Schizophrenie - und in der übernächsten
Generation zu schweren Defekten - etwa zum Schwachsinn - führen.
So entwickelte sich die der Darwinschen Evolutionstheorie
entgegenlaufende, aber breitgestreute Überzeugung, die Befähigten
und Begabten im Volke würden mehr und mehr von den genetisch Belasteten
und «Minderwertigen» der Zahl nach überholt. Bestärkt
durch die Idee, die Kultur habe der Natur die Selektion der biologisch
Negativen aus der Hand genommen, und verstärkt durch Nietzsches Philosophie
des Kampfes und der Stärke, beherrschten die psychiatrisch-individuelle
und die biologisch-völkische Degenerationstheorie zunehmend das pessimistische
Denken des Bürgertums jener Periode. Die Antwort darauf war die eugenische
Bewegung. Das gilt für Deutschland, die Vereinigten Staaten - die
einen besonderen Anstoß aus den niedrigeren IQ-Maßen [>65]
der farbigen im Vergleich zur weißen Bevölkerung erfuhren (z.
B. Charles Davenport 1866-1944) - ebenso wie für England, Frankreich,
die skandinavischen und andere europäische Länder.
Gegründet wurde die eugenische Bewegung allerdings
viel früher und durch keineswegs unseriöse Wssenschaftler. Der
Begriff Eugenik selbst geht auf den genialen britischen Statistiker Francis
Galton (1822 -1911) zurück, der die Grundideen dazu bereits in seinem
Buch «Hereditary Genius» (1869) niedergelegt hatte. Galton
war ein Cousin von Charles Darwin. 1909 kam es vor diesem Hintergrund zur
Gründung der «Eugenic Society» in London. 1910 richtete
der Direktor des «Genetischen Laboratoriums» (USA) - aus dem
später die Entdeckung der DNA-Doppelhelix durch die Nobelpreisträger
Watson und Crick hervorging -, Charles B. Davenport, eine «Eugenics
Research Station» ein. Sie sollte die Bevölkerungsentwicklung
in den USA unter eugenischen Gesichtspunkten Davenports und seines Vizedirektors
Harry P. Laughlin beobachten sowie die Fortpflanzung wertvoller Genträger
aktiv befördern. So wurden «Eugenic Booths» auf der staatlichen
Farmmesse 1920 eingerichtet mit dem Ziel, zur Züchtung begabter Nachkommen
geeignete Familien zu vermitteln - wie auf einem Viehmarkt -, ein klassischer
Vorläufer von Himmlers «Lebensborn»-Bewegung. Die Einführung
einer staatlichen Fortpflanzungskontrolle von «geistig unstabilen
oder unterentwickelten» Personen hatte Davenport schon 1911 gefordert.
Er glaubte, dies sei durch die Isolierung von geistig behinderten Frauen
im fortpflanzungsfähigen Alter zu erreichen, keineswegs ein humaner
oder freiheitlich demokratischer Vorschlag.
Das demokratische Parlament und die Regierung der
USA waren einigermaßen immun gegen die pseudowissenschaftliche Ideologie
und Radikalität solcher Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bevölkerung.
Dennoch breitete sich eine Bewegung zur Zwangssterilisierung, von den Ideen
der Volkskörper-Eugenik getragen, über die ganze entwickelte
Welt aus. Sie führte in mehr als 20 Ländern zu entsprechenden
Gesetzen noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Diese genetische Laienphilosophie
ging in die «völkische» Philosophie des Nationalsozialismus
ein und trug zur geistigen Vorbereitung von Hitlers eugenisch-rassistischer
Herrenmenschenideologie bei." [siehe bitte: Die
nationalsozialistische Ära]