Exkurs:
Die antipsychiatrische Kritik von
Thomas
Szasz am Gutachten zu Ludwig II.
Querverweis: Kritisches zur Antipsychiatrie __ Überblick Ludwig II.
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"Freilich wissen
wir nur allzu gut, daß in Konflikten mit dem Gesetz die Reichen und
Gebildeten sehr viel besser wegkommen als die Armen und Ungebildeten. Gleichwohl
stand die gesamte Tradition des angloamerikanischen Rechts im Zeichen des
Unterfangens, die Rechtsprechung »fair« zu halten. Im Verwahrungsspiel
wird Fair play allerdings klein geschrieben. Genaugenommen ist die Verwahrung,
zum Teil jedenfalls, ein Symptom des Klassenkampfes - zwar nicht genau
im Sinne von Marx, aber immerhin ein Klassenkampf. Zur Verdeutlichung:
Wenn beim Militär ein Offizier einen Rekruten zur psychiatrischen
Beobachtung ins Hospital schickt, so mag sich das wie eine Aufforderung
zu einer medizinischen Begutachtung ausnehmen. In Wirklichkeit steckt dahinter
eine Beschuldigung; es liegt der Verdacht auf eine psychische Krankheit
vor, was soviel heißt, wie eines Vergehens angeklagt zu werden. Der
Offizier, welcher die ärztliche Untersuchung des Rekruten verlangt,
will also sagen: »Dieser Mann ist wahrscheinlich verrückt. Habe
ich recht?« Die Rollen in dieser Situation sind nicht vertauschbar.
Der Rekrut ist außerstande, eine psychiatrische Untersuchung seines
Vorgesetzten zu beantragen.
Da es sich bei
der Verwahrung um ein kraß diskriminierendes Zwangsmittel handelt,
weil die Angehörigen der unteren Schichten in weit größerem
Maß davon betroffen sind als die der oberen, wirft die Teilnahme
der Psychiater beim Verwahrungsvollzug ein besonders bedeutsames moralisches
Problem auf. Indem diese sich nämlich auf solche Praktiken einlassen,
begehen sie ständig eine Art sozialer Ungerechtigkeit. Hierher (wenn
auch nicht spezifisch auf die Psychiatrie gemünzt) gehört Kecskemetis
(1952) Kritik an derartigem Verhalten:
»Sobald
man zu 'prinzipiellem' Verhalten greift, um auszudrücken, daß
eine Gruppe allein Unrecht tut oder erleidet, hört das Verhalten auf,
ethisch zu sein. wer aber sein Handeln auf solchen Maximen gründet,
begeht Verrat am Prinzip der freien Gesellschaft, wie rechtschaffen und
fortschrittlich er sich dabei auch vorkommen mag. « ( Seite 312)
Die Annahme,
die Mitglieder einer Gruppe seien unrechter Handlungen fähig, die
einer anderen aber nicht, findet sich häufig dort, wo der Geisteszustand
eines Menschen zur Diskussion steht. In der Schule können Verwaltung
und Lehrkörper wohl die Schüler aus psychiatrischer Perspektive
mustern, aber nie umgekehrt. Ebenso ist es bei der psychoanalytischen Ausbildung
den unterweisenden und leitenden Analytikern anheimgestellt, ob und inwieweit
die Kandidaten einer weiteren Analyse bedürfen. Auch hier kann der
Student nichts gegen die »psychische Gesundheit« [70] des Lehrers
vorbringen, selbst wenn dieser, etwa aufgrund seiner Senilität, seiner
Aufgabe sichtlich nicht mehr gewachsen ist. In den Gerichtssälen sieht
es nicht anders aus: Da wird nur die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten
auf die Waagschale gelegt, keinesfalls die des Staatsanwalts oder Richters.
Der Fall König Ludwigs II. von Bayern
Verwahrung ist ein alltägliches Vorkommnis. Ich brauche also für die Rechtfertigung oder auch Widerlegung meiner Behauptung nicht lange nach Daten zu suchen. Um die Rolle von sozialer Macht und Stellung bei der Verwahrung deutlich zu machen, wählte ich einen etwas ungewöhnlichen Fall - die Geschichte eines »psychotischen« Königs, den man »eingewiesen« hat. Der Fall hat den Vorteil historischer Distanz; der Leser wird nicht abgelenkt durch Emotionen, wie sie mit aktuellen politischen Ereignissen verbunden sind - man denke nur an eine Diskussion über den Geisteszustand eines Eichmann oder Trujillo.
Im Jahre 1864 wurde König Ludwig II. König von Bayern. Er war ohne elterliche Liebe und Führung aufgewachsen und war völlig unvorbereitet auf die Rolle eines modernen Herrschers.
Er sehnte sich nach intimen Beziehungen, aber sie blieben ihm versagt. Als Homosexueller litt er tief unter seinen sexuellen Begierden, zumal sie seinem römisch-katholischen Glauben zuwiderliefen.
Ludwigs Regierungszeit war ein einziger persönlicher Niedergang, hinab in die tiefste Selbsterniedrigung, bis zur Selbstzerstörung. Er hatte keine Familie, keine Freunde, keine Aufgabe. Sein Kontakt mit der Realität erschöpfte sich in seiner Liebe zur Musik, besonders zur Musik Richard Wagners, und zu überladenen Prachtschlössern, deren er drei errichten ließ. Zweifellos wäre er ohne diese Interessen schon früher desozialisiert und für »schizophren« erklärt worden.
Mehrere Jahre vor den schicksalhaften letzten Ereignissen war Ludwig nicht mehr imstande, auch nur die allernotwendigsten Funktionen eines Monarchen zu versehen. Der Staat wurde vom Ministerpräsidenten und dessen Kabinett regiert. Ministerpräsident Lutz und sein Kabinett beriefen schließlich eine Kommission von namhaften Psychiatern, die den König für geistig unzurechnungsfähig erklären sollte. [71]
In seiner Biographie Ludwigs II. schreibt Werner Richter (1939) über dieses erste psychiatrische Eingreifen folgendes:
»Am Morgen des 8. Juni 1886 schloß der Direktor der Kreisirrenanstalt von Oberbayern, Obermedizinalrat Dr. Bernhard von Gudden, Professor der Psychiatrie in München, den Entwurf eines Gutachtens ab, an dem er fast die ganze Nacht gearbeitet hatte. Um neun Uhr setzte er sich mit den Irrenanstaltsdirektoren Dr. Hagen und Dr. Hubrich und dem Universitätsprofessor Dr. Grashey an den Konferenztisch, und gegen Mittag trug das Gutachten die Unterschriften der vier hochangesehenen Ärzte. Seine Schlußsätze lauteten folgendermaßen:
l. Seine Majestät sind in sehr weit fortgeschrittenem Grade seelengestört, und zwar leiden Allerhöchstdieselben an jener Form von Geistesgestörtheit, die den Irrenärzten aus Erfahrung wohl bekannt mit dem Namen Paranoia (Verrücktheit) bezeichnet wird.
2. Bei dieser Form der Krankheit ihrer allmählichen und fortschreitenden Entwicklung und schon sehr langen, über eine größere Reihe von Jahren sich erstreckenden Dauer ist Seine Majestät für unheilbar zu erklären und noch ein weiterer Verfall der geistigen Kräfte mit Sicherheit in Aussicht.
3. Durch die Krankheit ist die freie Willensbestimmung Seiner Majestät vollständig ausgeschlossen, sind Allerhöchstdieselben als verhindert an der Ausübung der Regierung zu betrachten und wird diese Verhinderung nicht nur länger als ein Jahr, sondern für die ganze Lebenszeit andauern.<
Diese Sätze bedeuteten klipp und klar die Entfernung Ludwigs II. nicht nur vom Thron, sondern aus der Gemeinschaft der Lebenden.« (Seite 349)
Worauf gründete sich diese Bescheinigung der Unzurechnungsfähigkeit des Königs zu jenem Zeitpunkt? Sein sonderbares Verhalten war allgemein bekannt und längst nichts Neues mehr. Überdies waren, wie Richter überzeugend darlegt, »die Gelder, die Ludwig in seinen Bauten verschwendete, ja nicht Staatsgelder und unterlagen daher, streng genommen, gar nicht der ministeriellen Kompetenz« (Seite 361). Ungleich anderen königlichen Verschwendern hielt sich der König nicht an seinem Volk schadlos. Und was die Homosexualität angeht: die hatte noch nie einen europäischen Monarchen vom Regieren abgehalten.
Demnach wurde Ludwigs Verwahrung, wie die meisten Zwangseinweisungen heutzutage, angezettelt, weil der König einigen Mächtigeren im Wege stand - in diesem Fall dem Ministerpräsidenten und dessen Kabinett. Daneben wurde Lutz von hochgestellten preußischen Politikern unterstützt, die in Ludwig einen Hemmschuh für Bismarcks ehrgeizige Pläne zur Vereinigung aller deutschen Staaten sahen. Richter selbst, ein Historiker und Romancier und kein Psychiater, war bestürzt über die »Unzulänglichkeiten« im Gutachten und Vorgehen der Psychiater in [72] diesem Fall (Mir scheint, den Psychiatern mangelte es vor allem an Selbsterkenntnis, weniger an Fachwissen: es entging ihnen, daß sie, vordergründig um eine »Diagnose« Ludwigs befragt, letztlich nur zu seiner Entthronung mißbraucht wurden.) Um welche Unzulänglichkeiten handelte es sich?
Erstens standen alle vier Psychiater als Beamte im Dienst des Staates Sie waren also »in ihrer Existenz von der neuen Staatsgewalt abhängig, die durch ihr Gutachten begründet werden sollte« (Seite 355).
Zweitens hatte keiner von ihnen Ludwig je untersucht. Grashey versuchte das später damit zu erklären, daß bei einer psychiatrischen Untersuchung des Königs »für die nächste Zeit wohl jede Aktion hätte unterbleiben müssen«. Das hielt Richter für wenig stichhaltig, »denn das würde ja heißen, eine frühe, unsichere Diagnose einer späteren, sicheren vorzuziehen, ohne daß die Verspätung mehr bedeutet hätte, als einen schon Jahre lang bestehenden Zustand noch etwas länger hinzufristen« (Seite 355).
Drittens nennt Gudden die Beweismittel »erdrückend«, obgleich sie ausschließlich indirekter Art waren. Sie waren alles andere als erdrückend. Sie bestanden zum Teil aus Protokollen über Vernehmungen von Personen aus der unmittelbaren Umgebung des Königs und zum Teil aus schriftlichen Äußerungen von Ludwig selbst. Diese hatte man, wie Bismarck bemerkte, »aus Papierkorb und Klosett gesammelt«, und sie konnten kein Todesurteil über Ludwig bestätigen«. (Seite 355; Hervorhebung vom Verfasser)
Viertens stammten die belastenden Aussagen gegen Ludwig vom Stallmeister und anderen Lakaien. Jahrelang hatten sie sich mit den Absonderlichkeiten des Königs abfinden müssen, plötzlich witterten sie eine Chance, ihrem Groll gegen ihn Luft zu machen. Vielleicht fühlten sie auch, »daß sie durch recht farbenreiche Auskünfte der eigenen Zukunft nur dienen konnten« (Seite 356).
Nachdem der König für verrückt und daher für regierungsunfähig erklärt worden war, stand die Kommission vor dem Problem die Konsequenzen der Diagnose in die Tat umzusetzen.
Im Verein mit Mitgliedern des Kabinetts begaben sich die Psychiater nach Neuschwanstein, wo der König sich gerade aufhielt. Zunächst wurden sie gar nicht vorgelassen und sogar von den königlich-bayerischen Gendarmen, die ihrem König nach wie vor die Treue hielten, verhaftet und über Nacht festgehalten.
Doch am nächsten Tag befanden sich die Psychiater und ihre Begleiter wieder auf freiem Fuß und nahmen den König in ihren [73] Gewahrsam. Am 11. Juni brachte man ihn nach Schloß Berg, das man eigens für ihn in eine psychiatrische Klinik verwandelt hatte. Richter zufolge muß Ludwig sich durchaus im klaren darüber gewesen sein, daß »seine Gefangenschaft immer dauern werde, weil die, die ihn gefangen hielten, ja seine Rache zu fürchten hätten, und man ihn schließlich wohl töten werde« (Seite 390). Zwei Wege blieben Ludwig offen. Er konnte sich in sein Schicksal fügen und sich von seinen Ärzten und Wärtern lebenslang als ein harmloser, chronischer Verrückter einsperren lassen: damit wäre es seinen Feinden gelungen, ihn beiseite zu räumen, als Menschen auszulöschen, ohne ihn jedoch tatsächlich umzuhringen und sich mit Schuld zu beladen.
Es blieb ihm aber auch die Möglichkeit, sich zu wehren - er konnte sich in einem letzten Akt von Selbstbestimmung behaupten und den Freitod wählen. Ludwig beschritt diesen zweiten Weg. Zwei Tage nach seiner Ankunft in Schloß Berg unternahm er mit Dr. Gudden einen Spaziergang. In einem unbeobachteten Moment versuchte er sich in dem an das Schloß angrenzenden See zu ertränken. Als ihn der Psychiater daran hindern wollte, nahm er ihn mit in den Tod.
Welche Lehre können wir aus dem Fall Ludwigs II. ziehen? Die Geisteskrankheit des Königs und seine Gefangennahme stehen beispielhaft für viele aktuelle Probleme der psychiatrischen Diagnose und Behandlung. Da Leo Alexanders (1954) Meinung in dieser Angelegenheit der meinen fast diametral entgegengesetzt ist, sollte sein Kommentar aufschlußreich sein.
Auf ihrem Weg nach Neuschwanstein verhielten sich die Psychiater so, als wäre der König bereits ein psychiatrischer Patient. Für sie ging es lediglich noch darum, ihn in ein »Hospital« zu schaffen. Aber Ludwig wehrte sich und fügte sich nicht in die Rolle des psychiatrischen Patienten - zuerst, indem er den Psychiatern den Zutritt verweigerte, dann, indem er Selbstmord beging. Alexander bemerkt:
»Da die Kommission (aus vier Psychiatern) ohne Militäreskorte angereist war, um ihren Respekt für den König zu bekunden und jedes Anzeichen von Zwang und Gewaltsamkeit zu vermeiden, mußte sie unverrichteter Dinge abziehen und zur weiteren Beratung nach Hohenschwangau zurück.« (Hervorhebung vom Verfasser; Seite 101)
Das Bestreben der Psychiater, den Anschein des Zwanges zu vertuschen, läßt das Problem der Macht erkennen, auf das ich schon früher angespielt habe. Zwar gelang es den Psychiatern nicht, den »Patienten« über das Zwanghafte der Situation hinweg- [74] zutäuschen, dafür waren sie aber um so erfolgreicher mit ihrem Selbstbetrug, und das mit tragischen Konsequenzen. Natürlich gab es einen guten und ganz und gar unmedizinischen Grund, offene Gewaltanwendung zu scheuen. Noch war Ludwig König. Unverhohlene Aggression gegen ihn hätte die Mitglieder der Kommission unter Umständen selbst in physische Gefahr gebracht.
Nach Alexanders Meinung hätte sich auch Ludwigs Selbstmord vermeiden lassen, wenn man den König nur anders behandelt hätte:
». . . der Hauptgrund für das Unglück lag vielleicht in der grundsätzlichen Einstellung, einem so hochgestellten Patienten besondere Zugeständnisse zu machen . . . Die Einlieferung des Königs in eine gutorganisierte und mit bestem Pflegepersonal besetzte Nervenheilanstalt wäre wahrscheinlich der bessere Weg gewesen. Schließlich sind die Grundvoraussetzungen für eine Verwahrung die Befunde und die Schlußfolgerung eines Sachverständigen, daß der Patient nicht mehr genügend Urteilsvermögen besitzt, um seine Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Ähnliche Fehler wie im Fall des kranken Bayernkönigs waren vielleicht auch für den Freitod vieler anderer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verantwortlich.« (Hervorhebung vom Verfasser; Seite 106)
Es scheint mir fast, daß Alexander hier das Wesentliche dieser Geschichte, ja überhaupt das ganze Dilemma übersehen hat. Der Tradition des autoritären Psychiaters folgend, würde er am liebsten den König seiner angestammten Vorrechte berauben und ihn so wie andere psychiatrische Patienten behandeln. Aber wie werden gewöhnliche Patienten einer psychiatrischen Anstalt denn behandelt? Zuerst unterwirft man sie einer Prozedur, die Goffman (1957) treffend einen »Entkleidungsprozeß« nennt, wobei die Patienten gleichsam »ausgelöscht« werden. Die Identität des Patienten wird ersetzt durch die Autorität des Psychiaters und der Nervenheilanstalt als Institution.
Der Grund für Alexanders Wunsch, Ludwig zu behandeln, ist recht einleuchtend. Die durch Ludwigs Prunksucht aufgeworfenen lästigen Probleme wären mit einem Schlag gelöst gewesen jedenfalls solange er die Patientenrolle akzeptierte oder mit Gewalt dazu verhalten werden konnte. Aber darin lag eben das Problem, dem sich die Psychiater, zum Handeln genötigt, gegenübersahen: Ludwig zur Annahme dieser Rolle zu bewegen. Und es ist das Problem aller modernen Psychiater, wenn es um prominente Patienten geht, die sich nicht als psychiatrischen Fall sehen, sich mit dieser Rolle nicht abfinden wollen. Der Verteidigungsminister James Forrestal zum Beispiel wurde nie offen als psychiatrischer [75] Patient behandelt. Er beging Selbstmord unter ähnlichen Umständen wie Ludwig, indem er sich aus einem Fenster des Hospitals stürzte, wo man ihn in Gewahrsam hielt.
Was konnte man dieser Macht des vor
der Verwahrung stehenden Geisteskranken entgegensetzen? Alexanders Lösung
ist einfach: Man nimmt ihm einfach die Macht aus den Händen. Er schreibt:
»Mir kommt eine Erfahrung
während des letzten Krieges als frischgebackener Stabsarzt in den
Sinn. Es galt, einen selbstmörderischen Generalmajor auf die Krankenstation
einzuliefern. Einer meiner Assistenten, ein Leutnant, befragte den befehlshabenden
Offizier, einen regulären Armeegeneral, welche speziellen Schritte
unter solchen Umständen zu unternehmen seien Der General erwiderte
barsch: 'Nehmen Sie ihm seine Uniform, dann hat er auch seinen Rang verloren.'
So geschah es unverzüglich, und der Patient genas problemlos bei richtiger
Behandlung und auf einer Station, wo alle Ränge vertreten waren und
die besten Therapiemüglichkeiten angeboten wurden, die der Armee zur
Verfügung standen.« (Seite 106)
Leider wurden bei dieser Anekdote die wichtigsten Fakten ausgelassen. Suchte der Patient den Psychiater aus freien Stücken auf oder wurde er dazu genötigt? Wenn Gewalt im Spiel war, wer übte sie aus? Wer wies dem General die soziale Rolle eines psychiatrischen Patienten zu? Sowohl beim Militär als auch im Zivilleben ist dazu ein Höhergestellter vonnöten. Wenn ein Untergebener so etwas versucht, riskiert der unglückliche »Diagnostiker« eine Anklage wegen Auflehnung, Befehlsverweigerung, Meuterei oder eines ähnlichen Vergehens. Die Meuterei auf der Caine ist ein fiktiver Bericht (Wouk, 1951) über ein ähnliches Problem auf einem Marineschiff. Der springende Punkt ist doch, daß weder Alexander noch der von ihm erwähnte Leutnant bei ihrer Erfahrung mit dem selbstmordgefährdeten Generalmajor einem Machtproblem gegenüberstanden. Als sie mit ihm zu tun bekamen, war er bereits zum Geisteskranken degradiert worden.
Alexander hält sichtlich eine psychiatrische Behandlung für ausgeschlossen, wenn der Arzt dem Patienten nicht übergeordnet ist. Der berichtete Fall gibt ein treffendes Beispiel ab. Meiner Ansicht nach ist ein Machtübergewicht des Arztes nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich für eine Psychotherapie. In der Psychoanalyse, besonders bei der autonomen Psychotherapie (Szasz, 1962), muß der Therapeut sich vor jedweder zwangsmäßigen Beeinflussung des Patienten hüten.
Insgesamt versäumt es Alexander, die historischen und gese schaftlichen Hintergründe des Falles Ludwigs II. zu würdigen, und [76] obendrein verdecken seine Bemerkungen die Lehren, die sich daraus ziehen ließen.
Zunächst gilt: Hochgestellten Persönlichkeiten werden immer besondere Zugeständnisse gemacht. So geschieht es im Bereiche der Allgemeinmedizin und der Chirurgie, und so geschieht es ganz besonders in der Psychiatrie. Der Satz, die Ärzte behandelten alle Patienten gleich, ungeachtet der sozialen Umstände, drückt vielleicht einen Wunsch, vielleicht sogar eine Bestrebung aus, gewiß aber keine Tatsache. Ungleichheiten zu erkennen, heißt nicht, sie auch zu billigen. Freilich kommt es in jeder Sozialwissenschaft auf solche Erkenntnis an.
Zweitens erscheint ein Vorschlag wie derjenige Alexanders, nämlich den König in eine gewöhnliche Nervenheilanstalt einzuliefern, unrealistisch. Wie hätte man das bewerkstelligen sollen? Mit welcher rechtlichen Befugnis hätte man ihn dort festhalten können? Hier fällt mir der Fall des Gouverneurs Earl Long von Louisiana ein. Seine Frau bemühte sich um seine Verwahrung in einer staatlichen Nervenheilanstalt in seinem eigenen Staat; er setzte sich selbst in Freiheit, indem er den Anstaltsleiter kurzerhand seines Postens enthob. Daß Ludwig nicht in Gewahrsam genommen wurde - genommen werden konnte -, bezeugt die Rolle des Machtfaktors in dieser Prozedur.
Drittens handelt es sich bei der Behauptung Alexanders, für eine Verwahrung sei das Urteil des Facharztes ausschlaggebend die ganze Angelegenheit sei mithin im wesentlichen eine medizinische -, um eine Wiederholung der offiziellen Stellungnahme zur Verwahrung. Ludwigs tragische Geschichte zeigt meiner Ansicht nach ganz deutlich, daß Verwahrung eine soziale und juristische Angelegenheit ist, keine medizinische.
Und schließlich wirft Alexanders Kommentar zur Verhinderung von Selbstmorden hochgestellter Persönlichkeiten moralische und soziale Probleme auf. Warum denn nur im Hinblick auf Selbstmord von Gefährdung reden? Warum nicht auch Mord einbeziehen? Immerhin hat die politische Prominenz darin schon seit jeher ein gehöriges Maß an Freizügigkeit genossen. Politische Opposition, Krieg, Aufruhr - so gesehen könnten diese allesamt dem psychiatrischen Problemkreis der Gefährlichkeit zugerechnet werden und das Eingreifen der Psychiater rechtfertigen - sei es um »vorzubeugen«, sei es um zu »behandeln«. Eine absurde Idee! Und doch gibt es solche Probleme von »Gefährlichkeit«. Man darf sie nicht dadurch verschleiern, daß man ihnen einen rein psychiatrischen Anstrich verleiht. [77]
Der Autor
Thomas S. Szasz, 1920 in Budapest
geboren, 1938 in die USA emigriert studierte Medizin in Cincinnati und
erhielt seine psychiatrische Ausbildung an der Universität von Chicago,
seine psychoanalytische am Chicago Institute for Psychoanalysis. 1948 eröffnete
er seine psychoanalytische Praxis. Seit 1955 ist er Professor für
Psychiatrie an der State University of New York in Syracuse.
Thomas S. Szasz ist Mitbegründer
und Vorstandsmitglied der Amerikanischen Vereinigung zur Abschaffung der
Zwangseinweisung in Nervenheilanstalten und Mitglied des Aufsichtsrates
des Nationalen Ausschusses für Verbrechen und Kriminalität. 1973
wählte ihn die Humanistische Vereinigung Amerikas zum >Humanisten
des Jahres<.
In deutscher Sprache liegen von
Thomas S. Szasz bisher folgende Werke vor >Geisteskrankheit - Ein moderner
Mythos?< (1972), >Die Fabrikation des Wahnsinns< (1974; Fischer Taschenbuch
Bd. 6321), >Psychiatrie - die verschleierte Macht. (1975, Fischer Taschenbuch
Bd. 6389) und >Das Ritual der Drogen< (1978; Fischer Taschenbuch 6712).
Thomas S. Szasz. Recht, Freiheit
und Psychiatrie. Auf dem Weg zum >therapeutischen Staat<?
Aus dem Amerikanischen von Werner
Schwarz. Fischer Taschenbuch Verlag.
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z.B. Forensische Psychologie site:www.sgipt.org. |