Der
ärztliche Bericht des Dr. Grashey vom 17. Juni 1886
Aus: Sekundärquelle
Wöbking
(1986, 319-324) Querverweise: _Überblick
Ludwig II. _
Bayer. Hauptstaatsarchiv,
Geheimes Hausarchiv: 36/1/3 V.
Ärztlicher Bericht über den Geisteszustand Seiner Majestät des Königs Ludwig II. von Bayern.
Nachstehender Bericht umfaßt die Beobachtungen, welche der Unterzeichnete vom 12. bis 13. Juni l. Js. auf Schloß Berg am Starnberger See durch persönlichen Verkehr mit Seiner Majestät zu machen Gelegenheit hatte, und gibt ein Referat über die von dem nunmehr verstorbenen Obermedicinalrath Professor v. Gudden an denselben Tagen gewonnenen und dem Unterzeichneten direct mitgetheilten Beobachtungsresultate. Zugleich bildet der Bericht einen Nachtrag zu dem von Obermedicinalrath v. Gudden, Hofrath Hagen, Direktor Hubrich und dem Unterzeichneten vom 8. Juni l. Js. abgegebenen Gutachten gl. Betreffs.
Bekanntlich reiste Obermedicinalrath v. Gudden am 11. Juni Nachmittags in Begleitung von Assistenzarzt Dr. Müller und Krankenpflegern über Peißenberg nach Hohenschwangau, um Seine Majestät den König zur Reise und Übersiedlung nach Schloß Berg zu bestimmen. Die Ankunft in Hohenschwangau erfolgte am 12. Juni l. Js. morgens l/2 bis 1 Stunde nach Mitternacht, die Abreise war auf 4 Uhr morgens festgesetzt. Die in Mitte liegenden 3 Stunden wollte v. Gudden, wie er dem Unterzeichneten mittheilte, zu einer näheren Orientierung im Schloß Neu-Schwanstein benützen, begab sich daher mit seinem erwähnten Personal dorthin und wurde gleich bei seinem Eintritt ins Schloß von einem Lakaien mit der Meldung empfangen, es sei höchste Zeit für ärztliches Einschreiten; denn Seine Majestät seien in hohem Grade erregt und allem Anscheine nach willens, durch einen Sturz in die Tiefe allerhöchstihr Leben zu enden; hierauf deute mit großer Sicherheit der Befehl Seiner Majestät, den Schlüssel zum Thurm zu bringen. Andererseits aber könne man auch nicht in die Gemächer Seiner Majestät eindringen, weil in diesem Fall Allerhöchstdieselben sich wahrscheinlich vom Balkon in die Tiefe stürzen würden.
Von Gudden schickte nun Pflegepersonal auf die Treppe zu dem erwähnten Schloßthurm, befahl dem Lakaien, Seiner Majestät den verlangten Thurm-Schlüssel zu überbringen und wartete selbst mit Pflegepersonal in der Nähe des Zugangs zur Thurmtreppe. Alsbald erschienen Seine Majestät an der Thurm-treppe und wurden nun von den auf der Treppe befindlichen Pflegern und dem herzueilenden v. Gudden an der Ausführung Allerhöchstihres Vorhabens gehindert und zur Rückkehr in die verlassenen Zimmer bewogen. Seine Majestät folgten dorthin ohne Widerstreben, das Pflegepersonal wurde angewiesen, die Balkonthüren und die Ausgänge aus den Zimmern zu besetzen, während Seine Majestät mit v. Gudden im Zimmer Platz nahmen und sofort auf die Besprechung der Sachlage sich einließen.
Seine Majestät schienen schon vorher ziemlich viel Spirituosen genossen zu haben und leerten auch während der folgenden drei Stunden in hastigen Zügen noch mehrere Gläser Rum. Seine Majestät erklärten sich als das Opfer eines [<319] gegen Allerhöchstdieselben in Aktion getretenen Complotts, nahmen den Hinweis auf bestehende Krankheit zwar ruhig aber ungläubig auf, fragten wiederholt während der Unterredung, ob man dem im Zimmer befindlichen Pflegepersonal auch trauen dürfe, baten wiederholt, dasselbe abtreten zu lassen, bestanden jedoch nicht auf diesem Verlangen und erklärten sich, als die Zeit zur Abreise heranrückte, bereit, in den Wagen einzusteigen.
Während der Vorbereitungen zur Abreise verlangten Seine Majestät von dem Lakaien wiederholt, für Herbeischaffung einer gehörigen Quantität Chloroform zu sorgen. Die Reise, während welcher Seine Majestät allein in einem Wagen fuhren, verlief bekanntlich ohne die geringste Störung. Bei der Ankunft in Berg waren Seine Majestät vollkommen ruhig, stiegen langsam in Begleitung Guddens und der Pfleger die Treppe hinan ins II. Stockwerk, um die gewöhnlich bewohnten Zimmer zu betreten. Letztere waren von dem Unterzeichneten tags vorher und am Vormittag des 12. Juni mit den nöthigen Vorrichtungen ausgestattet worden für die ständige Überwachung des Patienten und für die Verhütung eines etwaigen Flucht- oder Selbstmordversuchs. Der erste Nachmittag und die erste Nacht verliefen ruhig. Seine Majestät benahmen sich vollständig fügsam und brachten die ganze Nacht anscheinend schlafend im Bett zu. - Am 13. Juni morgens 8 ¼ Uhr wurde der Unterzeichnete in das Schlafzimmer Seiner Majestät befohlen. Allerhöchstdieselben lagen noch im Bett und hatten nach alter Gewohnheit ein großes schwarzes bis zum Kinn reichendes Tuch in mehreren Touren um den Hals gelegt. Der Kopf wurde während der ganzen Unterredung vom Kissen erhoben gehalten, die Stimme klang etwas heiser, mäßig laut. Seine Majestät sprachen rasch, meist in kurzen fragenden Sätzen, die Artikulation war vollkommen sicher, der Ton der Unterredung ein durchaus freundlicher und gnädiger; auch auf eingeschobene Fragen antworteten Seine Majestät bereitwillig. Erst erkundigten sich Allerhöchstdieselben eingehend nach den persönlichen Verhältnissen des Unterzeichneten und kamen dann aus eigener Initiative auf die neue Situation zu sprechen. Man habe nicht richtig gehandelt, hätte Allerhöchstdenselben erst von dem Vorhaben in Kenntnis setzen sollen, es bestehe jedenfalls ein Complott. Die Hauptfrage sei, wielange die Sache dauern solle, ob denn für immer oder bis wann. Obermedicinalrath Gudden gebe in dieser Beziehung ausweichende Antworten, es liege also die Befürchtung nahe, die Gefangenschaft könnte Jahre lang dauern. Die Einwendungen des Unterzeichneten, daß an ein Complott gar nicht zu denken sei, daß Seine Kgl. Hoheit Prinz Luitpold höchst ungern und nur unter dem Druck der durch Erkrankung Seiner Majestät entstandenen unabweisbaren Nothwendigkeit zur Übernahme der Regentschaft sich entschlossen haben, daß das kgl. Staatsministerium das denkbar treueste und anhänglichste sei, daß Jedermann über die Erkrankung Seiner Majestät aufrichtig trauere, daß nur diese die Ursache der gegenwärtigen Situation sei und daß diese Erkrankung durch ärztliches Gutachten nachgewiesen sei, daß eine bestimmte Angabe über die Dauer der gegenwärtigen Lage nicht gemacht werden könne, daß dieselbe jedoch, wie der Wortlaut der Verfassung bekunde, länger als ein Jahr dauern werde; Seine Majestät seien nach wie vor König von [>320] Bayern und wenn einmal durch ein neues Gutachten die Genesung Seiner Majestät nachgewiesen würde, dann werde die Reichsverwesung ohne Zweifel wieder aufhören - diese Einwendungen nahmen Seine Majestät ruhig und die Conversation weiter führend entgegen. Der Gedanke krank zu sein, wurde nicht angenommen, jedoch mit dem Zugeständniß, daß in früheren Jahren Aufregungszustände dagewesen seien und daß wegen Schlaflosigkeit vielfach Schlafmittel gebraucht worden seien. Alsdann kamen Fragen über die gegenwärtige Ansicht der Ärzte und über die zu erwartenden ärztlichen Rathschläge. Die Äußerung, daß die Ärzte auf das gegenwärtige ruhige Verhalten Seiner Majestät großes Gewicht legen, hatte eine erfreuende und befriedigende Wirkung, und die Vorschläge, ganz regelmäßig zu leben, wenig Spirituosen zu genießen, fleißig in frischer Luft Bewegung zu machen, eine regelmäßige Beschäftigung zu wählen, wurden zustimmend und mit der Bemerkung aufgenommen, daß der Unterzeichnete für baldige Übersendung der Bibliothek aus Neuschwanstein sorgen solle. Außerdem fragten Seine Majestät nach dem Kammerdiener Mayer und sprachen den Wunsch aus, denselben, der wahrscheinlich in München sich aufhalte, wieder kommen zu lassen. Dann war vom Landtage die Rede, daß derselbe auf nächsten Dienstag einberufen sei und sich voraussichtlich auch mit der Prüfung des ärztlichen Gutachtens befassen werde. Hiebei sprachen Seine Majestät den Wunsch aus, doch den Kammern keinen Einblick in das Gutachten zu gestatten. Dann folgte die Frage, warum die Ärzte Seine Majestät nicht vor Abgabe ihres Gutachtens untersucht hätten. Auf die Antwort, daß Seine Majestät seit Jahren keinen Arzt mehr vorgelassen und erst recht keinen Psychiater würden empfangen haben, daß Niemand berechtigt gewesen sei, vor erfolgter Proklamation gegen den Willen Seiner Majestät einen Arzt in das Schloß zu schicken, daß ein solcher von Seiner Majestät höchst wahrscheinlich gefangen gesetzt worden wäre und daß wegen außerordentlicher Fülle des Aktenmaterials eine persönliche Untersuchung unnöthig gewesen sei, lächelten Seine Majestät zustimmend. Alsdann erklärten Allerhöchstdieselben, daß sie nun aufstehen wollten und die Unterredung, welche eine halbe Stunde gedauert hatte, war zu Ende.
Während derselben überzeugte sich der Unterzeichnete, daß Seine Majestät ruhig und zusammenhängend denken und sprechen können, leicht und richtig auffassen, frei von paralytischen Symptomen sind und noch einen beträchtlichen Grad von Selbstbeherrschung besitzen, daß dagegen andererseits jede Einsicht in die Krankheit oder jedes Krankheitsbewußtsein fehlt, ebenso die Fähigkeit, die Situation richtig zu beurtheilen, daß Wahnideen vorhanden sind und das Bestreben, sich mit Hilfe untergeordneter Diener wieder in Freiheit zu setzen, daß mit einem Wort, Seine Majestät zu jenen unheilbaren Geisteskranken zählen, welche durch ruhiges und klares Sprechen, durch consequentes Handeln leicht und oft lange Zeit dem Laien als gesund erscheinen, während sie in Wirklichkeit ein ganzes System von Wahnideen haben und geistig bereits so geschwächt sind, daß sie auch in ruhigen Krankheitsintervallen aus ihrem Wahnsystem nicht mehr herauskommen. In diesem Sinn sprach sich wiederholt auch Obermedicinalrath v. Gudden aus, welcher insbesondere betonte, daß Seine Majestät ganz entschie- [>321] den und unheilbar geisteskrank seien und bei längerer und wiederholter Unterhaltung schon einen sehr engen Ideenkreis verrathen und für Vernunftgründe vollständig taub seien, immer wieder auf dieselben wiederholt besprochenen Ideen zurückkommen und in Folge dessen eine höchst ermüdende Conversation führen. Seine Majestät seien andererseits sehr fügsam und müßten mit möglichster Schonung und Milde behandelt werden. Selbstmordgedanken seien nur in der Erregung und unter dem aufregenden Einfluß von Spirituosen zu fürchten. - Wenn es dem Unterzeichneten gestattet ist, schließlich noch seine Ansicht auszusprechen, über die erschütternde Katastrophe, welche Seiner Majestät sowohl als auch seinem opfermuthigen Arzte das Leben raubte, so dürfte der Hergang etwa folgender gewesen sein:
Seine Majestät, welche vor dem Spaziergang in den Park genügend gegessen hatten, traten denselben wohl kaum mit Selbstmordgedanken an, wohl aber dürften Allerhöchstdieselben sich der Hoffnung hingegeben haben, von dem Arzte eine Befreiung oder wenigstens eine Begünstigung der beabsichtigten Flucht zu erlangen. Als bei diesen Versuchen der Arzt Einwendungen machte, Seine Majestät abzulenken und zur Umkehr zu bewegen trachtete, wird sich eine wachsende Erregung Allerhöchstderselben bemächtigt und rasch den Entschluß zum Selbstmord hervorgerufen haben. In höchster Erregung wird Seine Majestät nach dem See geeilt sein und als der nachfolgende Arzt selbst im Wasser noch den Versuch machte, Seine Majestät zurückzuhalten, wird ein letzter Kampf stattgefunden haben, in welchem v. Gudden unterlag und unter Wasser kam, worauf Seine Majestät ungehindert den Tod in den Wellen suchte und fand. Daß dieser Abschluß einen neuen Beweis für intensive geistige Störung Seiner Majestät liefert, bedarf keines Beweises. -
München, den 17. Juni 1886.
Dr. Grashey
Kgl. Universitätsprofessor.
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