Das letzte Band
Samuel Beckett
1958 geschrieben (28.10. Urauführung, London)
Analyse und werkorientierte
Interpretation des Stückes nach dem Suhrkamptext 1970 -
neben Eindrücken
vom Gastspiel im Margrafentheater in Erlangen einer Inszenierung des
St. Pauli Theaters Hamburg / Ruhrfestspiele
Recklinghausen mit Otto Sander
von Irmgard Rathsmann-Sponsel und
Rudolf Sponsel, Erlangen
Zusammenfassung: Ein alter, alleinstehender Mann, beschäftigt sich mit seinem Leben, seiner Situation und seiner Lebensbilanz. Als Medium dienen ihm Tonbandaufzeichnungen, die jahrzehntelang zurückliegen. Kernstück ist ein Band, das er im ALter von 39 Jahren besprochen hat. Durch diesen Kunstgriff wird die Jugend, die Zeit der sog. besten Jahre, und die Gegenwart des Alters in das Stück einbezogen. Von dem damaligen Band ausgehend bespricht er DAS LETZE BAND. Die Formulierung DAS LETZE BAND ist eindeutig dahingehend, dass es nun mit den Bändern ein Ende haben soll, wobei offen bleibt weshalb: weil der Tod naht oder er des künstlichen TONBAND ERSATZLEBENS nun überdrüssig ist oder es keinen Sinn mehr macht, dieses Leben noch zu dokumentieren. Alles in allem ein sehr pessimistisches Stück, das die dramatische Alterssituation (>Aufstand der Alten), wie sie sich inzwischen für nicht wenige darstellt, 40 Jahre vorwegnimmt. Die Botschaft ist klar: Alter ist häßlich - was bleibt sind bestenfalls gute Erinnerungen an bessere Zeiten und hiervon scheint die bedeutungsvollste die Liebe (Szene, die drei mal wiederholt wird) zu sein. Genauer: wer sich nicht bei Zeiten um gute Beziehungen kümmert, steht am Ende alleine da - und da nutzt es auch nichts, bekannt oder berühmt geworden zu sein.
Einführung (Eingangsszene): Bereits auf der ersten Seite ist eigentlich alles klar (fett-kursiv IRS):
"Eines Abends, spät, in der Zukunft.
Krapps Bude. Auf der Bühne ein kleiner Tisch, dessen Schublade sich nach rechts hin öffnen läßt. Am Tisch sitzt, mit dem Gesicht zum Zuschauerraum, ein zermürbter alter Mann: Krapp. Speckige schwarze Hose. Speckige schwarze, ärmellose Weste. Silberne Uhr mit Kette. Schmieriges weißes Hemd, am Hals offen, ohne Kragen. Auffallendes Paar schmutzig-weißer Halbschuhe, mindestens Größe 48, sehr eng und spitz. Weißes Gesicht. Wirres graues Haar. Unrasiert. Sehr kurzsichtig (aber ohne Brille). Schwerhörig, Krächzende Stimme. Eigentümlicher Tonfall. Mühsamer Gang. Gichtige Finger. Der Tisch und seine unmittelbare Umgebung in grellem weißem Licht, die übrige Bühne ist dunkel. An der Rückwand der Bühne eine Tür, von einem Vorhang verborgen. Durch die Tür dringt später gleichmäßig kaltes Licht." |
... schon deshalb müssen einige Interpreten irren, wenn sie dem Stück nachsagen, im Krapp habe sich der alternde Beckett selbst dargestellt, denn die Eingangscharakteristik auf der ersten Seite passt sicher nicht zu Becketts Alters-Selbstverständnis - beim Schreiben des Stückes erst 52 Jahre jungalt (KRAPP ist 69): Bude,zermürbter alter Mann, speckige, Schmieriges,schmutzig, Wirres, Unrasiert. Sehrkurzsichtig, Schwerhörig, Krächzende Stimme, Eigentümlicher Tonfall, Mühsamer Gang, Gichtige Finger.
Bananenkult. Die Anfangsbeschreibung
fährt fort mit einer besonderen Marotte, dem Bananenkult, den KRAPP
treibt (fett-kursiv IRS; S.14): "Gieriger Blick auf die Banane.
Nimmt die Banane in die linke Hand, beginnt mit langsamer, genießerischer
Bewegung die Banane zu schälen. Nimmt die geschälte Banane
in die rechte Hand, will die Schale fallen lassen, hält inne. Moment
des Überlegens. Läßt die Schale fallen, führt
die Banane zum Mund, beißt gierig
hinein. Geht essend parallel
zur Rampe nach links aus dem Lichtkreis heraus, macht zwei, drei Schritte
ins Dunkel, dreht sich um, kehrt zurück ins Licht. Rutscht auf
der Schale aus, stützt sich mit der linken Hand auf der Tischplatte
ab, starrt unter leisem Schimpfgemurmel die Schale an, hebt sie auf, wirft
sie in den Hintergrund der Bühne."
S. 18: "... Nimmt die [2.] Banane in die rechte
Hand, will die Schale aus der Linken fallen lassen, hält inne,
wirft
sie über die linke Schulter hinter sich ins Dunkel. Beißt
gierig
in die Banane und beginnt wieder parallel zur Rampe nach links zu gehen.
... "
Tonbänderkult. Krapp holt sodann eine ganze Reihe von Dosen, in denen sich Tonbänder, auf die er sein Leben gesprochen hat, befinden und ein schweres Tonbandgerät, auf das, dem Titel DAS LETZTE BAND nach, zum letzten Mal gesprochen werden soll. Zu den Bändern gibt es einen schweren Registerband (möglicherweise zusätzlich auch noch Tagebücher). Bänder hören scheint ein Lichtblick im Alltagsleben KRAPPs zu sein. Der Bänderkult wird jedenfalls mit Vorfreude-Gestik eingeführt (S.24): "Er blickt auf die Bänder, blick zum Gerät, klatscht einmal in die Hände, reibt sie." Und (S.26): "KRAPP lebhaft: Ah! ". S. 28: "Genießerisch. Spule! Zieht die Schachteln heran. Hebt den Kopf. Spuuule! Glückliches Lächeln." Dieses Erleben wird durch Wiederholung verstärkt (S.34): "Genießerisch: Spuuule! Glückliches Lächeln. Er fädelt das Band ein. Setzt sich. Ah!"
Registrierte Themen: (1) Tod der Mutter (S. 36); (2) Der schwarze Ball. (S. 36). (3) Das dunkle Dienstmädchen (S. 36); (4) Besserung der Darmtätigkeit (S. 38); (5) Denkwürdiges Äquinoktium (S. 38). (6) Abschied von der Liebe (S. 40).
Bandlaufthemen,
Kommentare und Zwischenbemerkungen
Geburtstag. (fett-kursiv IRS) "Neununddreißig
Jahre heute, kerngesund wie eine Eiche, abgesehen von meiner alten
Schwäche, und intellektuell höchstwahrscheinlich auf dem ...
Er
zögert. . . Kamm der Welle - oder beinahe. Feierte das verhängnisvolle
Geschehnis, wie in den letzten Jahren, ruhig in der Weinstube.
Keine Menschenseele. Saß mit geschlossenen Augen am Feuer, die Spreu
vom Weizen sondernd. Kritzelte einige Notizen auf die Rückseite
eines Briefumschlags." (S. 46).
Der Bananenkult hat
Tradition (S. 48): "... Habe gerade, wie ich zu meiner Schande gestehen
muß, drei Bananen gegessen und mich nur mit Mühe einer vierten
enthalten können. Leichtes Hohnlachen von Krapp. Gift
für einen Mann in meiner Verfassung. Ungestüm: Schluß
damit! Hohnlachen von Krapp Pause.
Alleinsein: S. 48 "Das neue Licht
über meinem Tisch ist eine große Verbesserung.
Bei all
der Dunkelheit um mich herum fühle ich mich weniger allein."
Was bleibt von meinem
Leben ? (S. 50): "Der Weizen, was mag ich nur damit meinen, ich meine
… Er zögert ... ich nehme an, daß ich die Dinge
meine, die noch der Mühe wert, wenn aller Staub sich - wenn all m
e i n Staub sich gelegt hat. " KRAPP bilanziert (S.
50): "Ich schließe die Augen und versuche, sie mir vorzustellen."
Singen (S. 50): "Habe ich je gesungen?
Krapp
neigt den Kopf näher zum Gerät. Nein"
Bianca. (S. 54f) "Gut davongekommen, mein
Gott nochmal! Hoffnungslose Angelegenheit.
Pause.
Nicht
viel über sie, nur eine Verherrlichung ihrer Augen.
Ganz
begeistert. Ihre Augen. . . . Krapp hebt langsam den Kopf.
Ich sah sie plötzlich wieder. Pause. Unvergleichlich! Pause.
Krapp
hebt den Kopf, grübelt. Na ja... Pause.
Bänder hören: Schauerlich, diese
Ausgrabungen, aber - Krapp schaltet ab, grübelt, blickt
auf den Tisch, verharrt, blickt zur Tür, will aufstehen, verharrt,
setzt sich zurück, blickt zum Gerät, nimmt Lauschgestus ein,
schaltet an (S. 56) - sie sind mir oft eine Hilfe, bevor
ich mich anschicke, von neuem ... Er zögert ... Rückschau
zu halten."
Jugend-Rückblick:
(S. 56)
"Kaum zu glauben, daß ich jemals dieser junge Dachs war. Diese
Stimme! Mein Gott! Und die Sehnsüchte! Kurzes Lachen, auf
das Krapp reagiert."
"Und die Vorsätze!Kurzes
Lachen, in das Krapp zweimal einfällt." (S. 56)
Alkohol und Kneipen Leben
(S. 56). "Vor allem, weniger zu trinken. Viermaliges Lachen von
Krapp allein. Eintausendsiebenhundert Stunden von den achttausendundsoundsoviel
verflossenen ausschließlich in Kneipen verplempert. Mehr als zwanzig
Prozent, sagen wir vierzig Prozent seines Lebens im wachen
Zustand."
Verleugnung der
Jugend und Zwiespalt (S. 58). "Letzte Krankheit seines Vaters.
Erlahmen
der Jagd nach Glück. Völliges Versagen der Abführmittel.
Hohngelächter über das, was er seine Jugend nennt, und Dankgebete
dafür, daß sie vorbei ist."
Anspielung auf ein
großes Werk (S. 58): "Pause. Mißklang hier.
Pause,
Schatten
des opus ... magnum. Höhnische Reaktion Krapps.Und schließlich
- Kurzes Lachen. - Ankläffen der Vorsehung. Längeres
Lachen von Krapp.
Bilanzfrage (S. 60): "Was bleibt
von all diesem Elend?"
"KRAPP singt:
Der Tag ist auf
der Neige." (S. 60)
Versteht alte Worte
nicht mehr, sieht im Lexikon nach (Witwenschaft) und ergötzt sich
("Genießerisch") an einer Nebenbedeutung (Witwenvogel): »Witibtum«.
(S. 62)
Jugenderinnerungen,
dunkelhaarige Schönheit: (S. 70) "Kaum eine Menschenseele, nur
ein paar Vertraute, Dienstmädchen, Kinder, Greise, Hunde. Ich. kannte
sie schließlich recht gut — oh, nur von Ansehen meine ich natürlich!
Ich erinnere mich besonders an eine junge, dunkelhaarige Schönheit,
neigt
den Kopf dichter zum Gerät ganz in gesteiftem Weiß, ein
unvergleichlicher Busen, sie schob einen hohen Kinderwagen mit schwarzem
Verdeck, einen traurigen Kasten. Sooft ich nach ihr schaute, hatte sie
ihre Augen auf mich gerichtet. Als ich mich jedoch erkühnte, sie anzusprechen
- ohne ihr vorgestellt zu sein - drohte sie, einen Polizisten zu rufen.
Höhnische
Reaktion von Krapp. Als ob ich es auf ihre Tugend abgesehen hätte!
Lachen.Pause."
Tod der Mutter (S. ...-76): "...
der Vorhang herunterging, einer jener schmutzig-braunen Rollos, während
ich gerade für einen kleinen weißen Hund einen Ball werfen wollte.
Ich blickte zufällig auf, und da war es soweit. Endlich alles aus
und vorbei. Ich blieb noch einen Moment mit dem Ball in der Hand sitzen,
während der Hund danach jappte und tappte. Pause. Momente.
Ihre Momente, meine Momente. Pause. Des Hundes Momente.
Pause.
Schließlich reichte ich ihm den Ball, und er nahm ihn in Maul, sachte,
sachte. Einen kleinen, alten, schwarzen harten, massiven Gummiball. Pause.Ich
werde ihn in meiner Hand fühlen bis zu meinem Sterbetag.
Pause.
Ich hätte ihn behalten können. Pause. Aber ich gab ihn
dem Hund."
Depressionen: (S. 76) "... Spirituell
ein Jahr tiefer Schwermut und Not ..." und: "mir endlich klar,
Kopfschütteln
daß das Dunkel, mit dem ich immer gekämpft hatte, um es zu bezwingen,
in Wirklichlichkeit mein bestes - Krapp flucht, schaltet ab, läßt
das Band vier Sekunden vorlaufen und schaltet wieder an - bis zu meinem
letzten Atemzug unzerstörbare Verbindung, von Sturm und Nacht mit
dem Licht der Erkenntnis und dem Feuer - Krapp flucht lauter, schaltet
ab, läßt das Band sechs Sekunden vorlaufen und schaltet wieder
an."
Zentrales
ambivalentes
Liebes-Trennung Erlebnis (Äquinoktium):
(S. 76) "Spirituell ein Jahr tiefer Schwermut und Not bis zu jener denkwürdigen
Nacht im März, am Ende der Mole, im heulenden Wind, ....
(S. 78) - mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand auf ihr.
Krapp
neigt den Kopf langsam zum Gerät. Wir lagen da, ohne uns zu bewegen.
Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns sachte, auf und nieder
und von einer Seite zur anderen.
Pause. Krapp richtet sich auf.
Nach Mitternacht. Nie erlebte ich solche Stille. Die Erde könnte unbewohnt
sein. Pause.
Hier beende ich - Krapp schaltet ab, verharrt regungslos. Pause."
...
(S. 82): "Ich sagte noch einmal, ich fände
es hoffnungslos und verfehlt weiterzumachen, und sie nickte ohne ihre Augen
zu öffnen. Pause. Ich bat sie, mich anzuschauen, und nach einem
Moment - Pause - nach einem Moment tat sie es, aber ihre Augen waren
nur Schlitze, der grellen Sonne wegen. Ich beugte mich über sie, damit
sie im Schatten wären, und sie öffneten sich. Pause. Leise:
Ließen mich ein. Pause. (S. 84) Wir trieben mitten ins Schilf
und blieben stecken. Wie die Rohre sich seufzend bogen unterm Bug! Pause.
Ich sank auf sie nieder, mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand
auf ihr. Krapp hat den Kopf ganz auf den Tisch gesenkt. Wir lagen
da, ohne uns zu bewegen. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte
uns, sachte, auf und nieder und von einer Seite zur anderen. Pause.
... "
Die zentrale Bedeutung dieser Szene ergibt sich
aus ihrer dreimaligen Abspulung, zuletzt am Ende, S. 102.
Bilanz: (S. 92): "KRAPP Hörte
mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig
Jahren hielt, kaum zu glauben, daß ich je so blöde war. Diese
Stimme! Gott sei Dank ist das wenigstens alles aus und vorbei. Will
weitersprechen, bricht ab. Pause. Was für Augen sie hatte! Pause.
Er schaltet ab, verharrt regungslos. Schließlich: Da lag
alles drin, alles, all das — Er blickt zum Mikrofon, blickt zum Gerät,
schaltet an: Da lag alles drin, der ganze alte Dreckball, alles Licht
und Dunkel, alle Hungersnot und Völlerei der ... Er zögert
... der Jahrhunderte! Aufschreiend: Jawohl!"
Er geht im weiteren auch mit seinen Erfolgen ins
Gericht. Er sei zwar bekannt geworden, habe aber kaum etwas verkauft. Beklagt
sein Alleinsein, das Thema Freitod / Selbstmord klingt an (S. 96): "Saß
schaudernd im Park, in Träumen ertrunken, und brannte darauf zu enden.
Keine Menschenseele." Für gelegentlichen Sex bleibt nur Fanny (S.
98) "Klappriges altes Hurengespenst" ... "war immerhin etwas besser als
zwischen Daumen und Zeigefinger."
Schluss: " ... Wir trieben mitten ins
Schilf und blieben stecken. Wie die Rohre sich seufzend bogen unterm Bug!
Pause.
Ich sank auf sie nieder, mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand
auf ihr. Wir lagen da, ohne uns zu bewegen. Aber unter uns bewegte sich
alles und bewegte uns, sachte, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.
Pause.
Nach Mitternacht. Nie erlebte ich solche Stille. Die Erde könnte
unbewohnt sein. Pause.
Hier beende ich diese Rolle. Schachtel - Pause - drei. Spule
- Pause fünf. Pause. Vielleicht sind meine besten Jahre
dahin. Da noch eine Aussicht auf Glück bestand. Aber ich wünsche
sie nicht zurück. Jetzt nicht mehr, wo dies Feuer in mir brennt. Nein,
ich wünsche sie nicht zurück. (S. 104): KRAPP starrt
regungslos vor sich hin. Das Band läuft weiter, in der Stille. Langsames
Verlöschen des Lichtes. Dunkel. Nur die Kontrollampe des Bandgerätes
leuchtet. Vorhang."
Das Stück handelt von einem Menschen, dessen Leben sich in der Vergangenheit (Kasten X, Spule Y), in seinen Erinnerungsfetzen, seinem jahrzehntelangen Suchen nach dem wirklich Wichtigen, dem Weizen, den er von der Spreu zu scheiden trachtet, abspielt(e). Immer wieder jedoch muss der Protagonist feststellen, dass das, was er gefunden zu haben glaubte, irgendwann später von ihm doch wieder als Spreu verworfen wird. [dem „Weizen, ... ich nehme an, dass ich die Dinge meine, die noch der Mühe wert, wenn aller Staub sich – wenn all m e i n Staub sich gelegt hat. Ich schließe die Augen und versuche sie mir vorzustellen.“] Die Gegenwart ist banal: In Schubladen eingeschlossene Bananen, eine große Verbesserung durch das neue Licht über seinem Tisch, heimliches Trinken, mit fast 40 Jahre währenden (aber vergeblichen) Versuchen, selbiges zu reduzieren.
Obwohl das Stück in seiner Kern-Aussage - nicht
in seinen vielen Aspekten und Nuancen - sehr klar und einfach zu interpretieren
ist, so können aufgrund seiner Eigenart mit der Nutzung des Mediums
Tonband, ein paar Hilfsregeln zur Interpretation der Tonbandregie entwickelt
werden.
Inhaltliche Besonderheiten:
Zusammenfassung
werkorientierte
Interpretation: Der Situationsrahmen, in dem das Stück spielt,
besteht aus äußerster Kargheit und damit Verdichtung auf die
wesentlichen Elemente, erlaubt also keinerlei Ablenkung, wodurch die wesentlichen
Botschaften besonders klar und überdeutlich, und damit auch sehr grausam
und desillusionierend zum Ausdruck kommen. Es ist ein durch und durch negativistisch-pessimistisches
Stück über Alter und Lebensbilanz. Alter ist hässlich. Bestenfalls
bleiben einige positive Erinnerungen an bessere Zeiten, wovon im Rückblick
vor allem Liebeschancen als besonders wichtig erscheinen. Durch die über
Bandaufzeichnungen verbesserte Erinnerung werden die Kontraste zwischen
früher und jetzt aber auch sehr scharf, was sehr schmerzliche und
aufwühlende Gefühle hervorruft, die im Stück bei KRAPP vor
allem als "Hohngelächter" zum Ausdruck kommen. Erinnerungslücken
und das Verblassen des Lebens werden deutlich. Eine Reihe von Ersatzhandlungen
(Bänder hören statt selber richtig leben) und Marotten (Bananenkult)
füllen die Leere und den Mangel an echten Begegnungen, Beziehungen
und Erlebnissen. Der am Anfang eingeführte Bananenkult zeigt mehrerlei:
Unerfüllte Lebensgier und Liebeshunger, aber vielleicht auch
an der Ausrutschstelle die Selbstverantwortung: wer sich die Bananenschale
unachtsam vor die Füße wirft, hat gute Chancen, wenn er
nicht aufpasst, darauf auszurutschen und hinzufliegen. Konstruktiv: man
kann, aber muss sich nicht selber Fallen stellen und Schlingen legen. Statt
richtig zu leben, richtige Beziehungen zu pflegen, lebt er durch seine
Dokumentationen früheren Lebens. Hier wird ein allgemeines Altersphänomen
sehr stark überzeichnet, nämlich: Leben findet in den sog. besten,
vor allem in den jüngeren Jahren statt. Wer im Alter allein ist, hat
nurmehr seine Erinnerungen - die als intensives Kontrasterlebnis authentisch
abgehört, Elend und Häßlichkeit einsamen Alters nur umso
stärker hervortreten lassen. Perfekte Dokumentation der Lebenskontinuität
verschlimmern so gesehen das Erleben, so dass vielleicht auch eine Botschaft
des Stückes ist, auf allzu perfekte Dokumentation zu verzichten, weil
natürliches und an die Situation angepasstes (gefiltertes) Erinnern
gesünder ist.
Der Schluss ist rätselhaft, wenn er zu den
Füllejahren sagt: "Aber ich wünsche sie nicht zurück.
Jetzt nicht mehr, wo dies Feuer in mir brennt. Nein, ich wünsche sie
nicht zurück." Welches "Feuer" brennt in ihm? Etwa doch noch ein
versöhnlicher Ausklang? Hat KRAPP seinen Frieden doch noch oder sich
"nur" abgefunden?
Exkurs: Diagnostisch-psychopathologische Betrachtung KRAPPs
Beziehungsstörungen
und Schizoide
Persönlichkeitszüge
Die zeigen sich in seinem Alleinsein, in seiner tiefen Ambivalenz und
Widersprüchlichkeit in Beziehungen - aber auch seinen Bändern,
sich selbst und seinen Lebenswerten gegenüber - und besonders Liebesbeziehungen,
in seinen Problemen mit Gefühlen, z.B. in der Abspaltung von Gefühlen:
als die Mutter stirbt, sitzt er, statt bei ihr zu sein, außen und
spielt mit einem Hund, wobei er die Handlung als er dem Hund den schwarzen
Ball in den Mund legt - Sekunden vorher war die Mutter gestorben - , bis
an sein Lebensende nicht vergessen will.
Heimlicher Trinker
Zum Trinken geht er offenbar in die Küche. Dies kann als Verheimlichung
und daher als besonders starkes Zeichen für eine massive Alkoholproblematik,
vielleicht sogar Alkoholabhängigkeit gelten. Immerhin bekennt er,
nahezu 40% seiner Wachzeit in Kneipen mit Alkohol verbracht zu haben. Auch
das Verlagern seiner Beziehungen in Kneipen spricht für seine Beziehungsstörung.
Anhedonie,
Dysthymia, depressive Phasen ?
Der Alkohol könnte hier auch zur Abwehr und Kompensation depressiver
oder fehlender positiver Gefühle und Stimmungen, die deutlich ausgesprochen
werden im Todesjahr der Mutter (S. 76: "Spirituell ein Jahr tiefer Schwermut
und Not"), aber wahrscheinlich weiter zurückreichen, worauf der lange
Alkoholmissbrauch hindeutet. Später wird auch das Thema Freitod /
Selbstmord berührt (S. 96: "Saß schaudernd im Park, in Träumen
ertrunken, und brannte darauf zu enden. Keine Menschenseele."). Auch die
starke Ambivalenz und die Neigung zum Grübeln - statt zuzupacken und
zu handeln - deutet auf eine depressive Komponente hin.
Eine eindrucksvolle Darbietung, die durch die Anfängslänge gleich eine besondere Spannung aufbaut. Die Kunst des Nichts, des Wenigen oder des Weglassens scheint eine besondere Domäne des modernen Theaters. Die Darbietung bleibt sehr nahe an der Berliner Inszenierung, die hier der Analyse und Interpretation zugrundegelegt wurde. Durch die Darbietung auf der Bühne wurde uns einiges klarer, so dass sich der 45 Minuten-Besuch gelohnt hat. SANDER strahlte im Kontrast zum Text mehr Liebenswürdigkeit aus: Das Nihilistische, Destruktive, Negative, Höhnische ("Hohngelächter"), Bittere und Resignative kam nicht in der Weise bei uns an, wie es aus dem Text heraus auf uns gewirkt hatte.
N.B. Das als "Programmheft" ausgewiesene Faltblatt für 1.- Euro
ist eine Provokation. Statt etwas über das Stück DAS LETZE BAND
auszusagen, es zu erläutern und zu kommentieren, enthält es willkürlich
(?) aneinandergereihte Informationen zu Murphy, Beckett und Ringelnatz,
Beckett und Karl Valentin und den 100. Geburtstag von Beckett. Der einzige
Bezug zum Stück im Programmheft sind die 14 Bilder, die SANDER als
KRAPP zeigen.
Beckett, Samuel (1970). Das letzte Band. Regiebuch der Berliner Inszenierung [Schillertheater 1969]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [Mit kritischem Apparat zu den Veränderungen, Informationen und Kritiken zur Berliner Inszenierung unter der Regie von Samuel Beckett: Volker Canaris: »Auf die Stille haben wir gesetzt«. Georg Hensel: Glut unter der Asche, Rolf Michaelis: Triumph in Trauer. Hellmuth Karasek: Beckett inszeniert Beckett. Joachim Kaiser: Beklemmende Lektion über Stolz und Altern.]
Biographien:
Modernes Theater
Zu DAS LETZE BAND Drama und Medienwechsel im 20. Jahrhundert [PDF]
Infos und Kritiken zu Inszenierungen Das letzte Band:
Allgemeine
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korrigiert: irs 22.01.08