Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=00.04.2023 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 16.10.24
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie,
    Abteilung Allgemeine Psychologie, Bereich Erleben, und hier speziell zum Thema:

    Erlebnisregister Literaturanalysen
    Erleben und Erlebnis in Raskolnikows Seele
    in Dostojewskis (1821-1881) Roman Schuld und Sühne (1866)

    Erlebensanalyse Raskolnikowd von Rudolf Sponsel, Erlangen


    Hauptseite Erleben und Erlebnis in der Literatur * Methodik Erlebensanalysen literarischer Werke * Haupt- und Verteilerseite Erlebnisregister * Haupt- und Verteilerseite Die Erforschung des Erlebens und der Erlebnisse
    Methode der Fundstellen-Textanalyse.  *  Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis  *  Signierungssystem  *  Zusammenfassung Hauptseite * Begriffscontainer (Containerbegriff)  * BegriffsVerschiebebahnhof  »«

    Editorial
    Dostojewski ist ein Meister in der Darstellung seelischer Prozesse und Entwicklungen. Diese Meisterschaft zeigt sich besonders in Dostojewskis Schuld und Sühne. Prof. Dr. Dr. Ludolf Müller fasst im Kindler-Literatur Lexikon zusammen: "Schuld und Sühne, die erste und in formaler Hinsicht vielleicht vollkommenste der fünf großen philosophischen Roman-Tragödien Dostoevskijs, ist ein Kriminalroman von atemberaubender Spannung und gleichzeitig vollendeter künstlerischer Ausdruck wesentlicher Probleme der Weltanschauung des späten Dostoevskij, wie sie sich seit seiner sibirischen Zuchthauszeit herausgebildet hatte."



    Zusammenfassung Erlebensanalyse Raskolnikow
    Dostojewski ist ein Meister in der Darstellung seelischer Prozesse und Entwicklungen. Diese Meisterschaft zeigt sich besonders in Dostojewskis Schuld und Sühne mit dem zentralen Thema, ob es lebensunwertes Leben gibt und dies zu Gunsten höherwertiger Menschen vernichtet werden darf, also die Kernideologie des Faschismus (>Auserwählt 04). Auf dieser Seite werden Passagen des Romans nach den Dimensionen des Erlebens erfasst (signiert), erläutert und  kommentiert.

    Aufbau des Romans
    Der Roman ist in 6 Teilen mit zwei Epilogen aufgebaut, wobei die Teile in 1. bis 8. Kapitel gegliedert sind, insgesamt 41 Kapitel. Im letzten, insgesamt 39. Kapitel, 8 im Teil 6, gesteht R. die beiden Morde bei der Polizei.
    Kapitel I-VI schildern die Entwicklung zur Tat
    Kapitel VII schildert die zwei Morde, das unmittelbare Nachtatverhalten und den Nachhauseweg

    Rahmen, Hintergrund, Situation
    Raskolnikow muss aus finanziellen Gründen sein Jurastudium abbrechen (ca. ein halbes Jahr vor den Morden); um diese Zeit hatte er unter dem Eindruck eines Buches einen Artikel in einer Zeitschrift veröffentlicht genau zum Thema, was im 19. Gesamt-Kapitel erzählt wird; Schulden bei der Wirtin, arm ("Er war so schlecht gekleidet, daß ein anderer, selbst jemand, der die Armut schon gewohnt war, sich geschämt hätte, bei Tage in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen."), abgesondert, in sein eigenen Ich vergraben, aufgeregter und gereizter Gemütszustand.
    _



    "I

    "»Eine so große Sache planeI10  ich, und dabei fürchteI05 ich mich vor solchen Kleinigkeiten!«I14 dachteI07 er mit einem eigentümlichen LächelnI32. »Hm . . . ja . . . alles hat der Mensch in seiner HandI40, und doch läßt man sich alles an der Nase vorbeigehen, einzig und allein aus FeigheitI05 . . . das ist schon so die allgemeine RegelI40,I23 . . . Merkwürdig: wovor fürchtenI05 die Menschen sich am meistenI41? Am meisten fürchtenI05 sie sich vor einem neuen SchritteI41, vor einem eignen neuen Worte . . . Übrigens schwatzeI20 ich viel zuvielI41,I42 . Darum handleI15  ich auch nicht, weil ich soviel schwatzeI20. Vielleicht aber liegt die Sache auch soI41: weil ich nicht handleI15, darum schwatzeI20 ich. Da habe ich nun in diesem letzten Monat das SchwatzenI20 gelerntI21, wenn ich so ganze Tage lang im Winkel lagI43 und an weiß Gott was dachteI07. Nun also: wozuI40 geheI43 ich jetzt aus? Bin ich etwa imstande, das auszuführenI15? Ist es mir etwa Ernst damit? Ganz und gar nicht. Ich amüsiereI05 mich nur mit einem müßigen Spiel der GedankenI07; Tändelei! Ja, weiter nichts als Tändelei!«I42 "
     

      Erläuterung zu den Signierungsbedeutungen
      I05  Fühlen,  Gefühl(e)
      I07  Gedanken,  denken
      I10  Pläne, Vorsätze, Ziele
      I14  Werte, werten
      I15  Handeln, machen, tun > Handlungsmodell.
      I20  Sprechen, ausdrüclen, unterhalten, kommunizieren.
      I21  Lernen, üben
      I23  Erklären, Hypothesen, Theorien, Kausalität, Wirklichkeit (Realität), Prognose
      I40  Philosophisch-weltanschauliche These, Behauptung über die Menschen, Gott und die Welt
      I41  Psychologische Analyse wie es ist, warum und wieso
      I42  Selbstkritik
      I43  Bewegen, Lage (gehen, stehen, liegen,...); ausgehen; fort gehen; weiter gehen, ...

      Kommentar zum Erleben dieses Abschnitts
      Zentrales Thema ist die Scheu vor der Veränderung, dem Neuen, wie man im Allgemeinen damit umgeht, vermeiden durch schwatzen statt handeln, wie es geboten wäre. Welche Dimensionen des Erlebens eine Rolle spielen, ist in den Erläuterungen oben ausgewiesen. Ich habe 27 Signierungen von Dimensionen des Erlebens vorgenommen.
       


    "›Hab ich's doch gewußt!‹ murmelte er bestürzt. ›Hab ich's mir doch gedacht! Das ist das Allerwiderwärtigste! Irgendeine Dummheit, irgendeine ganz gewöhnliche Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist zu auffällig . . . Er ist lächerlich, und dadurch wird er auffällig. Zu meinen Lumpen ist eine Mütze absolut notwendig, und wäre es auch irgend so ein alter Topfdeckel, aber nicht dieses Ungetüm. So etwas trägt kein Mensch. Eine Werst weit fällt den Leuten so ein Hut auf, und sie erinnern sich daran . . . Ja, das ist es: sie erinnern sich seiner nachher, und schon ist der Indizienbeweis da. Bei solchen Geschichten muß man möglichst unauffällig sein, . . . die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten, die sind die Hauptsache! Gerade diese Kleinigkeiten verderben immer alles . . .‹
    Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er sich sein Vorhaben schon lebhaft ausmalte. Damals freilich glaubte er selbst noch nicht an diese seine Phantasiegemälde und kitzelte nur sich selbst mit ihrer grauenhaften, aber verführerischen Verwegenheit. Jetzt, einen Monat später, hatte er bereits angefangen, die Sache anders zu betrachten, und trotz aller höhnischen Monologe über seine eigene Schwäche und Unschlüssigkeit hatte er sich unwillkürlich daran gewöhnt, das »grauenhafte« Phantasiegemälde bereits als ein beabsichtigtes Unternehmen zu betrachten, wiewohl er an seinen Entschluß noch immer selbst nicht recht glaubte. Sein jetziger Ausgang hatte sogar den Zweck, eine Probe für sein Vorhaben zu unternehmen, und mit jedem Schritte wuchs seine Aufregung mehr und mehr.
    Das Herz stand ihm fast still, und ein nervöses Zittern überkam ihn, als er sich einem kolossalen Gebäude näherte, das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der . . . straße zu lag. Dieses Haus hatte lauter kleine Wohnungen, in denen allerlei einfache Leute wohnten: Schneider, Schlosser, Köchinnen, Deutsche verschiedenen Berufes, alleinstehende Mädchen, kleine Beamte usw. Durch die beiden Haustore und auf den beiden Höfen des Hauses war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Hier gab es drei oder vier Hausknechte zur Aufsicht. Der junge Mann war sehr damit zufrieden, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte gleich vom Tore aus unbemerkt rechts eine Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und eng, ein »Wirtschaftsaufgang«; aber er hatte dies alles schon studiert und kannte es, und diese ganze Örtlichkeit gefiel ihm: in solcher Dunkelheit war selbst ein neugierig forschender Blick nicht weiter gefährlich. ›Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie würde es dann erst sein, wenn es wirklich zur Ausführung der Tat selbst käme?‹ dachte er unwillkürlich, während er zum dritten Stock hinaufstieg. Hier versperrten ihm Möbelräumer, entlassene Soldaten, den Weg, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen. Er hatte schon früher in Erfahrung gebracht, daß hier eine deutsche Beamtenfamilie wohnte. ›Also dieser Deutsche zieht jetzt aus; folglich ist für einige Zeit im dritten Stock an diesem Aufgang und an diesem Treppenabsatz die Wohnung der Alten als einzige bewohnt. Das ist günstig . . . für jeden Fall‹, überlegte er wieder und klingelte an der Tür der Alten. ..."

    "Raskolnikow ging in hochgradiger Erregung hinaus. Und seine Erregung wuchs noch immer mehr. Als er die Treppe hinunterstieg, blieb er sogar einigemal stehen, wie wenn ihn ein Gedanke plötzlich ganz übermannt hätte. Und endlich – er war schon auf der Straße – rief er aus:
        »O Gott, wie scheußlich das alles ist! Werde ich denn . . . werde ich denn wirklich . . . nein, das ist ja ein Unsinn, eine Absurdität!« fügte er entschlossen hinzu. »Wie konnte mir so etwas Gräßliches überhaupt nur in den Sinn kommen? Welcher schmutzigen Gedanken ist meine Seele doch fähig! Ja, es ist eine schmutzige, abscheuliche, ekelhafte, Sache. Und ich habe einen ganzen Monat lang . . .«
        Aber keine Worte und keine Ausrufe waren imstande, seiner Erregung Ausdruck zu geben. Das Gefühl eines gewaltigen Ekels, das schon vorhin sein Herz bedrückt und beklemmt hatte, als er noch auf dem Wege zu der Alten gewesen war, nahm jetzt solche Dimensionen an und trat in solcher Schärfe hervor, daß er nicht wußte, was er vor Unruhe tun sollte.  ..."

    "II

    Raskolnikow war an das Zusammensein mit einer größern Anzahl von Menschen nicht gewöhnt und mied, wie schon gesagt, jede Gesellschaft, namentlich in der letzten Zeit. Aber jetzt fühlte er sich auf einmal zu den Menschen hingezogen. Es ging eine Art Wandlung in ihm vor, und zugleich machte sich bei ihm geradezu ein Durst nach menschlicher Gesellschaft spürbar. Er war von seiner nun schon einen ganzen Monat dauernden heftigen Unruhe und düstern Aufregung so erschöpft, daß er sich danach sehnte, wenigstens für einen Augenblick in einer andern Welt – mochte sie sein, wie sie wollte – aufzuatmen, und so blieb er denn jetzt trotz aller Unsauberkeit der Umgebung mit Vergnügen in der Kneipe sitzen.
    ...
    ..."

    "III

    ...
    Schwerlich konnte jemand tiefer sinken und mehr verkommen; aber Raskolnikow empfand dies in seinem jetzigen Gemütszustande sogar als angenehm. Er hatte sich von allen Menschen völlig zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Magd, die die Aufwartung zu besorgen hatte und manchmal einen Blick in sein Zimmer warf, erregte ihm die Galle und reizte ihn zu Krämpfen. Es ist das eine häufige Erscheinung bei Leuten, die an einer bestimmten fixen Idee leiden und ihre Gedanken immer nur auf diesen einen Punkt richten.
    ...
    ..."

    "IV

    ...
    Ich will dein Opfer nicht, liebe Dunja; ich will es nicht, liebe Mama! Das soll und darf nicht geschehen, solange ich lebe; es soll und darf nicht geschehen! Ich nehme das Opfer nicht an!‹
        Plötzlich durchzuckte ihn ein andrer Gedanke, und er blieb stehen.
        ›Es soll nicht geschehen! Aber was willst du denn tun, um es zu verhindern? Willst du es verbieten? Was hast du dazu für ein Recht? Was kannst du ihnen deinerseits als Entgelt dafür versprechen, daß sie dir hierin willfahren? Willst du ihnen versprechen, ihnen deine ganze Zukunft, deine ganze Existenz zu weihen, wenn du die Studien absolviert und eine Stelle erhalten haben wirst? Schön gesagt; aber das ist ja noch in weiter Ferne; was soll aber jetzt gleich geschehen? Es muß doch jetzt sofort etwas getan werden, begreifst du das? Du aber, was tust du jetzt? Du plünderst sie aus. Geld verschaffen sie sich, indem sie die Pension von hundertzwanzig Rubeln verpfänden und sich von Swidrigailows Vorschuß geben lassen! Wie wirst du sie gegen die Swidrigailows und Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du künftiger Millionär, du Jupiter, der du ihr Schicksal ordnest und lenkst? Wohl nach zehn Jahren? Aber in zehn Jahren ist deine Mutter schon blind vom Tüchersäumen, vielleicht auch vom Weinen, und krank und abgezehrt vom Fasten. Und deine Schwester? Nun, überlege einmal, wie es mit deiner Schwester nach zehn Jahren stehen mag, wie es ihr während dieser zehn Jahre vielleicht geht! Kannst du dir davon ein Bild machen?‹
        So quälte und höhnte er sich mit diesen Fragen; er empfand dabei sogar eine Art von Genuß. Übrigens waren alle diese Fragen ihm nicht neu und traten ihm nicht erst jetzt unerwartet entgegen; es waren alte Fragen, die ihn schon geraume Zeit gepeinigt hatten. Schon lange war es her, daß sie angefangen hatten, ihn zu martern, sein Herz zu zerfleischen. Schon vor langer, langer Zeit war dieser ganze jetzige schwere Gram in seinem Innern entstanden, war herangewachsen und angeschwollen, und nun war er in der letzten Zeit herangereift und hatte sich zu einer schrecklichen, wilden, gespenstischen Frage konzentriert, die ihm Herz und Geist folterte und unabweisbar nach einer Lösung verlangte. Jetzt nun traf ihn auf einmal der Brief seiner Mutter wie ein Donnerschlag. Es war klar: jetzt durfte er nicht mehr sich grämen, passiv leiden und über die Unlösbarkeit dieser Fragen reflektieren, sondern er mußte unbedingt etwas tun, und zwar sofort, so schnell wie möglich. Unter allen Umständen mußte er sich entscheiden, nach irgendeiner Seite hin, oder . . .
        »Oder ich muß überhaupt auf ein lebenswertes Leben verzichten!« rief er in plötzlich hervorbrechender Wut. »Muß gehorsam das Schicksal hinnehmen, wie es eben ist, ein für allemal, und alle Wünsche in mir ersticken und auf jedes Recht zu handeln, zu leben und zu lieben verzichten!«
        ›Verstehen Sie, verstehen Sie, verehrter Herr, was das besagen will, wenn man nirgends mehr hingehen kann?‹ Diese Frage, die er gestern von Marmeladow gehört hatte, fiel ihm auf einmal ein. ›Es müßte doch jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen können.‹
        Da fuhr er zusammen. Ein andrer Gedanke, auch einer vom gestrigen Tage, tauchte wieder in ihm auf. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihm dieser Gedanke wieder gekommen war; er hatte es geahnt, gewußt, daß er sicher wieder auftauchen werde, und hatte es bereits erwartet; auch stammte dieser Gedanke keineswegs erst von gestern her. Aber der Unterschied lag darin, daß dieser Gedanke vor einem Monate, ja selbst gestern noch, lediglich ein Phantasiegebilde gewesen war, jetzt aber . . . jetzt ihm auf einmal nicht als Phantasiegebilde, sondern in einer neuen, furchtbaren, ganz unbekannten Gestalt entgegentrat; und er selbst wurde sich dessen sofort bewußt. Es war wie ein Schlag vor den Kopf, und es wurde ihm dunkel vor den Augen."
    "V

        Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehen wollte, regte ihn in Wirklichkeit mehr auf, als er selbst glaubte; voll Unruhe suchte er irgendwelchen für ihn unheilverkündenden tieferen Sinn in diesem anscheinend ganz gewöhnlichen Vorhaben.
        ›Wollte ich denn die ganze Angelegenheit einzig und allein durch Rasumichins Beihilfe in Ordnung bringen, und glaubte ich, bei Rasumichin Rettung aus aller Not zu finden?‹ fragte er sich verwundert.
        Er sann nach und rieb sich die Stirn, und – seltsam! – ganz unvermutet, plötzlich und fast von selbst kam ihm nach langer Überlegung ein sonderbarer Gedanke.
        ›Hm . . . zu Rasumichin‹, sagte er im Tone einer endgültigen Entscheidung vor sich hin und fühlte sich auf einmal völlig ruhig, ›zu Rasumichin werde ich gehen, bestimmt, . . . aber nicht jetzt gleich. Ich will zu ihm hingehen am Tage nach der betreffenden Sache, wenn die bereits erledigt ist und mein ganzes Leben einen neuen Anfang nimmt.‹
        Und auf einmal kam er zur Besinnung.
    »Nach der betreffenden Sache!« rief er und sprang von der Bank auf. »Aber wird die denn stattfinden? Wird sie wirklich stattfinden?«
        Er verließ die Bank und ging weiter, er lief beinahe. Er war schon im Begriff, umzukehren und nach Hause zu gehen; aber hiergegen stieg ihm ein furchtbarer Ekel auf: dort, in jenem gräßlichen, schrankartigen Kämmerchen, war schon seit mehr als einem Monat dieser ganze Plan in seinem Gehirne herangereift – und er ging immer geradeaus weiter."
        Er erwachte, ganz in Schweiß gebadet, mit feuchtem Haar, keuchend, und stand angstvoll auf.
        »Gott sei Dank«, sagte er, »es war nur ein Traum.« Er setzte sich unter einen Baum und holte tief Atem. »Aber wie kommt das? Kündigt sich ein hitziges Fieber bei mir an? So ein grauenhafter Traum!«
        Am ganzen Körper fühlte er sich wie zerschlagen; trüb und dunkel war es in seiner Seele. Er setzte die Ellbogen auf die Knie und stützte den Kopf in beide Hände. »Mein Gott!« rief er aus. »Werde ich denn wirklich, wirklich ein Beil nehmen, sie auf den Kopf schlagen, ihr den Schädel zerschmettern, . . . werde ich in das glitschige, warme Blut treten, das Schloß erbrechen, stehlen und zittern, mich verstecken, ganz mit Blut befleckt, . . . mit dem Beile . . . Mein Gott, kann das wirklich geschehen?«
        Er zitterte, während er das sagte, wie Espenlaub.
        »Aber was ist denn mit dir!« fuhr er, sich wieder aufrichtend, in tiefem Staunen fort. »Ich habe ja doch gewußt, daß ich es nicht würde ertragen können; also warum habe ich mich denn bis jetzt mit diesem Plane gequält? Erst gestern noch, als ich hinging, um diese Probe anzustellen, erst gestern noch wurde es mir vollständig klar, daß ich es nicht aushalten kann . . . Was will ich denn nun jetzt noch? Warum zweifle ich denn noch immer? Gestern, als ich die Treppe hinunterging, habe ich ja selbst gesagt, daß es gemein, häßlich, niedrig, ja niedrig ist; der bloße Gedanke hat ja ausgereicht, mir Übelkeit hervorzurufen und mich in Schrecken zu versetzen . . .
        Nein, ich werde es nicht aushalten, ich werde es nicht aushalten! Und wenn auch in all diesen Berechnungen kein einziger zweifelhafter Punkt ist; und wenn auch alles, was ich mir in diesem Monate zurechtgelegt habe, klar wie der Tag und richtig wie das Einmaleins ist. O Gott! Ich werde mich ja doch nicht dazu entschließen! Ich werde es nicht aushalten können, nein! . . . Warum . . . warum habe ich nur bis jetzt . . .« [Zweifel, Ambibalenz]
        Er stand auf, blickte erstaunt um sich, wie in Verwunderung darüber, daß er hierhergeraten war, und ging nach der T . . . brücke. Er war blaß, die Augen brannten ihm, alle seine Glieder waren matt und kraftlos; aber auf einmal hatte er die Empfindung, daß er wieder freier atmen könne. Er fühlte, daß er diese schreckliche Last, die ihn so lange bedrückt hatte, nunmehr abgeworfen habe, und es wurde ihm auf einmal leicht und friedlich ums Herz. ›O Gott‹ betete er, ›zeige mir meinen Weg, und ich entsage diesem unseligen Plane!‹
        Als er über die Brücke ging, betrachtete er still und ruhig die Newa und die leuchtend rot untergehende Sonne. Trotz seiner Schwäche verspürte er eigentlich keine Müdigkeit. Es war, als ob an seinem Herzen plötzlich ein Geschwür aufgegangen wäre, das sich einen ganzen Monat lang entwickelt hatte. Freiheit! Freiheit! Jetzt war er frei von dieser Bezauberung, dieser Behexung, diesem Taumel, dieser Verlockung!
    ...
        Raskolnikow war nun schon an ihnen vorbei und hörte nichts mehr. Er war sachte und unauffällig vorbeigegangen, bemüht, kein Wort von dem Gespräche sich entgehen zu lassen. Sein anfängliches Staunen ging allmählich in Schrecken über, und Kälte lief ihm über den Rücken. Er hatte erfahren, plötzlich und ganz unerwartet erfahren, daß morgen, genau um sieben Uhr abends, Lisaweta, die Schwester der Alten und deren einzige Wohnungsgenossin, nicht zu Hause sein werde und daß also die Alte genau um sieben Uhr abends allein zu Hause war. [Gelegenheit]
        Bis zu seiner Wohnung hatte er nur noch wenige Schritte zu gehen. Er kam nach Hause wie ein zum Tode Verurteilter. Er überlegte nichts und war auch völlig außerstande, etwas zu überlegen; aber in seinem ganzen innersten Wesen fühlte er plötzlich, daß er jetzt keine Freiheit der Überlegung, keinen eigenen Willen mehr besitze und daß auf einmal alles endgültig entschieden sei.
        Gewiß: wenn er auch jahrelang auf einen günstigen Zufall hätte warten wollen, so wäre doch nicht mit Sicherheit auf eine bessere Chance für das Gelingen seines Planes zu rechnen gewesen, als diese war, die sich ihm soeben auf einmal darbot. Jedenfalls würde es schwer sein, einen Tag vorher zuverlässig, mit größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliche Befragungen und Nachforschungen, in Erfahrung zu bringen, daß am andern Tage um soundso viel Uhr das und das alte Weib, auf das man einen Anschlag plant, mutterseelenallein zu Hause sein wird."

    "VI

    ...
    Aber Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch geworden. Spuren dieses Aberglaubens blieben bei ihm in der Folgezeit noch lange haften und schienen fast unvertilgbar. Er neigte später immer dazu, in dieser ganzen Angelegenheit etwas Mystisches, Geheimnisvolles, das Walten besonderer Einwirkungen und zusammentreffender Zufälle zu sehen. Es war noch Winter gewesen, da hatte ihm ein Bekannter, der Student Pokorew, vor seiner Abreise nach Charkow gelegentlich im Gespräche die Adresse der alten Aljona Iwanowna mitgeteilt, für den Fall, daß er in die Lage käme, etwas zu versetzen. Lange brauchte er nicht von dieser Adresse Gebrauch zu machen, weil er Privatstunden hatte und sich auf diese Art so leidlich durchschlug. Vor anderthalb Monaten hatte er sich der Adresse erinnert; er besaß zwei Gegenstände, die sich zum Versetzen eigneten: eine alte silberne Uhr, die noch von seinem Vater stammte, und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen, den ihm seine Schwester beim Abschiede als Andenken geschenkt hatte. Er entschied sich dafür, den Ring hinzutragen; als er die Alte gefunden hatte, empfand er gleich beim ersten Blick, noch ehe er etwas Näheres von ihr wußte, einen unbezwingbaren Widerwillen gegen sie, nahm die zwei »Scheinchen«, die sie ihm gab, und kehrte auf dem Heimwege in ein geringes Restaurant ein. Da bestellte er sich Tee, setzte sich hin und überließ sich einem angestrengten Nachdenken. Ein seltsamer Gedanke arbeitete sich in seinem Kopfe hervor, wie ein Küchlein sich aus der Eierschale herauspickt, und beschäftigte ihn ganz außerordentlich lebhaft.
        An einem andern Tischchen in seiner nächsten Nähe saßen ein Student, den er nicht kannte und den er sich nicht erinnerte jemals gesehen zu haben, sowie ein junger Offizier. Sie hatten Billard gespielt und tranken jetzt Tee. Auf einmal hörte Raskolnikow, daß der Student mit dem Offizier über eine Pfandleiherin Aljona Iwanowna, die Witwe eines Kollegienregistrators, sprach und ihm ihre Adresse mitteilte. Dies allein schon kam dem zuhörenden Raskolnikow merkwürdig vor: eben erst kam er von dort her, und nun wurde hier gerade von ihr geredet. Er sagte sich natürlich selbst, daß es ein zufälliges Zusammentreffen sei, konnte aber trotzdem eine ganz eigenartige Empfindung nicht loswerden. Und nun war's, als ob es jemand ausdrücklich darauf anlegte, ihm eine Gefälligkeit zu erweisen: der Student begann seinem Bekannten allerlei Einzelheiten von dieser Aljona Iwanowna zu erzählen.
        »Famoses Frauenzimmer«, sagte er. »Von der kriegt man immer Geld. Sie ist reich wie ein Jude; sie kann auf einen Schlag fünftausend Rubel auszahlen, verschmäht aber auch ein Pfand nicht, wenn es nur einen Rubel wert ist. Von uns Studenten sind schon viele bei ihr gewesen. Aber sie ist ein nichtswürdiges Luder . . .«
    »Nun ja, der Kuriosität halber. Aber ich will dir mal etwas sagen: Diese verfluchte Alte möchte ich totschlagen und berauben, und«, fügte er eifrig hinzu, »ich versichere dir, daß ich es ohne alle Gewissensbisse tun würde.«
        Der Offizier lachte wieder laut auf; Raskolnikow aber fuhr zusammen. Wie seltsam, daß er all das hier zu hören bekam!
    »Erlaube mal, ich möchte dir eine ganz ernsthafte Frage vorlegen«, fuhr der Student, hitzig werdend, fort. »Ich habe jetzt eben natürlich nur im Scherz gesprochen; aber überlege mal: auf der einen Seite steht ein dummes, verdrehtes, wertloses, boshaftes, krankes, altes Weib, das niemandem nützt, sondern im Gegenteil allen Leuten nur schadet, das selbst nicht weiß, wozu es eigentlich lebt, und nächster Tage ganz von selbst sterben wird. Verstehst du wohl? Verstehst du wohl?«
        »Nun ja, das verstehe ich schon«, erwiderte der Offizier und blickte seinen Bekannten, der stark in Eifer geriet, unverwandt und aufmerksam an.
        »Höre weiter! Auf der andern Seite stehen junge, frische Kräfte, die, ohne der Welt nützen zu können, zugrunde gehen, weil sie keine Unterstützung finden, und zwar zu Tausenden, allüberall. Hundert, tausend gute Taten und Unternehmungen könnte man für das Geld der Alten, das sie einem Kloster zugedacht hat, ausführen oder fördern. Hunderte, vielleicht Tausende von Existenzen könnten in die richtige Bahn geleitet, Dutzende von Familien vor größter Armut, vor dem Verfall, vor dem gänzlichen Ruin, vor Unsittlichkeit und Geschlechtskrankheiten bewahrt werden – und alles das vermittels ihres Geldes. Wenn man sie ermordet und ihr Geld nimmt, um dann mit dessen Hilfe sich dem Dienste der ganzen Menschheit und der Sache der Allgemeinheit zu widmen: was meinst du, wird dann nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten Taten aufgewogen? Für ein Leben Tausende von Leben, die von Fäulnis und Ruin gerettet sind? Ein einziger Tod, und dafür hundert Leben – das ist doch ein einfaches Rechenexempel! Ja, und was bedeutet auf der großen Weltwaage das Leben dieses schwindsüchtigen, dummen, boshaften alten Weibes? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Schabe, sogar noch weniger, weil die Alte geradezu schädlich ist. Sie verkümmert anderen das Leben: neulich hat sie ihre Schwester Lisaweta vor Wut in den Finger gebissen, so daß er beinahe amputiert werden mußte.«
        »Gewiß, sie verdient nicht, daß sie lebt«, entgegnete der Offizier. »Aber die Natur hat es nun doch einmal so eingerichtet.«
        »Ach was, Bruder, die Natur kann man doch korrigieren und lenken, sonst müßten wir ja in unsern beschränkten, engherzigen Anschauungen geradezu versinken. Sonst gäbe es keine großen Männer. Es heißt immer: ›Pflicht, Gewissen‹; nun, ich will ja gegen Pflicht und Gewissen nichts sagen; aber was versteht man eigentlich darunter? Warte mal, ich will dir noch eine Frage vorlegen. Hör mal!«
        »Nein, nun warte du mal; jetzt werde ich dich etwas fragen. Paß mal auf!«
        »Nun?«
        »Du hältst da jetzt großartige Reden; aber sage doch mal: würdest du selbst die Alte totschlagen, ja oder nein?«
        »Selbstverständlich nein! Ich will ja auch nur sagen, was gerecht und billig wäre. Um mich handelt es sich dabei nicht.«
        »Wenn du selbst dich dazu nicht entschließen kannst, so kann meiner Ansicht nach von Gerechtigkeit und Billigkeit dabei nicht die Rede sein. Komm, wir wollen noch eine Partie spielen!«
        Raskolnikow befand sich in großer Aufregung. Gewiß, das waren ja ganz gewöhnliche, häufige, jugendlich unreife Gespräche und Gedanken, wie er sie schon oft, nur in andrer Form und über andre Gegenstände, mit angehört hatte. Aber warum mußte er gerade ein solches Gespräch und solche Gedanken gerade jetzt, mit anhören, wo soeben in seinem eigenen Kopfe ganz ebensolche Gedanken rege geworden waren? Und warum mußte er, gerade unmittelbar nachdem er von seinem Besuche bei der Alten den Keim zu seinem Gedanken mitgebracht hatte, auf ein Gespräch über die Alte stoßen? Dieses Zusammentreffen erschien ihm auch später immer seltsam. Dieses unbedeutende Wirtshausgespräch übte hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Sache einen ganz außerordentlichen Einfluß auf ihn aus, als ob da wirklich eine Art von Prädestination, von Fingerzeig vorgelegen hätte . . .
        Als er vom Heumarkte nach Hause zurückgekehrt war, warf er sich auf das Sofa und blieb eine ganze Stunde dort sitzen, ohne sich zu rühren. Unterdes war es dunkel geworden; eine Kerze besaß er nicht; auch kam ihm gar nicht der Gedanke, daß es Zeit wäre, Licht anzuzünden. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er damals überhaupt an etwas gedacht hatte. Endlich spürte er wieder das Fiebern und Frösteln von vorhin, und mit einem Wonnegefühl kam ihm wie eine Erleuchtung der Gedanke, daß man auf einem Sofa auch liegen könne. Sofort überfiel ihn ein fester, bleierner Schlaf, der wie ein Alp auf ihm lastete.
    ...
    . . . Befremdlich und wunderbar erschien es ihm, daß er vom gestrigen Tage bis spät in den heutigen hinein in solcher Bewußtlosigkeit hatte schlafen können und noch nichts getan, nichts vorbereitet hatte . . . Vielleicht hatte es inzwischen schon sechs geschlagen . . . Eine gewaltige, fieberhafte, ängstliche Hast befiel ihn und trat an die Stelle der Schläfrigkeit und des Stumpfsinns. Die Vorbereitungen waren übrigens nicht umfangreich. Er strengte alle seine Geisteskräfte an, um alles zu überlegen und nichts zu vergessen; noch immer hatte er Herzklopfen; sein Herz schlug so stark, daß ihm das Atmen schwer wurde. Zuvörderst mußte er eine Schlinge herstellen und an seinen Paletot annähen – das war in wenigen Minuten gemacht. Er griff unter das Kissen und suchte aus der Wäsche, die dort zusammengestopft lag, ein ganz zerrissenes, altes, ungewaschenes Hemd von sich heraus. Von diesen Fetzen riß er einen Streifen ab, etwa zwei Zoll breit und vierzehn Zoll lang. Diesen Streifen legte er zusammen, so daß er doppelt war, zog seinen weiten, starken, aus dickem Baumwollstoff gemachten Sommerpaletot (das einzige, was er außer dem Hemde auf dem Oberkörper trug) aus und nähte die beiden Enden des Streifens innen unter der linken Achsel an. Die Hände zitterten ihm beim Nähen; aber er überwand sich. Als er den Paletot wieder anzog, war von außen nichts zu sehen. Nadel und Faden hatte er sich schon vor längerer Zeit beschafft; sie hatten seitdem in ein Stückchen Papier gewickelt auf dem kleinen Tische gelegen. Was die Schlinge anlangt, so war das eine sehr geschickte eigene Erfindung von ihm. Die Schlinge war für das Beil bestimmt. Er konnte doch nicht auf der Straße ein Beil in der Hand tragen. Und wollte er es unter dem Paletot verbergen, so mußte er es mit einer Hand festhalten, und dies hätte auffallen können. Jetzt aber, wo er sich die Schlinge eingenäht hatte, brauchte er nur das Eisen des Beiles in diese hineinzustecken; dann hing das Beil auf dem ganzen Wege ruhig unter der Achselhöhle. Steckte er dann noch die Hand in die Seitentasche des Paletots, so konnte er auch das untere Ende des Beilstieles festhalten, damit es nicht hin und her schlenkerte; und da der Paletot sehr weit war, ein richtiger Sack, so konnte man auch von außen nicht bemerken, daß er etwas mit der Hand durch die Tasche hindurch festhalte. Diese Schlinge hatte er sich schon vor zwei Wochen ausgedacht.
        Als er damit fertig war, steckte er die Finger in den schmalen Zwischenraum zwischen seinem »türkischen« Schlafsofa und dem Fußboden, tastete in der linken Ecke umher und zog das Pfandobjekt heraus, das er schon lange zurechtgemacht und dort versteckt hatte. Ein wirkliches Pfandobjekt war es nicht, sondern einfach ein glattgehobeltes Holzbrettchen in der ungefähren Größe und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses Brettchen hatte er zufällig bei einem seiner Spaziergänge auf einem Hofe gefunden, wo sich im Hinterhause eine Tischlerei befand. Nachher hatte er dem Brettchen noch ein glattes, dünnes Eisenstreifchen beigesellt, das wahrscheinlich irgendwovon abgebrochen war und das er gleichfalls einmal auf der Straße gefunden hatte. Diese beiden Stücke, von denen das Eisenplättchen etwas kleiner war als das Holzbrettchen, hatte er aneinandergelegt und mit einem Faden über Kreuz fest zusammengebunden; dann hatte er sie sorgsam und hübsch in reines weißes Papier gewickelt und dieses Päckchen so zugebunden, daß es schwierig aufzumachen war. Dies hatte den Zweck, für ein Weilchen die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken, wenn sie sich mit dem Knoten abmühen würde, und dabei den richtigen Augenblick abzupassen. Das Eisenstreifchen hatte er zur Erhöhung des Gewichtes hinzugetan, damit die Alte nicht gleich im ersten Augenblick erriete, daß das »Pfandobjekt« aus Holz war. Alles dies hatte bis zur geeigneten Zeit unter dem Sofa verwahrt gelegen. Eben hatte er das Pfandobjekt hervorgeholt, als er plötzlich jemanden auf dem Hofe rufen hörte:
        »Es geht schon stark auf sieben!«
        »Schon stark auf sieben! Mein Gott!«
        Er lief zur Tür, horchte hinaus, nahm seinen Hut und stieg vorsichtig und geräuschlos wie eine Katze seine dreizehn Stufen hinab. Nun hatte er das wichtigste Stück seiner Aufgabe vor sich: aus der Küche das Beil zu stehlen. Daß die Tat gerade mit einem Beile ausgeführt werden sollte, hatte er schon längst fest beschlossen. Er besaß zwar noch ein Gartenmesser zum Zusammenklappen; aber auf das Messer und namentlich auf seine Kräfte mochte er sich nicht verlassen; darum war es endgültig bei dem Beile geblieben. Wir merken beiläufig hinsichtlich aller endgültigen Entschlüsse, die er in dieser Angelegenheit bereits gefaßt hatte, eine Besonderheit an. Sie hatten eine seltsame Eigenschaft: je endgültiger sie wurden, um so ungeheuerlicher und ungereimter erschienen sie in seinen Augen. Trotz all seiner qualvollen inneren Kämpfe hatte er diese ganze Zeit über auch nicht einen Augenblick lang an die Ausführbarkeit seiner Pläne glauben können.
    Ja, selbst wenn es jemals dahin gekommen wäre, daß er bereits alles bis auf das letzte Pünktchen zurechtgelegt und endgültig entschieden gehabt hätte und keinerlei Zweifel mehr zurückgeblieben wären, so hätte er sogar dann wahrscheinlich den ganzen Plan als etwas Ungeheuerliches, Absurdes und Unmögliches fallenlassen. Aber jetzt gab es noch eine wahre Unmenge von Punkten, über die er sich noch nicht schlüssig war, und von bedenklichen Zweifeln. Was die Frage anlangte, woher er sich ein Beil beschaffen könne, so beunruhigte ihn diese Kleinigkeit ganz und gar nicht; denn nichts war leichter als das. Die Sache war die, daß Nastasja, namentlich abends, häufig das Haus verließ; entweder lief sie zu den Nachbarn herüber oder in einen Laden; die Küchentür ließ sie aber immer weit offen stehen. Die Wirtin zankte mit ihr darüber fortwährend. Also brauchte er im rechten Augenblick nur leise in die Küche zu gehen und das Beil zu nehmen und dann eine Stunde darauf, wenn alles erledigt war, wiederzukommen und es wieder hinzulegen. Aber es fehlte doch auch nicht an Bedenken. Gesetzt, er kam nach einer Stunde zurück, und Nastasja war dann bereits heimgekehrt. Dann mußte er natürlich vorbeigehen und warten, bis sie wieder fortging. Wenn sie nun aber inzwischen das Beil vermißte, danach suchte und ein großes Geschrei erhob – dann war der Verdacht da, oder wenigstens die Möglichkeit eines Verdachtes.

    Aber da waren noch viele andre Kleinigkeiten, die er bisher weder überlegt noch zu überlegen Zeit gehabt hatte. Er hatte immer nur an die Hauptsache gedacht und die Kleinigkeiten bis zu dem Zeitpunkte verschoben, wo er »mit sich selbst über alles im klaren sein werde«. Aber daß dieser Zeitpunkt jemals kommen werde, war als ganz unmöglich erschienen. Wenigstens ihm selbst war es so erschienen. Er hatte es sich z. B. gar nicht vorstellen können, daß er jemals seinen Überlegungen ein Ende machen, aufstehen und einfach dorthin gehen werde . . . Selbst seine neuliche Probe, d. h. der Besuch mit der Absicht einer letzten Besichtigung der Örtlichkeit, war ganz und gar nicht etwas ernst Gemeintes gewesen, sondern nur so aus dem Gedanken hervorgegangen: ›Na, wir können ja mal hingehen und probieren; wozu immer bloß daran denken!‹ Und bei dieser Probe hatte seine Energie sich sofort als unzulänglich erwiesen; die Sache war ihm zuwider geworden, und er war, wütend über sich selbst, davongerannt. Und doch, sollte man meinen, hatte er die gesamte moralische Prüfung und Entscheidung der Frage vorher schon erledigt; seine Kasuistik, die so scharf geschliffen war wie ein Rasiermesser, hatte alle Einwendungen gegen die Tat widerlegt, und er hatte in seinem Innern keine weiteren Einwendungen mehr vorgefunden, die ihm zum klaren Bewußtsein gekommen wären. Aber bei diesem Resultate traute er einfach sich selbst nicht und tastete hartnäckig rechts und links nach neuen Einwendungen umher, als ob ihn jemand wie einen Sklaven dazu zwänge und anhielte. Der letzte Tag aber, der Tag, der so unerwarteterweise der letzte geworden war und alles mit einem Male zur Entscheidung gebracht hatte, hatte auf ihn fast völlig mechanisch gewirkt: wie wenn ihn jemand bei der Hand ergriffe und hinter sich herzöge, unwiderstehlich, blindlings, mit übernatürlicher Kraft, ohne Widerrede. Er war gleichsam mit einem Zipfel seiner Kleidung an einem Maschinenrade hängengeblieben, und dieses begann ihn in das Triebwerk hineinzuziehen.
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    Anfänglich (das war übrigens schon lange her) hatte ihn eine bestimmte Frage viel beschäftigt: nämlich, warum doch fast alle Verbrechen so leicht entdeckt und herausgebracht werden, und warum die Spuren fast aller Verbrecher so deutlich zu erkennen sind. Er gelangte allmählich zu mancherlei interessanten Schlußfolgerungen, und nach seiner Ansicht lag die Hauptursache nicht sowohl in der materiellen Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als vielmehr in dem Verbrecher selbst; der Verbrecher selbst, und zwar fast jeder, unterliege im Augenblicke des Verbrechens einer gewissen Verringerung der Willens- und Urteilskraft, an deren Stelle im Gegenteil ein hochgradiger, kindlicher Leichtsinn trete, und das gerade in dem Augenblicke, wo Urteilskraft und Vorsicht am allernötigsten wären. Nach seiner Überzeugung war der Hergang dieser: die Verdunkelung der Urteilskraft und die Herabminderung des Willens überfallen den Menschen wie eine Krankheit, entwickeln sich stufenweise und erreichen kurz vor der Ausführung des Verbrechens ihren Höhepunkt; sie verbleiben auf demselben im Augenblicke des Verbrechens selbst und noch einige Zeit nachher, je nach der Individualität des Betreffenden; dann verschwinden sie ganz genauso wie jede andere Krankheit. Die Frage aber, ob das Verbrechen selbst durch eine Krankheit hervorgerufen oder ob es irgendwie, vermöge seiner Eigenart, immer von krankheitsartigen Erscheinungen begleitet werde, diese Frage zu entscheiden, fühlte er sich noch nicht imstande.

    Indem er zu solchen Resultaten gelangte, sagte er sich, daß mit ihm persönlich bei seiner Tat derartige krankhafte Veränderungen nicht stattfinden könnten, sondern daß seine Urteils- und Willenskraft während der ganzen Dauer der Ausführung seines Vorhabens ungeschwächt bleiben werde, einfach deswegen, weil sein Vorhaben »kein Verbrechen« sei. Wir lassen den ganzen Denkprozeß beiseite, durch den er zu diesem letzten Urteile gelangt war (wir sind ohnedies in diesen Erörterungen schon zu weit gegangen), und fügen nur noch hinzu, daß die äußeren, rein materiellen Schwierigkeiten der Tat bei seinen Überlegungen überhaupt nur eine ganz untergeordnete Rolle spielten. ›Man muß sich diesen Schwierigkeiten gegenüber nur die ganze Willens- und Urteilskraft bewahren, und sie werden sich zu gegebener Zeit alle überwinden lassen, sobald es erforderlich wird, sich mit allen Einzelheiten des Unternehmens bis zur geringsten Kleinigkeit vertraut zu machen . . .‹ Aber er nahm eben das Unternehmen nicht in Angriff. An die endgültigen Entscheidungen, die er getroffen hatte, glaubte er im Laufe der Zeit immer weniger, und als die Stunde schlug, kam alles ganz anders, gewissermaßen zufällig, ja fast unerwartet.

    Ein unbedeutender Umstand kam ihm in die Quere, noch bevor er die Treppe hinuntergestiegen war. Als er zur Küche gelangte, deren Tür wie immer weit offenstand, schielte er vorsichtig hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob auch nicht in Nastasjas Abwesenheit die Wirtin selbst darin sei, und verneinendenfalls, ob auch die nach ihrem Zimmer führende Tür ordentlich geschlossen sei, damit sie es nicht von dort aus sehen könnte, wenn er in die Küche träte, um das Beil zu holen. Aber welchen Schreck bekam er, als er wahrnahm, daß sich Nastasja diesmal nicht nur zu Hause, in ihrer Küche befand, sondern sogar mit einer Arbeit beschäftigt war: sie nahm Wäsche aus einem Korbe und hängte sie auf die Leine! Als sie ihn sah, hörte sie mit dem Aufhängen auf und blickte ihn die ganze Zeit, während er vorbeiging, an. Er wandte die Augen ab und ging vorbei, als hätte er nichts bemerkt. Aber das Unternehmen war damit zu Ende: er hatte kein Beil! Er war höchst bestürzt.

    ›Wie bin ich nur darauf gekommen‹, dachte er, während er nach dem Tore zu ging, ›wie bin ich nur darauf gekommen, zu glauben, sie würde gerade in dem betreffenden Augenblicke bestimmt nicht zu Hause sein? Warum, warum, ja warum war ich so fest davon überzeugt?‹ Er war ganz niedergeschmettert und fühlte sich beinahe gedemütigt; in seinem Ärger hätte er über sich selbst laut lachen mögen. Eine stumpfsinnige, tierische Wut kochte in ihm.

    Nachdenkend blieb er unter dem Torwege stehen. Auf die Straße zu gehen und zwecklos, nur so zum Schein, einen Spaziergang zu machen, das widerstand ihm; nach Hause zurückzukehren widerstand ihm noch mehr. ›Was für eine günstige Gelegenheit habe ich für immer verloren!‹ murmelte er, während er unentschlossen unter dem Tore stand, gerade vor der dunklen Kammer des Hausknechts, die gleichfalls offenstand. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des Hausknechts, von der er nur zwei Schritte entfernt war, sah er unter einer Bank rechts etwas blinken . . . Er blickte sich um – es war niemand zu sehen. Auf den Zehen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinunter und rief mit gedämpfter Stimme nach dem Hausknechte. ›Es ist richtig, er ist nicht zu Hause. Er wird wohl irgendwo in der Nähe, vielleicht auf dem Hofe sein, da die Tür weit offensteht.‹ Hastig stürzte er nach dem Beil (denn ein solches war es) hin, zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor, befestigte es gleich dort, noch ehe er wieder hinaustrat, in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ die Kammer; niemand hatte ihn bemerkt. ›Wo der Verstand nicht hilft, hilft der Teufel!‹ dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. Dieser Zufall ermutigte ihn außerordentlich.

    Er ging auf der Straße ruhig und gemächlich, ohne sich zu beeilen, um keinerlei Verdacht zu erregen. Nach den Vorübergehenden blickte er wenig hin; er gab sich sogar Mühe, ihnen gar nicht ins Gesicht zu sehen und selbst möglichst wenig beachtet zu werden. Da erinnerte er sich seines Hutes. ›Mein Gott! Und vorgestern hatte ich doch Geld und hätte mir statt seiner eine Mütze anschaffen können!‹ Er fluchte ingrimmig.

    Als er zufällig in einen Laden hineinschielte, sah er, daß es an einer dort hängenden Wanduhr schon zehn Minuten über sieben war. Er mußte sich beeilen, da er auch noch einen Umweg zu machen hatte; denn er wollte sich dem Hause von der andern Seite her nähern.

    Früher, wenn er sich all dies in Gedanken im voraus ausgemalt hatte, hatte er manchmal gemeint, er werde dabei große Furcht haben. Aber er fürchtete sich jetzt nicht sonderlich, ja eigentlich überhaupt nicht. Es beschäftigten ihn in diesem Augenblicke sogar mancherlei ganz fremdartige Gedanken, wiewohl immer nur kurze Zeit. Als er an dem Jussupow-Garten vorbeikam, begann er mit großem Interesse einen Plan zur Anlegung hoher Springbrunnen zu entwerfen, die auf allen freien Plätzen die Luft schön frisch machen würden. Diesen Gedanken weiter verfolgend, kam er allmählich zu der ihm sehr einleuchtenden Idee, man müsse den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnen und dann noch mit dem Michailowskij -Garten vereinigen; das würde für die Stadt einen schönen Schmuck und einen großen Nutzen bedeuten. Dann interessierte ihn auf einmal eine andre Frage: warum eigentlich in allen großen Städten die Menschen (von Gründen äußerer Notwendigkeit ganz abgesehen) eine ganz besondere Neigung dazu haben, gerade in solchen Stadtteilen sich niederzulassen und zu wohnen, wo keine Gärten und Springbrunnen, sondern Schmutz, übler Geruch und allerlei andre häßliche Dinge zu finden sind. Dabei kamen ihm seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkte in den Sinn, und er wurde aus seinen Phantasien wieder für einen Augenblick in die Wirklichkeit versetzt. ›An was für dummes Zeug denke ich da!‹ sagte er sich. ›Nein, besser ist's schon, an gar nichts zu denken!‹

    ›Wahrscheinlich klammern sich Menschen, die zur Hinrichtung geführt werden, in derselben Weise mit ihren Gedanken an allerlei Gegenstände an, die ihnen unterwegs in die Augen fallen‹, dachte er flüchtig; aber dieser Gedanke huschte ihm nur momentan, wie ein Blitz, durch den Kopf; er selbst verscheuchte ihn wieder so schnell wie möglich . . . Aber nun war er schon nahe; da war das Haus; da war der Torweg. Irgendwo tönte von einer Uhr ein einzelner Schlag. ›Wie? Ist es wirklich schon halb acht? Das ist nicht möglich; die Uhr geht gewiß vor.‹

    Zu seinem Glücke ging im Torweg auch diesmal wieder alles nach Wunsch. Wie gerufen, fuhr gerade in diesem Augenblicke dicht vor ihm eine gewaltige Fuhre Heu in den Torweg hinein, die ihn die ganze Zeit über, während er durch den Torweg hindurchging, verdeckte, und sowie der Wagen aus dem Torweg in den Hof einfuhr, schlüpfte er in einem Nu nach rechts. Er hörte, wie auf der andern Seite des Wagens ein paar Stimmen schrien und zankten; aber niemand hatte ihn bemerkt, und niemand kam ihm entgegen. Viele Fenster, die auf diesen riesigen, quadratischen Hof hinausgingen, standen in diesem Augenblick offen; aber er hob den Kopf nicht in die Höhe; er fand in sich nicht die Kraft dazu. Die Treppe, die zu der Wohnung der Alten hinaufführte, befand sich ganz in der Nähe, gleich rechts vom Torweg. Schon war er an der Treppe . . .

    Er holte Atem, drückte die Hand gegen das stark klopfende Herz, tastete dabei zugleich nach dem Beile und schob es noch einmal zurecht; dann begann er vorsichtig und leise, alle Augenblicke horchend, die Treppe hinaufzusteigen. Aber auch die Treppe war um diese Zeit völlig leer; alle Türen waren geschlossen; er begegnete keinem Menschen. Im ersten Stock allerdings stand die Tür zu einer leerstehenden Wohnung weit offen, und drinnen waren Maler bei der Arbeit; aber auch diese sahen nicht nach ihm hin. Er blieb einen Augenblick stehen, überlegte und ging dann weiter. ›Gewiß, besser wäre es, wenn die nicht hier wären; aber . . . es liegen ja noch zwei Stockwerke über ihnen.‹

    Aber nun war er im dritten Stock; da war die Tür der Alten, und da gegenüber noch eine andre Wohnung; diese stand leer. Im zweiten Stock war die Wohnung, die gerade unter der Wohnung der Alten lag, allem Anschein nach gleichfalls unbewohnt: die Visitenkarte, die mit Reißstiften an die Tür genagelt gewesen war, war abgenommen – also waren die Leute ausgezogen! . . . Er konnte kaum Atem holen. Einen Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›Ob ich nicht lieber wieder fortgehe?‹ Aber er gab sich keine Antwort und horchte nach der Wohnung der Alten hin: es herrschte dort Totenstille. Dann horchte er noch einmal nach der Treppe hinunter, lange und aufmerksam . . . Hierauf sah er sich zum letzten Male um, nahm seinen Mut zusammen, rückte seinen Anzug zurecht und fühlte noch einmal nach dem Beil in der Schlinge. ›Ob ich auch nicht allzu blaß aussehe?‹ dachte er. ›Bin ich auch nicht in übermäßiger Erregung? Sie ist mißtrauisch. Ob ich lieber noch einen Augenblick warte, bis das Herz in Ordnung kommt?‹

    Aber das Herz kam nicht in Ordnung. Im Gegenteil, es schlug, wie ihm zum Tort, nur immer heftiger. Er konnte es nicht ertragen, noch länger zu warten, streckte langsam die Hand nach der Klingel aus und schellte. Nach einer halben Minute schellte er noch einmal, etwas stärker.

    Nichts rührte sich. So einfach weiter zu klingeln hatte keinen Zweck und paßte ihm nicht in seinen Plan. Er sagte sich, daß die Alte sich selbstverständlich in der Wohnung befinde, aber allein zu Hause und darum besonders argwöhnisch sei. Er kannte schon teilweise ihre Gewohnheiten und legte darum noch einmal sein Ohr dicht an die Tür. Ob nun seine Sinne so scharf waren (was sich allerdings schwer annehmen läßt), oder ob es wirklich nicht schwer zu hören war, genug, er vernahm ein vorsichtiges Herumtasten einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Tür. Es stand jemand heimlich dicht am Türschloß und horchte, ganz ebenso wie er hier von außen, so seinerseits versteckt von innen, und hatte anscheinend gleichfalls das Ohr an die Tür gedrückt . . .

    Er machte absichtlich ein paar Bewegungen und brummte ziemlich laut etwas vor sich hin, um nicht den Anschein zu erwecken, als ob er sich verstecken wolle; dann schellte er zum dritten Male, aber sacht, maßvoll und ohne jedes Zeichen von Ungeduld. Sooft er sich in späterer Zeit hieran erinnerte, und zwar in voller Klarheit und Deutlichkeit (denn dieser Augenblick hatte sich seinem Gedächtnisse für das ganze Leben eingeprägt), so war es ihm stets unbegreiflich, wo er nur so viel Schlauheit hergenommen hatte, um so mehr, da sein Verstand sich in einzelnen Augenblicken geradezu verdunkelte und er seinen Körper fast gar nicht fühlte . . . Einen Augenblick darauf hörte er, wie der Riegel gelöst wurde."

    "VII

    Die Tür wurde wie das vorige Mal nur bis zu einem schmalen Spalt geöffnet, und wieder hefteten sich zwei scharfe, mißtrauische Augen aus der Dunkelheit auf ihn. In diesem Momente verlor Raskolnikow die ruhige Überlegung und beging einen großen Fehler.

    Da er befürchtete, die Alte könnte sich ängstigen, weil sie beide allein wären, und da er nicht zu hoffen wagte, sein Äußeres werde sie von seiner Harmlosigkeit überzeugen, so griff er nach der Tür und zog sie an sich heran, damit die Alte sich nicht etwa beifallen ließe, sie wieder zuzumachen. Als sie dies wahrnahm, riß sie zwar die Tür nicht wieder zu sich heran, ließ aber auch nicht den Türgriff los, so daß Raskolnikow sie beinahe mit der Tür auf die Treppe herauszog. Da er aber sah, daß sie quer vor der Tür stand und ihm den Eintritt versperrte, trat er gerade auf sie zu. Die Alte sprang erschrocken zurück und wollte etwas sagen; aber sie konnte kein Wort hervorbringen und blickte ihn nur mit weit geöffneten Augen an.

    »Guten Tag, Aljona Iwanowna«, begann er in möglichst ungezwungenem Tone; aber die Stimme gehorchte ihm nicht, sondern bebte und versagte. »Ich bringe Ihnen hier . . . einen Wertgegenstand . . . Aber kommen Sie doch lieber dorthin . . . ans Licht.«
        Er ließ sie stehen und ging geradezu, ohne dazu aufgefordert zu sein, ins Zimmer. Die Alte eilte ihm nach; jetzt hatte sie endlich die Sprache wiedergefunden.
        »Herr Gott, was wollen Sie denn? Wer sind Sie? Was wünschen Sie?«
        »Aber ich bitte Sie, Aljona Iwanowna, Sie kennen mich doch von früher, . . . Raskolnikow . . . Hier bringe ich Ihnen das Pfandstück, von dem ich neulich schon gesprochen habe . . .«
        Er hielt ihr das Pfandstück hin. Die Alte sah einen Augenblick nach dem Pfandstück, starrte dann aber sogleich wieder dem zudringlichen Besucher in die Augen. Sie betrachtete ihn aufmerksam, ergrimmt und mißtrauisch. So verging etwa eine Minute; er glaubte sogar in ihren Augen etwas wie Spott zu erkennen, als ob sie alles schon erraten hätte. Er fühlte, daß er die ruhige Überlegung verlor und beinahe Furcht bekam, solche Furcht, daß es ihm schien, wenn sie ihn so, ohne ein Wort zu sagen, noch eine halbe Minute lang ansähe, so würde er davonlaufen.
        »Warum sehen Sie mich denn so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennten?« sagte er auf einmal gleichfalls ärgerlich. »Wenn Sie wollen, dann nehmen Sie es; wenn nicht, dann gehe ich zu jemand anders; viel Zeit habe ich nicht.«
        Er hatte so etwas eigentlich gar nicht sagen wollen; aber es fuhr ihm so von selbst heraus.
        Die Alte gewann ihre Fassung wieder, und der entschiedene Ton des Besuchers beruhigte sie offenbar.
        »Aber Väterchen, wie können Sie nur gleich so . . . Was ist es denn?« fragte sie mit einem Blick auf das Pfandstück.
        »Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe ja schon das vorige Mal davon gesprochen.«
        Sie streckte die Hand danach aus.
        »Aber woher sind Sie denn nur so blaß? Ihnen zittern ja auch die Hände so! Sie haben wohl gebadet, Väterchen?«
        »Ich habe Fieber«, antwortete er kurz. »Da kann man schon blaß werden, . . . wenn man nichts zu essen hat«, fügte er murmelnd hinzu. Die Kraft verließ ihn wieder. Aber seine Antwort hatte den Eindruck der Wahrheit gemacht; die Alte nahm das Pfandstück.
        »Was ist das für ein Ding?« fragte sie, indem sie Raskolnikow noch einmal scharf anblickte und das Pfandstück in der Hand wog.
        »Ein Wertstück, . . . ein Zigarettenetui . . . aus Silber. Sehen Sie es sich nur an.«
        »Na, Silber wird es wohl kaum sein . , . Aber haben Sie das fest verschnürt!«
        Während sie sich damit abmühte, den Bindfaden aufzuknüpfen, und sich nach dem Fenster zum Lichte wendete (alle Fenster waren in ihrer Wohnung trotz der Schwüle geschlossen), ließ sie ihn einige Sekunden ganz außer acht und drehte ihm den Rücken zu. Er knöpfte seinen Paletot auf und zog das Beil aus der Schlinge heraus, holte es aber noch nicht ganz hervor, sondern hielt es mit der rechten Hand unter dem Paletot. Seine Arme waren entsetzlich schwach; er hatte selbst die Empfindung, daß sie mit jedem Augenblicke tauber und starrer würden. Er fürchtete, er würde das Beil nicht mehr halten können und fallen lassen; . . . es wurde ihm auf einmal ganz schwindlig.
        »Aber wie haben Sie das verknotet!« rief die Alte ärgerlich und machte eine Bewegung nach ihm zu.
    Nun war keine Sekunde mehr zu verlieren. Er zog das Beil ganz hervor, hob es, fast ohne Besinnung, mit beiden Händen in die Höhe und ließ, beinahe ohne eigene Anstrengung, beinahe rein mechanisch, den Beilrücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Er hatte in diesem Augenblicke eigentlich gar keine Kraft in sich gehabt. Aber sobald er einmal das Beil hatte fallen lassen, stellte sich auch die Kraft wieder ein.
        Die Alte war wie immer im bloßen Kopf. Ihr hellblondes, zum Teil schon ergrautes, dünnes Haar, wie gewöhnlich stark geölt, war in ein Zöpfchen geflochten, das große Ähnlichkeit mit einem Rattenschwanze hatte, und mit einem zerbrochenen Hornkamm hochgesteckt, der auf ihrem Hinterkopfe abstand. Der Schlag hatte sie, da sie von kleiner Statur war, gerade auf den Scheitel getroffen. Sie schrie auf, aber nur sehr schwach, und sank sofort in sitzender Stellung auf den Boden, hob aber noch schnell beide Hände zum Kopfe. In der einen Hand hielt sie immer noch das Pfandstück. Da schlug er aus voller Kraft noch einmal und noch einmal zu, immer mit dem Rücken des Beiles und immer auf den Scheitel. Das Blut strömte heraus wie aus einem umgestoßenen Glase, und der Körper sank hintenüber gegen Raskolnikows Beine. Raskolnikow trat zurück, ließ ihn vollends hinfallen und bückte sich sogleich zu ihrem Gesichte; sie war bereits tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie herausspringen wollten, die Stirn und das ganze Gesicht in Falten gezogen und krampfhaft verzerrt.

    Er legte das Beil auf den Fußboden neben die Tote und griff ihr sogleich in die Tasche, in eben die rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die Schlüssel herausgeholt hatte; dabei nahm er sich in acht, sich nicht mit dem hervorquellenden Blute zu besudeln. Er war bei vollem Verstande; Trübung der geistigen Fähigkeiten und Schwindelgefühl waren nicht mehr vorhanden; aber die Hände zitterten ihm immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr achtsam und vorsichtig gewesen war und sich die größte Mühe gegeben hatte, sich nicht blutig zu machen . . . Die Schlüssel fand er sofort und zog sie heraus; sie bildeten alle, wie damals, ein Bund und hingen an einem stählernen Ringe. Schnell lief er mit ihnen in das Schlafzimmer. Dies war ein sehr kleines Zimmer mit einem gewaltigen Schrein voll von Heiligenbildern. An einer andern Wand stand ein großes Bett, sehr sauber, mit einer aus lauter kleinen Seidenstückchen zusammengesetzten Steppdecke. An der dritten Wand stand eine Kommode. Aber seltsam! Sowie er die Schlüssel in die Kommode hineinzupassen begann und ihr Klappern hörte, lief ihm ein krampfhafter Schauder über den Leib. Wieder wandelte ihn die Lust an, alles stehen- und liegenzulassen und davonzugehen. Indes dauerte das nur einen Augenblick; zum Davongehen war es nun doch schon zu spät. Er lächelte sogar über sich selbst; da fuhr ihm auf einmal ein andrer beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Er hatte plötzlich die Vorstellung, die Alte lebe vielleicht noch und könne wieder zu sich kommen. Die Schlüssel und die Kommode im Stiche lassend, lief er zu dem daliegenden Körper zurück, ergriff das Beil und schwang es noch einmal über der Alten; aber er ließ es nicht niederfallen. Es konnte kein Zweifel sein, daß sie tot war. Indem er sich niederbückte und sie nochmals aus der Nähe betrachtete, sah er deutlich, daß der Schädel zerschmettert und sogar ein wenig schiefgedrückt war. Er wollte schon mit dem Finger hinfühlen, zog aber die Hand wieder zurück; die Sache war auch ohne das zweifellos. Inzwischen hatte sich von dem Blute schon eine ganze Lache gebildet. Auf einmal bemerkte er an ihrem Halse eine Schnur; er versuchte sie zu zerreißen; aber die Schnur war stark und hielt; außerdem war sie von Blut durchnäßt. Nun versuchte er, sie unzerrissen unter dem Brustteil des Kleides herauszuziehen; aber es war irgend etwas da, wodurch sie festgehalten wurde. In seiner Ungeduld wollte er schon wieder mit dem Beile ausholen, um die Schnur über dem Körper durchzuschlagen; aber er wagte es nicht, und mit Anstrengung, und nicht ohne daß er seine Hände und das Beil mit Blut befleckt hätte, gelang es ihm nach einer zwei Minuten dauernden Mühe, die Schnur durchzuschneiden, ohne mit dem Beile den Körper zu berühren. Nun ließ sich die Schnur abnehmen; er hatte sich nicht geirrt: es hing ein Beutel daran. Auch waren an der Schnur zwei Kreuze befestigt, eines von Zypressenholz und eines von Kupfer, außerdem ein kleines Heiligenbild auf Emaille und schließlich hing an der Schnur der Beutel, ein kleiner waschlederner, schmutziger Beutel mit stählernem Bügel und Ring. Der Beutel war ganz gepfropft voll; Raskolnikow steckte ihn unbesehen in die Tasche; die Kreuze warf er der Alten auf die Brust. Dann eilte er wieder in das Schlafzimmer; diesmal nahm er auch das Beil mit.

    Er beeilte sich aufs äußerste, griff nach den Schlüsseln und mühte sich von neuem mit ihnen ab. Aber es wollte ihm nicht gelingen; sie paßten nicht in die Schlösser. Nicht daß seine Hände so stark gezittert hätten; aber er irrte sich fortwährend: er sah z. B., daß ein Schlüssel nicht der richtige war, nicht paßte; aber er steckte ihn immer wieder von neuem hinein. Endlich besann er sich und überlegte, daß dieser große Schlüssel mit dem gezähnten Barte, der mit den kleinen zusammen an dem Ringe hing, jedenfalls gar nicht von der Kommode war (wie er sich das schon bei seinem vorigen Besuche gesagt hatte), sondern von einer Truhe, und daß in dieser Truhe vielleicht alles Wertvolle verwahrt wurde. Er ließ daher die Kommode stehen und bückte sich sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen bei alten Weibern unter den Betten zu stehen pflegen. So war es denn auch: es stand dort eine ansehnliche Truhe, mehr als zwei Fuß lang, mit gewölbtem Deckel, mit rotem Leder überzogen und mit stählernen Nägeln beschlagen. Der gezähnte Schlüssel erwies sich sofort als genau passend und schloß die Truhe auf. Obenauf lag unter einem weißen Laken ein Pelz von Hasenfell, mit rotem Seidenstoff bezogen; darunter ein seidenes Kleid; dann ein Schal; weiter nach unten hin schienen nur noch lauter Lumpen zu liegen. Vor allen Dingen wischte er sich die blutbefleckten Hände an dem roten Seidenstoff ab. ›Das Zeug ist rot; da wird auf dem Roten das Blut nicht so leicht zu merken sein‹, überlegte er, wurde sich aber plötzlich der Torheit dieser Überlegung bewußt. ›Mein Gott! Werde ich denn verrückt?‹ dachte er erschrocken.

    Sowie er aber unter den Lumpen zu kramen begann, glitt auf einmal unter dem Pelze eine goldene Uhr heraus. Nun machte er sich daran, alles umzuwühlen. Wirklich, zwischen den Lumpen lagen Goldsachen versteckt, wahrscheinlich lauter Pfandstücke, verfallene und noch nicht verfallene: Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und dergleichen. Manche dieser Gegenstände befanden sich in Futteralen; andere waren einfach in Zeitungspapier gewickelt, aber sorgsam und ordentlich, in doppelte Bogen, und mit Band verschnürt. Ohne zu zaudern, stopfte er sie sich in die Hosentaschen und Paletottaschen; die Päckchen und Futterale zu öffnen und zu untersuchen, darauf ließ er sich nicht ein.

    Aber er hatte noch nicht viel eingesteckt, da hörte er plötzlich in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er hielt inne und horchte, still wie ein Toter. Aber es war alles ruhig; also war es doch wohl nur Einbildung gewesen. Da vernahm er ganz deutlich einen leichten Aufschrei, oder vielmehr: es war, wie wenn jemand ein leises, kurzes Stöhnen ausstieß und dann verstummte. Darauf herrschte wieder Totenstille, eine oder zwei Minuten lang. Er kauerte bei der Truhe und wartete, kaum atmend; aber dann sprang er hastig auf, ergriff das Beil und lief aus dem Schlafzimmer.

    Mitten im Zimmer stand Lisaweta, ein großes Bündel in der Hand, und blickte, starr vor Entsetzen, auf die ermordete Schwester hin. Sie war weiß wie Linnen und hatte, wie es schien, nicht die Kraft zu schreien. Als sie ihn hereinstürmen sah, zitterte sie, leise bebend, wie Espenlaub, und über ihr ganzes Gesicht lief ein krampfhaftes Zucken. Sie hob die eine Hand, öffnete den Mund ein wenig, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam nach rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen. Dabei sah sie ihn starr und unverwandt an, schrie aber immer noch nicht, als wenn ihr dazu die Luft fehlte. Er stürzte mit dem Beile auf sie zu. Sie verzog die Lippen so kläglich, wie man es bei ganz kleinen Kindern sieht, wenn sie vor etwas erschrecken, den furchterregenden Gegenstand anstarren und eben losschreien wollen. Und diese unglückliche Lisaweta war nun einmal dermaßen einfältig, verprügelt und eingeschüchtert, daß sie selbst jetzt nicht die Hände aufhob, um ihr Gesicht zu schützen, was doch die natürlichste und notwendigste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, da das Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie hob nur die freie linke Hand ein wenig in die Höhe, aber lange nicht bis zum Gesichte, und streckte sie langsam nach vorn gegen ihn aus, als wenn sie ihn von sich abhalten wollte. Der Schlag traf sie mitten auf den Schädel, mit der Schneide, und hieb mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis zum Scheitel durch. Sie stürzte sofort zu Boden. Raskolnikow wußte einen Augenblick gar nicht recht, was er tat: er ergriff ihr Bündel und warf es wieder von sich; dann lief er ins Vorzimmer.

    Die Angst in ihm wuchs immer mehr, namentlich nach diesem zweiten, so völlig unerwarteten Morde. So schnell wie möglich wollte er von hier weg. Und wenn er in diesem Augenblicke fähig gewesen wäre, alles richtig zu sehen und zu beurteilen, wenn er sich auch nur von der ganzen Schwierigkeit seiner Lage, von ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrer Gräßlichkeit und Absurdität hätte eine Vorstellung machen können, wenn er imstande gewesen wäre, zu begreifen, wie viele Hindernisse er noch werde überwinden, ja, wie viele Verbrechen er vielleicht noch werde begehen müssen, um von hier wegzukommen und nach Hause zu gelangen: so hätte er vielleicht alles stehen- und liegenlassen und wäre sofort hingegangen, um sich selbst anzuzeigen, und zwar nicht einmal aus Angst um sich selbst, sondern lediglich aus Entsetzen und Ekel über das, was er getan hatte. Namentlich der Ekel wurde in ihm von einem Augenblicke zum andern immer größer und heftiger. Um keinen Preis wäre er jetzt zu der Truhe oder auch nur in das Zimmer zurückgegangen.

    [Nachtatverhalten]
    "
    Raskolnikows Aufsatz im Gesamtkapitel 19
    Zusammenfassung: In dem Aufsatz entwickelt Raskolnikow erstens die Theorie der gewöhnlichen (niedrigen) und außergewöhnlichen (höherstehenden)  Menschen, die sich das Recht um höherer Ziele und Werte willen nehmen, Verbrechen gegen die zu begehen, sofern sie diesen Zielen und Werte im Wege stehen, also keine beliebigen Opfer. Die Geschichte sei voll davon: "Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so fort". Zweitens stellt er die These auf, dass die Ausführung des Verbrechens immer mit einem Krankheitszustand einhergehe, wofür er allerdings Argumente und Beispiele schuldig bleibt und was auch allgemein falsch ist, wenn es auch in seinem persönlichen Fall stimmt, wofür der Widerstreit des Für und Wider und die damit verbundene sehr starke Ambivalenz verantwortlich sein dürfte.

        »Sie glauben es wohl nicht? Warten Sie nur, ich werde Sie auch noch einmal anführen – ha-ha-ha! Nein, wissen Sie, ich wollte Ihnen noch etwas im Ernste sagen. Wir reden hier über Streitfragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleine Mädchen usw.: dabei ist mir jetzt ein Aufsatz von Ihnen eingefallen, der mich übrigens schon immer interessiert hat. ›Über das Verbrechen‹ oder wie Sie ihn betitelt haben; ich habe die Überschrift vergessen, ich besinne mich nicht darauf. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst zu lesen.«
        »Meinen Aufsatz? In der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst?« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe allerdings vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ, durch die Lektüre eines Buches angeregt, einen solchen Aufsatz geschrieben; aber ich habe ihn damals der Wissenschaftlichen Wochenschrift und nicht der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst eingereicht.«
        »Aber erschienen ist er in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst.«
        »Die Wissenschaftliche Wochenschrift ging ein; darum wurde er nicht gedruckt . . .«
        »Ganz richtig; aber die Wissenschaftliche Wochenschrift wurde bei ihrem Eingehen mit der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst verschmolzen, und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten in der letzteren. Haben Sie das nicht gewußt?«
        Raskolnikow wußte wirklich nichts davon.
        »Aber ich bitte Sie! Sie können doch von der Zeitschrift ein Honorar für Ihren Aufsatz verlangen! Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie leben so zurückgezogen, daß Ihnen nicht einmal Dinge, die Sie direkt angehen, bekannt sind. Was ich Ihnen gesagt habe, ist eine Tatsache!«
        »Hurra, Rodja! Ich habe auch nichts davon gewußt!« rief Rasumichin. »Ich gehe noch heute in den Lesesaal und lasse mir die Nummer geben! Vor zwei Monaten ist es gewesen? Weißt du das Datum, Porfirij? Nun, das tut nichts; ich werde den Aufsatz schon finden. Das ist ja famos! Und davon sagt er einem nichts!«
        »Woher haben Sie denn erfahren, daß der Aufsatz von mir war? Er war doch nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«
        »Das habe ich nur zufällig erfahren, und erst in diesen Tagen. Vom Redakteur; ich bin mit ihm bekannt . . . Der Aufsatz hat mich außerordentlich interessiert.«
        »Soweit ich mich erinnere, erörterte ich den Seelenzustand des Verbrechers während seiner ganzen Beschäftigung mit dem Verbrechen.«
        »Jawohl, und Sie behaupten, daß die eigentliche Ausführung des Verbrechens immer von einem Krankheitszustande begleitet sei. Sehr originell, in der Tat; aber . . . was mich interessierte, war eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein Gedanke, den Sie am Ende Ihres Aufsatzes äußern, aber leider nur andeuten, ohne ihn klar auszuführen . . . Kurz, wenn Sie sich erinnern, es wird dort darauf hingedeutet, daß es auf der Welt Individuen gibt, die allerlei Exzesse und Verbrechen begehen können, . . . das heißt, nicht bloß können, sondern ein Recht dazu haben, und daß für sie die Gesetze nicht geschrieben sind.«
        Raskolnikow lächelte über diese gewaltsame, absichtliche Entstellung seines Gedankens.
        »Wie? Was ist das? Ein Recht, Verbrechen zu begehen? Aber doch nicht, weil ›die Gesellschaft‹ daran schuld wäre?« erkundigte sich Rasumichin ganz erschrocken.
        »Nein, nein, nicht eigentlich deswegen«, antwortete Porfirij. »Der Kern der Sache ist, daß in Herrn Raskolnikows Aufsatze alle Menschen in gewöhnliche und außerordentliche eingeteilt werden. Die gewöhnlichen sind zum Gehorsam verpflichtet und haben kein Recht, das Gesetz zu überschreiten, eben deswegen, weil sie nur gewöhnliche Menschen sind. Aber die außerordentlichen haben das Recht oder gar die Pflicht, allerlei Verbrechen zu begehen und in jeder Weise das Gesetz zu übertreten, eben darum, weil sie außerordentliche Menschen sind. So steht es ja wohl in Ihrem Aufsatze, wenn ich nicht irre?«
        »Aber wie denn? So kann es doch unmöglich dastehen?« murmelte Rasumichin verblüfft.
        Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte gleich von vornherein durchschaut, wie die Sache lag und wohin er gebracht werden sollte; seinen Aufsatz hatte er ganz gut im Gedächtnis. Er beschloß, die Herausforderung anzunehmen.
        »Ganz so steht es allerdings nicht in meinem Aufsatze«, begann er schlicht und bescheiden. »Indessen gebe ich zu, daß Sie den Gedanken annähernd richtig wiedergegeben haben, und wenn Sie das gern hören, sogar vollständig richtig . . .« (Er tat so, als mache es ihm Vergnügen, zuzugeben, daß die Wiedergabe vollständig richtig sei.) »Der Unterschied ist nur der, daß ich gar nicht behaupte, außerordentliche Menschen müßten und sollten unter allen Umständen allerlei Exzesse begehen, wie Sie sagen. Ich meine sogar, der Druck eines solchen Aufsatzes wäre gar nicht gestattet worden. Sondern ich habe ganz einfach darauf hingedeutet, daß ein außerordentlicher Mensch das Recht habe, . . . das heißt, nicht ein offizielles Recht, sondern sozusagen ein persönliches Recht, seinem Gewissen die Überschreitung gewisser Hindernisse zu gestatten, aber einzig und allein in dem Falle, wenn die Durchführung seiner Idee (die mitunter vielleicht der gesamten Menschheit Heil und Segen bringt) dies verlangt. Sie äußerten sich dahingehend, daß mein Aufsatz unklar wäre; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich nicht, wenn ich annehme, daß Ihnen dies erwünscht ist; nun schön! Meine Ansicht ist also folgende: Wenn die Entdeckungen Keplers und Newtons infolge irgendwelcher Umstände den Menschen schlechterdings nicht anders hätten bekannt werden können als dadurch, daß das Leben von einem, von zehn, von hundert usw. Menschen zum Opfer gebracht wurde, die der Veröffentlichung dieser Entdeckungen störend oder hindernd im Wege standen, so hätte Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, . . . diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekannt zu machen. Daraus folgt jedoch durchaus nicht, daß Newton das Recht gehabt hätte, jeden beliebigen Menschen, der ihm gerade in die Quere kam, totzuschlagen oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Ferner entwickelte ich, meiner Erinnerung nach, in meinem Aufsatze den Gedanken, daß alle . . . nun, sagen wir zum Beispiel alle Gesetzgeber und Führer der Menschheit, von den ältesten angefangen, und dann weiter Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so fort – daß diese alle, ohne Ausnahme, Verbrecher waren, schon allein deswegen, weil sie durch die neuen Gesetze, die sie gaben, die alten, von den Vätern überkommenen und von der Gesellschaft für heilig erachteten Gesetze verletzten und natürlich auch vor Blutvergießen nicht zurückschraken, wenn allein dieses Blutvergießen (und es handelte sich dabei oft um ganz unschuldiges Blut, das heldenmütig bei der Verteidigung der alten Gesetze vergossen wurde) ihnen zur Durchführung ihrer Absichten helfen konnte. Es ist sogar beachtenswert, daß die allermeisten dieser Wohltäter und Führer der Menschheit skrupellos Ströme von Menschenblut vergossen haben. Kurz, ich kam zu dem Ergebnis, daß nicht nur die eigentlich großen Männer, sondern auch diejenigen, die nur einigermaßen fähig sind, neue Bahnen einzuschlagen, das heißt, die nur einigermaßen imstande sind, etwas Neues zu sagen, daß diese alle zufolge ihrer Natur Verbrecher sein müssen – selbstverständlich mehr oder weniger. Sonst würde es ihnen schwer werden, aus den alten Bahnen herauszukommen; und andrerseits, in den alten Bahnen zu verharren, damit können sie sich auch nicht bescheiden, wiederum zufolge ihrer Natur, und meiner Ansicht nach dürfen sie sich sogar nicht einmal damit bescheiden. Kurz, Sie sehen, daß bis dahin in meinen Ausführungen nichts besonders Neues liegt. Das alles ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden. Was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und außerordentliche anlangt, so gebe ich zu, daß sie einigermaßen willkürlich ist; aber ich stelle ja auch keine bestimmten Zahlen auf. Wert lege ich nur auf meinen Hauptgedanken, und dessen Inhalt ist eben der, daß die Menschen nach einem Naturgesetze sich tatsächlich in zwei Klassen scheiden: in eine niedrige, die der gewöhnlichen Menschen, das heißt sozusagen das Material, das lediglich zur Fortpflanzung der Menschheit dient, und in eigentliche Menschen, das heißt solche, die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrem Wirkungskreise ein neues Wort auszusprechen. Unterabteilungen gibt es hier natürlich unzählige; aber die unterscheidenden Merkmale der beiden Klassen sind doch recht scharf ausgeprägt: die erste Klasse, also das Material, um einen zusammenfassenden Ausdruck zu gebrauchen, bilden diejenigen Menschen, die ihrer Natur nach konservativ und wohlgesittet sind, in ruhigem Gehorsam dahinleben und mit Vergnügen gehorsam sind. Meiner Ansicht nach haben diese auch die Pflicht, gehorsam zu sein, weil das ihre Bestimmung ist, und darin liegt für sie durchaus nichts Erniedrigendes. Die Vertreter der zweiten Klasse dagegen übertreten sämtlich das Gesetz; sie sind Zerstörer oder neigen wenigstens zur Zerstörung, je nach dem Maße ihrer Fähigkeiten. Die Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich nach Grad und Art sehr verschieden; größtenteils verlangen sie, in sehr mannigfaltigen Erscheinungsformen, die Zerstörung des Bestehenden zum Zwecke der Erreichung von etwas Besserem. Sollte aber ein solcher Mensch im Interesse seiner Idee es als nötig erkennen, selbst über Leichen und durch Blut vorwärtszuschreiten, so kann er nach meiner Ansicht sich innerlich, in seinem Gewissen, selbst die Erlaubnis erteilen, auch durch Blut dahinzuschreiten, jedoch nur in dem Umfange, wie es zur Verwirklichung der Idee erforderlich ist – wohl zu merken. Nur in diesem Sinne rede ich in meinem Aufsatze von einem Rechte dieser Menschen, Verbrechen zu begehen (Sie erinnern sich, daß wir von einer juristischen Frage ausgingen). Übrigens ist kein Anlaß, sich über diese ganze Sache besonders aufzuregen; die große Masse erkennt dieses Recht der außerordentlichen Menschen fast niemals an, sondern köpft und hängt sie (mehr oder weniger) und erfüllt dadurch in durchaus rechtmäßiger Weise ihre konservative Bestimmung; nur ist der weitere Verlauf oft der, daß in den nachfolgenden Generationen ebendiese große Masse die Hingerichteten auf Piedestale stellt und feiert (auch hier setze ich hinzu: mehr oder weniger). Die erste Klasse ist stets die Beherrscherin der Gegenwart, die zweite die der Zukunft. Die ersten erhalten die Welt und vermehren sie numerisch; die andern bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Die einen und die andern haben eine völlig gleiche Existenzberechtigung. Kurz, nach meiner Ansicht haben alle ein gleich wohlbegründetes Recht; und: vive la guerre éternelle! Natürlich, bis das neue Jerusalem kommt!«
        »Also glauben Sie doch, daß das neue Jerusalem einmal kommen wird?«
        »Das glaube ich«, antwortete Raskolnikow fest. Er blickte bei diesen Worten, wie schon während seiner ganzen langen Darlegung, zu Boden, wo er sich einen Punkt auf dem Teppich ausgesucht hatte.
        »Und . . . und . . . und glauben Sie an Gott? Verzeihen Sie meine dreiste Frage!«
        »Ich glaube an ihn«, erwiderte Raskolnikow; dabei blickte er auf und sah Porfirij an.
        »Und . . . und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?«
        »J–ja. Wozu diese Fragen?«
        »Glauben Sie daran im buchstäblichen Sinne?«
        »Allerdings.«
        »So, wirklich! . . . Nun, ich fragte nur so aus neugierigem Interesse; entschuldigen Sie. Aber wenn ich auf unser voriges Thema zurückkommen darf, gestatten Sie einen Einwand: die außerordentlichen Menschen werden doch nicht immer hingerichtet; manche haben doch auch ein ganz entgegengesetztes Los.«
        »Sie meinen: sie triumphieren noch bei Lebzeiten? O ja, manche erreichen das noch bei Lebzeiten, und dann . . .«
        »Dann fangen sie selbst an, hinzurichten?«
        »Wenn es nötig ist, ja; und, wissen Sie, das ist eigentlich meist der Fall. Ihre Bemerkung war sehr scharfsinnig.«
        »Danke. Aber nun, bitte, sagen Sie mir noch eins: wodurch soll man diese außerordentlichen Menschen von den gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es vielleicht schon bei der Geburt derartige Merkmale? Ich werfe diese Frage deshalb auf, weil hier doch möglichst große Klarheit, sozusagen eine mehr äußerliche Bestimmbarkeit erforderlich wäre; entschuldigen Sie die Besorgnis, die mir als einem im praktischen Leben stehenden, ordnungsliebenden Manne naheliegt; aber könnte man da nicht zum Beispiel eine besondere Kleidung einführen, oder daß sie irgendein Abzeichen trügen, etwa einen Stempel oder so etwas? Denn Sie werden selbst zugeben müssen, wenn es da zur Konfusion kommen sollte und einer aus der einen Klasse sich einbildete zur andern Klasse zu gehören und nun anfinge, ›alle Hindernisse zu beseitigen‹, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, dann würde doch . . .«
        »Oh, das kommt sehr häufig vor. Diese Ihre Bemerkung ist sogar noch scharfsinniger als die vorige.«
        »Danke.«
        »Keine Ursache! Aber bedenken Sie, daß ein derartiger Irrtum nur von seiten der ersten Klasse möglich ist, das heißt, von Seiten der gewöhnlichen Menschen, wie ich sie mit einem vielleicht sehr wenig glücklich gewählten Ausdrucke genannt habe. Trotz der ihnen angeborenen Neigung zum Gehorsam, lieben (vermöge einer lebhaften Phantasie, wie sie selbst den Kühen nicht versagt ist) es dennoch sehr viele von ihnen, sich für Bahnbrecher und Zerstörer zu halten und sich auf neue Ideen zu kaprizieren, und zwar durchaus in gutem Glauben. Und diejenigen, die wirklich neue Werte schaffen, werden von ihnen dabei oft gar nicht beachtet und sogar als rückständig und niedrigdenkend geringgeschätzt. Aber eine erhebliche Gefahr kann meines Erachtens dadurch nicht hervorgerufen werden, und Sie haben wirklich keinen Anlaß zur Besorgnis; denn besonders weit geht diese Sorte von Menschen in ihren Exzessen niemals. Für ihr verblendetes Handeln könnte man ihnen ja manchmal die Rute geben, damit sie nicht vergessen, an welchen Platz sie gehören; aber auch nicht mehr. Auch bedarf es dabei gar nicht einmal eines Vollstreckers der Strafe; sie werden sich schon selbst die Rute applizieren, weil sie sehr moralisch sind: manche erweisen einander wechselseitig diesen Dienst, andere besorgen es bei sich eigenhändig . . . Sie legen sich dabei allerlei öffentliche Bußen auf – das macht sich sehr hübsch und erbaulich; kurz, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen . . . Dafür ist das Gesetz da.«
        »Nun, wenigstens in dieser Hinsicht haben Sie mich einigermaßen beruhigt; aber da ist noch ein anderer heikler Punkt: bitte, sagen Sie doch, gibt es viele solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, also solche ›Außerordentlichen‹? Ich bin natürlich durchaus bereit, mich denen zu beugen; aber Sie müssen selbst zugeben, es wäre doch eine ängstliche Geschichte, wenn ihrer gar zu viele wären; nicht wahr?«
        »Oh, auch darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Raskolnikow in demselben Tone fort. »Menschen mit neuen Ideen, ja selbst Menschen, die auch nur einigermaßen fähig sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt in außerordentlich geringer Anzahl geboren; es ist sogar geradezu merkwürdig, wie spärlich sie sind. Nur das eine ist klar: die Ordnung, in welcher die Menschen aller dieser Klassen und Unterabteilungen geboren werden, ist gewiß in bestimmter, genauer Weise durch ein Naturgesetz geregelt. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich zur Zeit unbekannt; aber ich glaube, daß es existiert und in der Folgezeit auch zu unserer Kenntnis gelangen kann. Das gewaltige Gros der Menschen, das Material, existiert in der Welt nur zu dem Zwecke, um schließlich durch eine Art von Anstrengung, durch einen bis jetzt noch geheimnisvollen Vorgang, vermittels irgendwelcher Kreuzung der Familien und Arten ein bestimmtes Resultat zu erzielen, nämlich einen einzigen, auch nur leidlich selbständig denkenden Menschen – sagen wir auf tausend einen – hervorzubringen. Mit größerer Selbständigkeit wird vielleicht einer auf zehntausend geboren (die Zahlen gebe ich nur beispielsweise, zur Veranschaulichung). Mit noch größerer einer auf hunderttausend. Von genialen Menschen kommt einer auf Millionen, und von den ganz großen Genies, die zur Vervollkommnung des Menschengeschlechtes beitragen, vielleicht eines auf viele tausend Millionen Menschen. Kurz, in die Retorte, in der sich dieser ganze Prozeß vollzieht, habe ich nicht hineingeschaut. Aber ein bestimmtes Gesetz existiert sicher und muß existieren; bloßer Zufall kann da nicht vorliegen.«
        »Sagt mal, macht ihr beide nur Spaß?« rief Rasumichin endlich. »Wollt ihr euch wechselseitig zum besten haben, oder wie ist das? Sitzen die beiden Menschen da und machen sich einer über den andern lustig! Oder hast du im Ernst geredet, Rodja?«
        Raskolnikow hob sein bleiches, beinahe trauriges Gesicht und sah ihn an, ohne zu antworten. Und einen merkwürdigen Eindruck machte auf Rasumichin im Gegensatze zu diesem stillen, traurigen Gesichte der unverhohlene, dreiste, verletzende Spott auf dem Gesichte Porfirijs.
        »Nun, Bruder, wenn du wirklich im Ernste geredet hast, so . . . Du hast natürlich ganz recht, wenn du sagst, daß das nicht neu sei und daß wir es ähnlich schon tausendmal gelesen und gehört hätten; aber was tatsächlich an alledem originell und, zu meinem Schrecken, dein ausschließliches geistiges Eigentum ist, das ist die Erlaubnis, die du den Menschen erteilst, nach ihrem Gewissen Blut zu vergießen; und das tust du sogar mit einem wahren Fanatismus, nimm's nicht übel! . . . Das ist also wohl auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes. Diese, diese Erlaubnis, nach eigenem Gewissen Blut zu vergießen, die . . . die ist nach meiner Meinung schrecklicher, als es eine offizielle, gesetzliche Erlaubnis, Blut zu vergießen, sein würde . . .«
        »Durchaus richtig, diese ist schrecklicher«, stimmte ihm Porfirij bei.
        »Nein, da hast du dich von deinem Eifer hinreißen lassen! Da liegt ein Irrtum vor. Ich will deinen Aufsatz durchlesen . . . Du hast dich hinreißen lassen! So kannst du ja gar nicht denken . . . Ich werde es lesen.«
        »In meinem Aufsatze steht das alles nicht; da sind nur Andeutungen gegeben«, erwiderte Raskolnikow.
        »Jawohl, jawohl«, sagte Porfirij und rückte erregt auf seinem Stuhle hin und her, »jetzt ist es mir ziemlich klar geworden, wie Sie das Verbrechen ansehen; aber . . . entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit (ich belästige Sie gar zu sehr; ich schäme mich selbst) – sehen Sie mal: Sie haben mich vorhin recht beruhigt in bezug auf Fälle irrtümlicher Vermengung der beiden Klassen; aber . . . es beunruhigen mich dabei immer noch allerlei in der Praxis mögliche Fälle! Wenn nun ein Mann oder ein Jüngling sich einbildet, er sei ein Lykurg oder ein Mohammed – in spe natürlich – und nun munter beginnt, alle Hindernisse zu beseitigen . . . Er sagt sich, der Weg zum Ziele sei lang, und zur Zurücklegung dieses Weges brauche er Geld, . . . und nun fängt er an, sich das Geld zu diesem Wege zu beschaffen, . . . Sie verstehen?«
        Sametow prustete in seiner Ecke plötzlich vor Lachen los. Raskolnikow wandte die Augen gar nicht zu ihm.
        »Ich muß zugeben«, antwortete er ruhig, »daß solche Fälle nicht ausbleiben können. Dumme, eitle Menschen sind dieser Versuchung besonders ausgesetzt, namentlich die Jugend.«
        »Sehen Sie wohl! Nun, und was dann?«
        »Dann hat es auch noch nicht viel zu sagen«, antwortete Raskolnikow lächelnd, »ich bin doch jedenfalls nicht daran schuld. Es ist nun einmal so und wird nie anders werden. Der hier« (er wies auf Rasumichin) »sagte eben, ich gäbe die Erlaubnis zum Blutvergießen. Nun, was macht das? Die Gesellschaft hat sich doch durch Verschickung nach Sibirien, durch Gefängnisse, Untersuchungskommissare und Zuchthäuser genug und übergenug gesichert: wozu sich da also beunruhigen? Mag man den Verbrecher suchen!«
        »Und wenn wir ihn finden?«
        »Dann mag er bestraft werden.«
        »Sie denken außerordentlich logisch. Und wie steht es mit seinem Gewissen?«
        »Was kümmert Sie sein Gewissen?«
        »Nun, ich frage nur so – aus Humanität.«
        »Wer ein Gewissen hat, der mag leiden, wenn er zur Erkenntnis seines Irrtums kommt. Auch das ist eine Strafe für ihn, die noch zur Zuchthausstrafe hinzukommt.«
        »Nun, und die wirklich Genialen«, fragte Rasumichin mit finsterer Miene, »also die, denen das Recht zu morden gegeben ist, die sollen gar nicht leiden, auch nicht für vergossenes Blut?«
        »Was soll hier der Ausdruck ›sollen‹? Es handelt sich hier weder um eine Erlaubnis noch um ein Verbot. Mag ein solcher leiden, wenn ihm sein Opfer leid tut. Wo eine umfassende Erkenntnis und ein tief empfindendes Herz vorhanden sind, da bleiben auch Leid und Schmerz nicht aus. Die wahrhaft großen Menschen müssen, wie ich glaube, auf der Welt eine große Traurigkeit empfinden«, fügte er in düsterem Nachdenken hinzu, gar nicht im Gesprächstone.
        Er blickte auf, sah alle nachdenklich an, lächelte und griff nach seiner Mütze. Er war gar zu ernst geworden im Vergleich mit der Lustigkeit bei seinem Eintritte, und er fühlte das. Alle standen auf.
        »Na, mögen Sie nun auf mich schimpfen oder nicht, auf mich wütend werden oder nicht, ich kann nicht umhin, noch ein Wort hinzuzufügen«, sagte Porfirij Petrowitsch zum Schluß. »Gestatten Sie mir nur noch eine kleine Frage (ich mache mir Vorwürfe, Sie so zu belästigen); nur einen einzigen kleinen Einfall möchte ich aussprechen, nur um ihn nicht zu vergessen . . .«
        »Schön, sagen Sie Ihren kleinen Einfall!« erwiderte Raskolnikow, der ernst und blaß vor ihm stand und wartete.
        »Ich meine so: . . . Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich mich am passendsten ausdrücken soll . . . Der Einfall ist zu komisch, . . . aus dem Gebiete der Psychologie . . . Ich meine so: als Sie Ihren Aufsatz schrieben, da haben Sie selbst sich doch notwendigerweise, he-he-he, wenigstens ein ganz klein bißchen auch für einen außerordentlichen Menschen gehalten, der ›etwas Neues sprechen‹ könne, in dem Sinne, wie Sie diesen Ausdruck gebrauchen . . . Ist's nicht so?«
        »Sehr möglich!« erwiderte Raskolnikow geringschätzig. Rasumichin machte eine Bewegung.
        »Wenn nun dem so ist, hätten Sie sich wirklich selbst entschlossen, na, in einer bestimmten Lage, angesichts irgendwelcher Schicksalsschläge und Bedrängnisse oder auch zur Förderung des Wohles der ganzen Menschheit – hätten Sie sich entschlossen, über ein Hindernis hinwegzuschreiten? . . . Nun, zum Beispiel, zu morden und zu rauben?«
        Wieder machte es den Eindruck, als zwinkere er ihm mit dem linken Auge zu und lache lautlos – genau wie eine Weile vorher.
        »Wenn ich wirklich über ein Hindernis hinwegschritte, so würde ich es Ihnen natürlich nicht sagen«, antwortete Raskolnikow mit herausfordernder, hochmütiger Verachtung.
        »Nicht doch, ich frage ja doch nur aus ganz harmlosem Interesse, eigentlich nur, um Ihren Aufsatz besser verstehen zu können, vom rein literarischen Gesichtspunkte aus.«
        ›Pfui, wie unverhohlen und unverschämt er redet!‹ dachte Raskolnikow mit Ekel.
        »Gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären«, entgegnete er trocken, »daß ich mich nicht für einen Mohammed oder Napoleon halte und überhaupt für keinen Menschen von solcher Art; da ich also ein derartiger Mensch nicht bin, so kann ich Ihnen auch keine befriedigende Auskunft darüber geben, wie ich handeln würde.«
        »Nun, lassen Sie's gut sein; wer hält sich jetzt bei uns in Rußland nicht für einen Napoleon?« erwiderte Porfirij auf einmal in außerordentlich familiärer Redeweise. Sogar in seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.
        »Wenn nur nicht auch so ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit dem Beile totgeschlagen hat!« platzte der im Winkel sitzende Sametow heraus."
     
     
     
     
     



    Signierungssystem Dimensionen des Erlebens. * Kürzel Dimensionen des Erleben.

    Signierungssystem Erleben (Quelle)  7. Version 28.04.2023 Literaturkennzeichnungen überarbeitet.
     
    e
    <  Erleben      Differenzierung     > Erlebnis
    E
    e0
    wach, erlebnisfähig
    E0
    e1
    dabei, zugegen, Zeuge
    E1
    e2
    innere Wahrnehmung
    E2
    e3
    besonderes 
    E3
    er
    reines Erleben, Erlebnis
    Er
    epr
    praktisch reines Erleben, Erlebnis
    Epr
    es
    spezielles
    Es
    eL
    _
    _
    eLS
    _
    _
    eLd
    _
    eLb
    _
    _
    eLK
    _
    erleben und Erlebnis in der Literatur
    ohne nähere Spezifikation

       Erleben/Erlebnis des Schöpfers beim Schaffen, wovon wir
       gewöhnlich nichts wissen. 

       Dargestelltes direktes Erleben/Erlebnis im Werk. Der 
       Schriftsteller lässt eine Figur von ihrem Erleben erzählen.

       Beschriebenes oder berichtetes Erleben/Erlebnis im 
       Werk. Der Schriftsteller beschreibt oder berichtet von
       einem Erleben einer Figur.

    Erleben / Erlebnis der Konsumentin einzelner Passagen,
       Teile oder des Gesamtwerks.

    EL
    _
    _
    ELS
    _
    _
    ELd
    _
    ELb
    _
    _
    ELK
    e?
    unklar
    E?
    eg
    sachlich-gegenständlich
    Eg
    ea
    affektives Erleben
    Ea
    ek
    kognitives Erleben
    Ek
    eak
    sowohl affektiv als auch kognitiv
    Eak
    ez
    zentriert auf den Erlebnischarakter
    Ez

    Anmerkung Carnap: hier ist EE für Elementarerlebnis
    vorgesehen, obwohl unklar ist, was ein Elementarerlebnis
    von einem Erlebnis unterscheidet.
     
     



    Literatur (Auswahl) > Text.



    Links (Auswahl: beachte)
    • Gutenberg-Projekt: https://www.projekt-gutenberg.org/dostojew/schuldsu/schuldsu.html
    • Zusammenfassungen der Kapitel: [wayback]
    • Die normal-psychologischen und natürlichen Grundlagen des Faschismus.




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    __
    Schuld und Sühne
    Eine neuere Übersetzung wählt den Titel "Verbrechen und Strafe". Zum Titel äußert sich auch das Kindler Literatur Lexikon: "(russ.; Schuld und Sühne). »Roman in sechs Teilen mit einem Epilog« von Fëdor M. Dostoevskij, erschienen 1866. – Der Titel des großen Romans ist mit Schuld und Sühne nicht ganz zutreffend übersetzt. Die russischen Termini sind mehr juristische als moralphilosophische Begriffe, enthalten allerdings auch den Hinweis auf die ethischen Grundlagen des Rechts. Besser als der in Deutschland eingebürgerte Titel wäre deswegen »Verbrechen und Strafe«, noch genauer: »Übertretung und Zurechtweisung«. Ein Mensch »übertritt« durch einen Mord die ethischen und bürgerlichen Gesetze; er wird »zurechtgewiesen« zuerst durch die sühnende Kraft der Strafe, dann durch die heilende Kraft der Liebe." Hierzu auch Wikipedia zum  Titel.
        Die Erlebens-Analyse dieser Seite folgt der Darstellung im Gutenberg-Projekt: https://www.projekt-gutenberg.org/dostojew/schuldsu/schuldsu.html
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    Querverweise
    Standort: Erlebnisregister Literaturanalysen Raskolnikow.
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Erleben und Erlebnis in Raskolnikows Seele in Dostojewskis Roman Schuld und Sühne (1866). Erlebnisregister Literaturanalysen. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/erleben/Erlebnisregister/Literatur/LA-Raskolnikow.htm

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    korrigiert: 15.10.2024 irs Rechtschreibprüfung und gelesen



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    16.10.2024  Ersten Abschnitt nach Dimensionen des Erlebens analysiert, signiert und kommentiert.
    15.10.2024  irs Rechtschreibprüfung und gelesen.
    17.04.2023  Vorlage \g
    16.04.2023  Begonnen. Unter dem Eindruck des Literaturclubs vom 16.04.2023 auf 3sat, kann man die Literatur als große Erlebnisquelle verstehen.