Erlebnisregister Literaturanalysen
Erleben und Erlebnis in Raskolnikows
Seele
in Dostojewskis (1821-1881) Roman Schuld
und Sühne (1866)
Erlebensanalyse Raskolnikowd von Rudolf Sponsel, Erlangen
Editorial
Dostojewski ist ein Meister in der Darstellung seelischer Prozesse
und Entwicklungen. Diese Meisterschaft zeigt sich besonders in Dostojewskis
Schuld
und Sühne. Prof. Dr. Dr. Ludolf Müller fasst im Kindler-Literatur
Lexikon zusammen: "Schuld und Sühne, die erste und in formaler Hinsicht
vielleicht vollkommenste der fünf großen philosophischen Roman-Tragödien
Dostoevskijs, ist ein Kriminalroman von atemberaubender Spannung und gleichzeitig
vollendeter künstlerischer Ausdruck wesentlicher Probleme der Weltanschauung
des späten Dostoevskij, wie sie sich seit seiner sibirischen Zuchthauszeit
herausgebildet hatte."
Aufbau des Romans
Der Roman ist in 6 Teilen mit zwei Epilogen aufgebaut, wobei die Teile
in 1. bis 8. Kapitel gegliedert sind, insgesamt 41 Kapitel. Im letzten,
insgesamt 39. Kapitel, 8 im Teil 6, gesteht R. die beiden Morde bei der
Polizei.
Kapitel I-VI schildern die Entwicklung zur Tat
Kapitel VII schildert die zwei Morde, das unmittelbare Nachtatverhalten
und den Nachhauseweg
Rahmen, Hintergrund, Situation
Raskolnikow muss aus finanziellen Gründen sein Jurastudium abbrechen
(ca. ein halbes Jahr vor den Morden); um diese Zeit hatte er unter dem
Eindruck eines Buches einen Artikel in einer Zeitschrift veröffentlicht
genau zum Thema, was im 19. Gesamt-Kapitel erzählt wird; Schulden
bei der Wirtin, arm ("Er war so schlecht gekleidet, daß ein anderer,
selbst jemand, der die Armut schon gewohnt war, sich geschämt hätte,
bei Tage in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen."), abgesondert,
in sein eigenen Ich vergraben, aufgeregter und gereizter Gemütszustand.
_
"»Eine so große Sache planeI10
ich, und dabei fürchteI05
ich mich vor solchen Kleinigkeiten!«I14
dachteI07
er mit einem eigentümlichen LächelnI32.
»Hm . . . ja . . . alles hat der Mensch in seiner HandI40,
und doch läßt man sich alles an der Nase vorbeigehen, einzig
und allein aus FeigheitI05
. . . das ist schon so die allgemeine RegelI40,I23
. . . Merkwürdig: wovor fürchtenI05
die Menschen sich am meistenI41?
Am meisten fürchtenI05
sie sich vor einem neuen SchritteI41,
vor einem eignen neuen Worte . . . Übrigens schwatzeI20
ich viel zuvielI41,I42
. Darum handleI15
ich auch nicht, weil ich soviel schwatzeI20.
Vielleicht aber liegt die Sache auch soI41:
weil ich nicht handleI15,
darum schwatzeI20
ich. Da habe ich nun in diesem letzten Monat das SchwatzenI20
gelerntI21,
wenn ich so ganze Tage lang im Winkel lagI43
und an weiß Gott was dachteI07.
Nun also: wozuI40
geheI43
ich jetzt aus? Bin ich etwa imstande, das auszuführenI15?
Ist es mir etwa Ernst damit? Ganz und gar nicht. Ich amüsiereI05
mich nur mit einem müßigen Spiel der GedankenI07;
Tändelei! Ja, weiter nichts als Tändelei!«I42
"
Kommentar zum
Erleben dieses Abschnitts
Zentrales Thema ist die Scheu vor der Veränderung, dem Neuen,
wie man im Allgemeinen damit umgeht, vermeiden durch schwatzen statt handeln,
wie es geboten wäre. Welche Dimensionen des Erlebens eine Rolle spielen,
ist in den Erläuterungen oben ausgewiesen. Ich habe 27 Signierungen
von Dimensionen des Erlebens vorgenommen.
"›Hab ich's doch gewußt!‹ murmelte er bestürzt. ›Hab
ich's mir doch gedacht! Das ist das Allerwiderwärtigste! Irgendeine
Dummheit, irgendeine ganz gewöhnliche Kleinigkeit kann den ganzen
Plan verderben! Ja, der Hut ist zu auffällig . . . Er ist lächerlich,
und dadurch wird er auffällig. Zu meinen Lumpen ist eine Mütze
absolut notwendig, und wäre es auch irgend so ein alter Topfdeckel,
aber nicht dieses Ungetüm. So etwas trägt kein Mensch. Eine Werst
weit fällt den Leuten so ein Hut auf, und sie erinnern sich daran
. . . Ja, das ist es: sie erinnern sich seiner nachher, und schon ist der
Indizienbeweis da. Bei solchen Geschichten muß man möglichst
unauffällig sein, . . . die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten, die
sind die Hauptsache! Gerade diese Kleinigkeiten verderben immer alles .
. .‹
Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte
es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertunddreißig.
Er hatte sie einmal gezählt, als er sich sein Vorhaben schon lebhaft
ausmalte. Damals freilich glaubte er selbst noch nicht an diese seine Phantasiegemälde
und kitzelte nur sich selbst mit ihrer grauenhaften, aber verführerischen
Verwegenheit. Jetzt, einen Monat später, hatte er bereits angefangen,
die Sache anders zu betrachten, und trotz aller höhnischen Monologe
über seine eigene Schwäche und Unschlüssigkeit hatte er
sich unwillkürlich daran gewöhnt, das »grauenhafte«
Phantasiegemälde bereits als ein beabsichtigtes Unternehmen zu betrachten,
wiewohl er an seinen Entschluß noch immer selbst nicht recht glaubte.
Sein jetziger Ausgang hatte sogar den Zweck, eine Probe für sein Vorhaben
zu unternehmen, und mit jedem Schritte wuchs seine Aufregung mehr und mehr.
Das Herz stand ihm fast still, und ein nervöses Zittern überkam
ihn, als er sich einem kolossalen Gebäude näherte, das mit der
einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der . . . straße
zu lag. Dieses Haus hatte lauter kleine Wohnungen, in denen allerlei einfache
Leute wohnten: Schneider, Schlosser, Köchinnen, Deutsche verschiedenen
Berufes, alleinstehende Mädchen, kleine Beamte usw. Durch die beiden
Haustore und auf den beiden Höfen des Hauses war ein fortwährendes
Kommen und Gehen. Hier gab es drei oder vier Hausknechte zur Aufsicht.
Der junge Mann war sehr damit zufrieden, daß er keinem von ihnen
begegnete, und schlüpfte gleich vom Tore aus unbemerkt rechts eine
Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und eng, ein »Wirtschaftsaufgang«;
aber er hatte dies alles schon studiert und kannte es, und diese ganze
Örtlichkeit gefiel ihm: in solcher Dunkelheit war selbst ein neugierig
forschender Blick nicht weiter gefährlich. ›Wenn ich mich jetzt schon
so fürchte, wie würde es dann erst sein, wenn es wirklich zur
Ausführung der Tat selbst käme?‹ dachte er unwillkürlich,
während er zum dritten Stock hinaufstieg. Hier versperrten ihm Möbelräumer,
entlassene Soldaten, den Weg, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen.
Er hatte schon früher in Erfahrung gebracht, daß hier eine deutsche
Beamtenfamilie wohnte. ›Also dieser Deutsche zieht jetzt aus; folglich
ist für einige Zeit im dritten Stock an diesem Aufgang und an diesem
Treppenabsatz die Wohnung der Alten als einzige bewohnt. Das ist günstig
. . . für jeden Fall‹, überlegte er wieder und klingelte an der
Tür der Alten. ..."
"Raskolnikow ging in hochgradiger Erregung hinaus. Und seine Erregung
wuchs noch immer mehr. Als er die Treppe hinunterstieg, blieb er sogar
einigemal stehen, wie wenn ihn ein Gedanke plötzlich ganz übermannt
hätte. Und endlich – er war schon auf der Straße – rief er aus:
»O Gott, wie scheußlich das alles ist!
Werde ich denn . . . werde ich denn wirklich . . . nein, das ist ja ein
Unsinn, eine Absurdität!« fügte er entschlossen hinzu.
»Wie konnte mir so etwas Gräßliches überhaupt nur
in den Sinn kommen? Welcher schmutzigen Gedanken ist meine Seele doch fähig!
Ja, es ist eine schmutzige, abscheuliche, ekelhafte, Sache. Und ich habe
einen ganzen Monat lang . . .«
Aber keine Worte und keine Ausrufe waren imstande,
seiner Erregung Ausdruck zu geben. Das Gefühl eines gewaltigen Ekels,
das schon vorhin sein Herz bedrückt und beklemmt hatte, als er noch
auf dem Wege zu der Alten gewesen war, nahm jetzt solche Dimensionen an
und trat in solcher Schärfe hervor, daß er nicht wußte,
was er vor Unruhe tun sollte. ..."
"II
"III
"IV
Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehen wollte,
regte ihn in Wirklichkeit mehr auf, als er selbst glaubte; voll Unruhe
suchte er irgendwelchen für ihn unheilverkündenden tieferen Sinn
in diesem anscheinend ganz gewöhnlichen Vorhaben.
›Wollte ich denn die ganze Angelegenheit einzig
und allein durch Rasumichins Beihilfe in Ordnung bringen, und glaubte ich,
bei Rasumichin Rettung aus aller Not zu finden?‹ fragte er sich verwundert.
Er sann nach und rieb sich die Stirn, und – seltsam!
– ganz unvermutet, plötzlich und fast von selbst kam ihm nach langer
Überlegung ein sonderbarer Gedanke.
›Hm . . . zu Rasumichin‹, sagte er im Tone einer
endgültigen Entscheidung vor sich hin und fühlte sich auf einmal
völlig ruhig, ›zu Rasumichin werde ich gehen, bestimmt, . . . aber
nicht jetzt gleich. Ich will zu ihm hingehen am Tage nach der betreffenden
Sache, wenn die bereits erledigt ist und mein ganzes Leben einen neuen
Anfang nimmt.‹
Und auf einmal kam er zur Besinnung.
»Nach der betreffenden Sache!« rief er und sprang von der
Bank auf. »Aber wird die denn stattfinden? Wird sie wirklich stattfinden?«
Er verließ die Bank und ging weiter, er lief
beinahe. Er war schon im Begriff, umzukehren und nach Hause zu gehen; aber
hiergegen stieg ihm ein furchtbarer Ekel auf: dort, in jenem gräßlichen,
schrankartigen Kämmerchen, war schon seit mehr als einem Monat dieser
ganze Plan in seinem Gehirne herangereift – und er ging immer geradeaus
weiter."
Er erwachte, ganz in Schweiß gebadet, mit
feuchtem Haar, keuchend, und stand angstvoll auf.
»Gott sei Dank«, sagte er, »es
war nur ein Traum.« Er setzte sich unter einen Baum und holte tief
Atem. »Aber wie kommt das? Kündigt sich ein hitziges Fieber
bei mir an? So ein grauenhafter Traum!«
Am ganzen Körper fühlte er sich wie zerschlagen;
trüb und dunkel war es in seiner Seele. Er setzte die Ellbogen auf
die Knie und stützte den Kopf in beide Hände. »Mein Gott!«
rief er aus. »Werde ich denn wirklich, wirklich ein Beil nehmen,
sie auf den Kopf schlagen, ihr den Schädel zerschmettern, . . . werde
ich in das glitschige, warme Blut treten, das Schloß erbrechen, stehlen
und zittern, mich verstecken, ganz mit Blut befleckt, . . . mit dem Beile
. . . Mein Gott, kann das wirklich geschehen?«
Er zitterte, während er das sagte, wie Espenlaub.
»Aber was ist denn mit dir!« fuhr er,
sich wieder aufrichtend, in tiefem Staunen fort. »Ich habe ja doch
gewußt, daß ich es nicht würde ertragen können; also
warum habe ich mich denn bis jetzt mit diesem Plane gequält? Erst
gestern noch, als ich hinging, um diese Probe anzustellen, erst gestern
noch wurde es mir vollständig klar, daß ich es nicht aushalten
kann . . . Was will ich denn nun jetzt noch? Warum zweifle ich denn noch
immer? Gestern, als ich die Treppe hinunterging, habe ich ja selbst gesagt,
daß es gemein, häßlich, niedrig, ja niedrig ist; der bloße
Gedanke hat ja ausgereicht, mir Übelkeit hervorzurufen und mich in
Schrecken zu versetzen . . .
Nein, ich werde es nicht aushalten, ich werde es
nicht aushalten! Und wenn auch in all diesen Berechnungen kein einziger
zweifelhafter Punkt ist; und wenn auch alles, was ich mir in diesem Monate
zurechtgelegt habe, klar wie der Tag und richtig wie das Einmaleins ist.
O Gott! Ich werde mich ja doch nicht dazu entschließen! Ich werde
es nicht aushalten können, nein! . . . Warum . . . warum habe ich
nur bis jetzt . . .« [Zweifel, Ambibalenz]
Er stand auf, blickte erstaunt um sich, wie in Verwunderung
darüber, daß er hierhergeraten war, und ging nach der T . .
. brücke. Er war blaß, die Augen brannten ihm, alle seine Glieder
waren matt und kraftlos; aber auf einmal hatte er die Empfindung, daß
er wieder freier atmen könne. Er fühlte, daß er diese schreckliche
Last, die ihn so lange bedrückt hatte, nunmehr abgeworfen habe, und
es wurde ihm auf einmal leicht und friedlich ums Herz. ›O Gott‹ betete
er, ›zeige mir meinen Weg, und ich entsage diesem unseligen Plane!‹
Als er über die Brücke ging, betrachtete
er still und ruhig die Newa und die leuchtend rot untergehende Sonne. Trotz
seiner Schwäche verspürte er eigentlich keine Müdigkeit.
Es war, als ob an seinem Herzen plötzlich ein Geschwür aufgegangen
wäre, das sich einen ganzen Monat lang entwickelt hatte. Freiheit!
Freiheit! Jetzt war er frei von dieser Bezauberung, dieser Behexung, diesem
Taumel, dieser Verlockung!
...
Raskolnikow war nun schon an ihnen vorbei und hörte
nichts mehr. Er war sachte und unauffällig vorbeigegangen, bemüht,
kein Wort von dem Gespräche sich entgehen zu lassen. Sein anfängliches
Staunen ging allmählich in Schrecken über, und Kälte lief
ihm über den Rücken. Er hatte erfahren, plötzlich und ganz
unerwartet erfahren, daß morgen, genau um sieben Uhr abends, Lisaweta,
die Schwester der Alten und deren einzige Wohnungsgenossin, nicht zu Hause
sein werde und daß also die Alte genau um sieben Uhr abends allein
zu Hause war. [Gelegenheit]
Bis zu seiner Wohnung hatte er nur noch wenige Schritte
zu gehen. Er kam nach Hause wie ein zum Tode Verurteilter. Er überlegte
nichts und war auch völlig außerstande, etwas zu überlegen;
aber in seinem ganzen innersten Wesen fühlte er plötzlich, daß
er jetzt keine Freiheit der Überlegung, keinen eigenen Willen mehr
besitze und daß auf einmal alles endgültig entschieden sei.
Gewiß: wenn er auch jahrelang auf einen günstigen
Zufall hätte warten wollen, so wäre doch nicht mit Sicherheit
auf eine bessere Chance für das Gelingen seines Planes zu rechnen
gewesen, als diese war, die sich ihm soeben auf einmal darbot. Jedenfalls
würde es schwer sein, einen Tag vorher zuverlässig, mit größter
Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliche Befragungen und
Nachforschungen, in Erfahrung zu bringen, daß am andern Tage um soundso
viel Uhr das und das alte Weib, auf das man einen Anschlag plant, mutterseelenallein
zu Hause sein wird."
"VI
...
Aber Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch geworden.
Spuren dieses Aberglaubens blieben bei ihm in der Folgezeit noch lange
haften und schienen fast unvertilgbar. Er neigte später immer dazu,
in dieser ganzen Angelegenheit etwas Mystisches, Geheimnisvolles, das Walten
besonderer Einwirkungen und zusammentreffender Zufälle zu sehen. Es
war noch Winter gewesen, da hatte ihm ein Bekannter, der Student Pokorew,
vor seiner Abreise nach Charkow gelegentlich im Gespräche die Adresse
der alten Aljona Iwanowna mitgeteilt, für den Fall, daß er in
die Lage käme, etwas zu versetzen. Lange brauchte er nicht von dieser
Adresse Gebrauch zu machen, weil er Privatstunden hatte und sich auf diese
Art so leidlich durchschlug. Vor anderthalb Monaten hatte er sich der Adresse
erinnert; er besaß zwei Gegenstände, die sich zum Versetzen
eigneten: eine alte silberne Uhr, die noch von seinem Vater stammte, und
einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen, den ihm seine Schwester
beim Abschiede als Andenken geschenkt hatte. Er entschied sich dafür,
den Ring hinzutragen; als er die Alte gefunden hatte, empfand er gleich
beim ersten Blick, noch ehe er etwas Näheres von ihr wußte,
einen unbezwingbaren Widerwillen gegen sie, nahm die zwei »Scheinchen«,
die sie ihm gab, und kehrte auf dem Heimwege in ein geringes Restaurant
ein. Da bestellte er sich Tee, setzte sich hin und überließ
sich einem angestrengten Nachdenken. Ein seltsamer Gedanke arbeitete sich
in seinem Kopfe hervor, wie ein Küchlein sich aus der Eierschale herauspickt,
und beschäftigte ihn ganz außerordentlich lebhaft.
An einem andern Tischchen in seiner nächsten
Nähe saßen ein Student, den er nicht kannte und den er sich
nicht erinnerte jemals gesehen zu haben, sowie ein junger Offizier. Sie
hatten Billard gespielt und tranken jetzt Tee. Auf einmal hörte Raskolnikow,
daß der Student mit dem Offizier über eine Pfandleiherin Aljona
Iwanowna, die Witwe eines Kollegienregistrators, sprach und ihm ihre Adresse
mitteilte. Dies allein schon kam dem zuhörenden Raskolnikow merkwürdig
vor: eben erst kam er von dort her, und nun wurde hier gerade von ihr geredet.
Er sagte sich natürlich selbst, daß es ein zufälliges Zusammentreffen
sei, konnte aber trotzdem eine ganz eigenartige Empfindung nicht loswerden.
Und nun war's, als ob es jemand ausdrücklich darauf anlegte, ihm eine
Gefälligkeit zu erweisen: der Student begann seinem Bekannten allerlei
Einzelheiten von dieser Aljona Iwanowna zu erzählen.
»Famoses Frauenzimmer«, sagte er. »Von
der kriegt man immer Geld. Sie ist reich wie ein Jude; sie kann auf einen
Schlag fünftausend Rubel auszahlen, verschmäht aber auch ein
Pfand nicht, wenn es nur einen Rubel wert ist. Von uns Studenten sind schon
viele bei ihr gewesen. Aber sie ist ein nichtswürdiges Luder . . .«
»Nun ja, der Kuriosität halber. Aber ich will dir mal etwas
sagen: Diese verfluchte Alte möchte ich totschlagen und berauben,
und«, fügte er eifrig hinzu, »ich versichere dir, daß
ich es ohne alle Gewissensbisse tun würde.«
Der Offizier lachte wieder laut auf; Raskolnikow
aber fuhr zusammen. Wie seltsam, daß er all das hier zu hören
bekam!
»Erlaube mal, ich möchte dir eine ganz ernsthafte Frage
vorlegen«, fuhr der Student, hitzig werdend, fort. »Ich habe
jetzt eben natürlich nur im Scherz gesprochen; aber überlege
mal: auf der einen Seite steht ein dummes, verdrehtes, wertloses, boshaftes,
krankes, altes Weib, das niemandem nützt, sondern im Gegenteil allen
Leuten nur schadet, das selbst nicht weiß, wozu es eigentlich lebt,
und nächster Tage ganz von selbst sterben wird. Verstehst du wohl?
Verstehst du wohl?«
»Nun ja, das verstehe ich schon«, erwiderte
der Offizier und blickte seinen Bekannten, der stark in Eifer geriet, unverwandt
und aufmerksam an.
»Höre weiter! Auf der andern Seite stehen
junge, frische Kräfte, die, ohne der Welt nützen zu können,
zugrunde gehen, weil sie keine Unterstützung finden, und zwar zu Tausenden,
allüberall. Hundert, tausend gute Taten und Unternehmungen könnte
man für das Geld der Alten, das sie einem Kloster zugedacht hat, ausführen
oder fördern. Hunderte, vielleicht Tausende von Existenzen könnten
in die richtige Bahn geleitet, Dutzende von Familien vor größter
Armut, vor dem Verfall, vor dem gänzlichen Ruin, vor Unsittlichkeit
und Geschlechtskrankheiten bewahrt werden – und alles das vermittels ihres
Geldes. Wenn man sie ermordet und ihr Geld nimmt, um dann mit dessen Hilfe
sich dem Dienste der ganzen Menschheit und der Sache der Allgemeinheit
zu widmen: was meinst du, wird dann nicht ein einziges kleines Verbrechen
durch Tausende von guten Taten aufgewogen? Für ein Leben Tausende
von Leben, die von Fäulnis und Ruin gerettet sind? Ein einziger Tod,
und dafür hundert Leben – das ist doch ein einfaches Rechenexempel!
Ja, und was bedeutet auf der großen Weltwaage das Leben dieses schwindsüchtigen,
dummen, boshaften alten Weibes? Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer
Schabe, sogar noch weniger, weil die Alte geradezu schädlich ist.
Sie verkümmert anderen das Leben: neulich hat sie ihre Schwester Lisaweta
vor Wut in den Finger gebissen, so daß er beinahe amputiert werden
mußte.«
»Gewiß, sie verdient nicht, daß
sie lebt«, entgegnete der Offizier. »Aber die Natur hat es
nun doch einmal so eingerichtet.«
»Ach was, Bruder, die Natur kann man doch
korrigieren und lenken, sonst müßten wir ja in unsern beschränkten,
engherzigen Anschauungen geradezu versinken. Sonst gäbe es keine großen
Männer. Es heißt immer: ›Pflicht, Gewissen‹; nun, ich will ja
gegen Pflicht und Gewissen nichts sagen; aber was versteht man eigentlich
darunter? Warte mal, ich will dir noch eine Frage vorlegen. Hör mal!«
»Nein, nun warte du mal; jetzt werde ich dich
etwas fragen. Paß mal auf!«
»Nun?«
»Du hältst da jetzt großartige
Reden; aber sage doch mal: würdest du selbst die Alte totschlagen,
ja oder nein?«
»Selbstverständlich nein! Ich will ja
auch nur sagen, was gerecht und billig wäre. Um mich handelt es sich
dabei nicht.«
»Wenn du selbst dich dazu nicht entschließen
kannst, so kann meiner Ansicht nach von Gerechtigkeit und Billigkeit dabei
nicht die Rede sein. Komm, wir wollen noch eine Partie spielen!«
Raskolnikow befand sich in großer Aufregung.
Gewiß, das waren ja ganz gewöhnliche, häufige, jugendlich
unreife Gespräche und Gedanken, wie er sie schon oft, nur in andrer
Form und über andre Gegenstände, mit angehört hatte. Aber
warum mußte er gerade ein solches Gespräch und solche Gedanken
gerade jetzt, mit anhören, wo soeben in seinem eigenen Kopfe ganz
ebensolche Gedanken rege geworden waren? Und warum mußte er, gerade
unmittelbar nachdem er von seinem Besuche bei der Alten den Keim zu seinem
Gedanken mitgebracht hatte, auf ein Gespräch über die Alte stoßen?
Dieses Zusammentreffen erschien ihm auch später immer seltsam. Dieses
unbedeutende Wirtshausgespräch übte hinsichtlich der weiteren
Entwicklung der Sache einen ganz außerordentlichen Einfluß
auf ihn aus, als ob da wirklich eine Art von Prädestination, von Fingerzeig
vorgelegen hätte . . .
Als er vom Heumarkte nach Hause zurückgekehrt
war, warf er sich auf das Sofa und blieb eine ganze Stunde dort sitzen,
ohne sich zu rühren. Unterdes war es dunkel geworden; eine Kerze besaß
er nicht; auch kam ihm gar nicht der Gedanke, daß es Zeit wäre,
Licht anzuzünden. Er konnte sich später niemals erinnern, ob
er damals überhaupt an etwas gedacht hatte. Endlich spürte er
wieder das Fiebern und Frösteln von vorhin, und mit einem Wonnegefühl
kam ihm wie eine Erleuchtung der Gedanke, daß man auf einem Sofa
auch liegen könne. Sofort überfiel ihn ein fester, bleierner
Schlaf, der wie ein Alp auf ihm lastete.
...
. . . Befremdlich und wunderbar erschien es ihm, daß er vom gestrigen
Tage bis spät in den heutigen hinein in solcher Bewußtlosigkeit
hatte schlafen können und noch nichts getan, nichts vorbereitet hatte
. . . Vielleicht hatte es inzwischen schon sechs geschlagen . . . Eine
gewaltige, fieberhafte, ängstliche Hast befiel ihn und trat an die
Stelle der Schläfrigkeit und des Stumpfsinns. Die Vorbereitungen waren
übrigens nicht umfangreich. Er strengte alle seine Geisteskräfte
an, um alles zu überlegen und nichts zu vergessen; noch immer hatte
er Herzklopfen; sein Herz schlug so stark, daß ihm das Atmen schwer
wurde. Zuvörderst mußte er eine Schlinge herstellen und an seinen
Paletot annähen – das war in wenigen Minuten gemacht. Er griff unter
das Kissen und suchte aus der Wäsche, die dort zusammengestopft lag,
ein ganz zerrissenes, altes, ungewaschenes Hemd von sich heraus. Von diesen
Fetzen riß er einen Streifen ab, etwa zwei Zoll breit und vierzehn
Zoll lang. Diesen Streifen legte er zusammen, so daß er doppelt war,
zog seinen weiten, starken, aus dickem Baumwollstoff gemachten Sommerpaletot
(das einzige, was er außer dem Hemde auf dem Oberkörper trug)
aus und nähte die beiden Enden des Streifens innen unter der linken
Achsel an. Die Hände zitterten ihm beim Nähen; aber er überwand
sich. Als er den Paletot wieder anzog, war von außen nichts zu sehen.
Nadel und Faden hatte er sich schon vor längerer Zeit beschafft; sie
hatten seitdem in ein Stückchen Papier gewickelt auf dem kleinen Tische
gelegen. Was die Schlinge anlangt, so war das eine sehr geschickte eigene
Erfindung von ihm. Die Schlinge war für das Beil bestimmt. Er konnte
doch nicht auf der Straße ein Beil in der Hand tragen. Und wollte
er es unter dem Paletot verbergen, so mußte er es mit einer Hand
festhalten, und dies hätte auffallen können. Jetzt aber, wo er
sich die Schlinge eingenäht hatte, brauchte er nur das Eisen des Beiles
in diese hineinzustecken; dann hing das Beil auf dem ganzen Wege ruhig
unter der Achselhöhle. Steckte er dann noch die Hand in die Seitentasche
des Paletots, so konnte er auch das untere Ende des Beilstieles festhalten,
damit es nicht hin und her schlenkerte; und da der Paletot sehr weit war,
ein richtiger Sack, so konnte man auch von außen nicht bemerken,
daß er etwas mit der Hand durch die Tasche hindurch festhalte. Diese
Schlinge hatte er sich schon vor zwei Wochen ausgedacht.
Als er damit fertig war, steckte er die Finger in
den schmalen Zwischenraum zwischen seinem »türkischen«
Schlafsofa und dem Fußboden, tastete in der linken Ecke umher und
zog das Pfandobjekt heraus, das er schon lange zurechtgemacht und dort
versteckt hatte. Ein wirkliches Pfandobjekt war es nicht, sondern einfach
ein glattgehobeltes Holzbrettchen in der ungefähren Größe
und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses Brettchen hatte er zufällig
bei einem seiner Spaziergänge auf einem Hofe gefunden, wo sich im
Hinterhause eine Tischlerei befand. Nachher hatte er dem Brettchen noch
ein glattes, dünnes Eisenstreifchen beigesellt, das wahrscheinlich
irgendwovon abgebrochen war und das er gleichfalls einmal auf der Straße
gefunden hatte. Diese beiden Stücke, von denen das Eisenplättchen
etwas kleiner war als das Holzbrettchen, hatte er aneinandergelegt und
mit einem Faden über Kreuz fest zusammengebunden; dann hatte er sie
sorgsam und hübsch in reines weißes Papier gewickelt und dieses
Päckchen so zugebunden, daß es schwierig aufzumachen war. Dies
hatte den Zweck, für ein Weilchen die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken,
wenn sie sich mit dem Knoten abmühen würde, und dabei den richtigen
Augenblick abzupassen. Das Eisenstreifchen hatte er zur Erhöhung des
Gewichtes hinzugetan, damit die Alte nicht gleich im ersten Augenblick
erriete, daß das »Pfandobjekt« aus Holz war. Alles dies
hatte bis zur geeigneten Zeit unter dem Sofa verwahrt gelegen. Eben hatte
er das Pfandobjekt hervorgeholt, als er plötzlich jemanden auf dem
Hofe rufen hörte:
»Es geht schon stark auf sieben!«
»Schon stark auf sieben! Mein Gott!«
Er lief zur Tür, horchte hinaus, nahm seinen
Hut und stieg vorsichtig und geräuschlos wie eine Katze seine dreizehn
Stufen hinab. Nun hatte er das wichtigste Stück seiner Aufgabe vor
sich: aus der Küche das Beil zu stehlen. Daß die Tat gerade
mit einem Beile ausgeführt werden sollte, hatte er schon längst
fest beschlossen. Er besaß zwar noch ein Gartenmesser zum Zusammenklappen;
aber auf das Messer und namentlich auf seine Kräfte mochte er sich
nicht verlassen; darum war es endgültig bei dem Beile geblieben. Wir
merken beiläufig hinsichtlich aller endgültigen Entschlüsse,
die er in dieser Angelegenheit bereits gefaßt hatte, eine Besonderheit
an. Sie hatten eine seltsame Eigenschaft: je endgültiger sie wurden,
um so ungeheuerlicher und ungereimter erschienen sie in seinen Augen. Trotz
all seiner qualvollen inneren Kämpfe hatte er diese ganze Zeit über
auch nicht einen Augenblick lang an die Ausführbarkeit seiner Pläne
glauben können.
Ja, selbst wenn es jemals dahin gekommen wäre, daß er bereits
alles bis auf das letzte Pünktchen zurechtgelegt und endgültig
entschieden gehabt hätte und keinerlei Zweifel mehr zurückgeblieben
wären, so hätte er sogar dann wahrscheinlich den ganzen Plan
als etwas Ungeheuerliches, Absurdes und Unmögliches fallenlassen.
Aber jetzt gab es noch eine wahre Unmenge von Punkten, über die er
sich noch nicht schlüssig war, und von bedenklichen Zweifeln. Was
die Frage anlangte, woher er sich ein Beil beschaffen könne, so beunruhigte
ihn diese Kleinigkeit ganz und gar nicht; denn nichts war leichter als
das. Die Sache war die, daß Nastasja, namentlich abends, häufig
das Haus verließ; entweder lief sie zu den Nachbarn herüber
oder in einen Laden; die Küchentür ließ sie aber immer
weit offen stehen. Die Wirtin zankte mit ihr darüber fortwährend.
Also brauchte er im rechten Augenblick nur leise in die Küche zu gehen
und das Beil zu nehmen und dann eine Stunde darauf, wenn alles erledigt
war, wiederzukommen und es wieder hinzulegen. Aber es fehlte doch auch
nicht an Bedenken. Gesetzt, er kam nach einer Stunde zurück, und Nastasja
war dann bereits heimgekehrt. Dann mußte er natürlich vorbeigehen
und warten, bis sie wieder fortging. Wenn sie nun aber inzwischen das Beil
vermißte, danach suchte und ein großes Geschrei erhob – dann
war der Verdacht da, oder wenigstens die Möglichkeit eines Verdachtes.
Aber da waren noch viele andre Kleinigkeiten, die er bisher weder überlegt
noch zu überlegen Zeit gehabt hatte. Er hatte immer nur an die Hauptsache
gedacht und die Kleinigkeiten bis zu dem Zeitpunkte verschoben, wo er »mit
sich selbst über alles im klaren sein werde«. Aber daß
dieser Zeitpunkt jemals kommen werde, war als ganz unmöglich erschienen.
Wenigstens ihm selbst war es so erschienen. Er hatte es sich z. B. gar
nicht vorstellen können, daß er jemals seinen Überlegungen
ein Ende machen, aufstehen und einfach dorthin gehen werde . . . Selbst
seine neuliche Probe, d. h. der Besuch mit der Absicht einer letzten Besichtigung
der Örtlichkeit, war ganz und gar nicht etwas ernst Gemeintes gewesen,
sondern nur so aus dem Gedanken hervorgegangen: ›Na, wir können ja
mal hingehen und probieren; wozu immer bloß daran denken!‹ Und bei
dieser Probe hatte seine Energie sich sofort als unzulänglich erwiesen;
die Sache war ihm zuwider geworden, und er war, wütend über sich
selbst, davongerannt. Und doch, sollte man meinen, hatte er die gesamte
moralische Prüfung und Entscheidung der Frage vorher schon erledigt;
seine Kasuistik, die so scharf geschliffen war wie ein Rasiermesser, hatte
alle Einwendungen gegen die Tat widerlegt, und er hatte in seinem Innern
keine weiteren Einwendungen mehr vorgefunden, die ihm zum klaren Bewußtsein
gekommen wären. Aber bei diesem Resultate traute er einfach sich selbst
nicht und tastete hartnäckig rechts und links nach neuen Einwendungen
umher, als ob ihn jemand wie einen Sklaven dazu zwänge und anhielte.
Der letzte Tag aber, der Tag, der so unerwarteterweise der letzte geworden
war und alles mit einem Male zur Entscheidung gebracht hatte, hatte auf
ihn fast völlig mechanisch gewirkt: wie wenn ihn jemand bei der Hand
ergriffe und hinter sich herzöge, unwiderstehlich, blindlings, mit
übernatürlicher Kraft, ohne Widerrede. Er war gleichsam mit einem
Zipfel seiner Kleidung an einem Maschinenrade hängengeblieben, und
dieses begann ihn in das Triebwerk hineinzuziehen.
\ge
Anfänglich (das war übrigens schon lange her) hatte ihn eine
bestimmte Frage viel beschäftigt: nämlich, warum doch fast alle
Verbrechen so leicht entdeckt und herausgebracht werden, und warum die
Spuren fast aller Verbrecher so deutlich zu erkennen sind. Er gelangte
allmählich zu mancherlei interessanten Schlußfolgerungen, und
nach seiner Ansicht lag die Hauptursache nicht sowohl in der materiellen
Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als vielmehr in dem Verbrecher
selbst; der Verbrecher selbst, und zwar fast jeder, unterliege im Augenblicke
des Verbrechens einer gewissen Verringerung der Willens- und Urteilskraft,
an deren Stelle im Gegenteil ein hochgradiger, kindlicher Leichtsinn trete,
und das gerade in dem Augenblicke, wo Urteilskraft und Vorsicht am allernötigsten
wären. Nach seiner Überzeugung war der Hergang dieser: die Verdunkelung
der Urteilskraft und die Herabminderung des Willens überfallen den
Menschen wie eine Krankheit, entwickeln sich stufenweise und erreichen
kurz vor der Ausführung des Verbrechens ihren Höhepunkt; sie
verbleiben auf demselben im Augenblicke des Verbrechens selbst und noch
einige Zeit nachher, je nach der Individualität des Betreffenden;
dann verschwinden sie ganz genauso wie jede andere Krankheit. Die Frage
aber, ob das Verbrechen selbst durch eine Krankheit hervorgerufen oder
ob es irgendwie, vermöge seiner Eigenart, immer von krankheitsartigen
Erscheinungen begleitet werde, diese Frage zu entscheiden, fühlte
er sich noch nicht imstande.
Indem er zu solchen Resultaten gelangte, sagte er sich, daß mit ihm persönlich bei seiner Tat derartige krankhafte Veränderungen nicht stattfinden könnten, sondern daß seine Urteils- und Willenskraft während der ganzen Dauer der Ausführung seines Vorhabens ungeschwächt bleiben werde, einfach deswegen, weil sein Vorhaben »kein Verbrechen« sei. Wir lassen den ganzen Denkprozeß beiseite, durch den er zu diesem letzten Urteile gelangt war (wir sind ohnedies in diesen Erörterungen schon zu weit gegangen), und fügen nur noch hinzu, daß die äußeren, rein materiellen Schwierigkeiten der Tat bei seinen Überlegungen überhaupt nur eine ganz untergeordnete Rolle spielten. ›Man muß sich diesen Schwierigkeiten gegenüber nur die ganze Willens- und Urteilskraft bewahren, und sie werden sich zu gegebener Zeit alle überwinden lassen, sobald es erforderlich wird, sich mit allen Einzelheiten des Unternehmens bis zur geringsten Kleinigkeit vertraut zu machen . . .‹ Aber er nahm eben das Unternehmen nicht in Angriff. An die endgültigen Entscheidungen, die er getroffen hatte, glaubte er im Laufe der Zeit immer weniger, und als die Stunde schlug, kam alles ganz anders, gewissermaßen zufällig, ja fast unerwartet.
Ein unbedeutender Umstand kam ihm in die Quere, noch bevor er die Treppe hinuntergestiegen war. Als er zur Küche gelangte, deren Tür wie immer weit offenstand, schielte er vorsichtig hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob auch nicht in Nastasjas Abwesenheit die Wirtin selbst darin sei, und verneinendenfalls, ob auch die nach ihrem Zimmer führende Tür ordentlich geschlossen sei, damit sie es nicht von dort aus sehen könnte, wenn er in die Küche träte, um das Beil zu holen. Aber welchen Schreck bekam er, als er wahrnahm, daß sich Nastasja diesmal nicht nur zu Hause, in ihrer Küche befand, sondern sogar mit einer Arbeit beschäftigt war: sie nahm Wäsche aus einem Korbe und hängte sie auf die Leine! Als sie ihn sah, hörte sie mit dem Aufhängen auf und blickte ihn die ganze Zeit, während er vorbeiging, an. Er wandte die Augen ab und ging vorbei, als hätte er nichts bemerkt. Aber das Unternehmen war damit zu Ende: er hatte kein Beil! Er war höchst bestürzt.
›Wie bin ich nur darauf gekommen‹, dachte er, während er nach dem Tore zu ging, ›wie bin ich nur darauf gekommen, zu glauben, sie würde gerade in dem betreffenden Augenblicke bestimmt nicht zu Hause sein? Warum, warum, ja warum war ich so fest davon überzeugt?‹ Er war ganz niedergeschmettert und fühlte sich beinahe gedemütigt; in seinem Ärger hätte er über sich selbst laut lachen mögen. Eine stumpfsinnige, tierische Wut kochte in ihm.
Nachdenkend blieb er unter dem Torwege stehen. Auf die Straße zu gehen und zwecklos, nur so zum Schein, einen Spaziergang zu machen, das widerstand ihm; nach Hause zurückzukehren widerstand ihm noch mehr. ›Was für eine günstige Gelegenheit habe ich für immer verloren!‹ murmelte er, während er unentschlossen unter dem Tore stand, gerade vor der dunklen Kammer des Hausknechts, die gleichfalls offenstand. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des Hausknechts, von der er nur zwei Schritte entfernt war, sah er unter einer Bank rechts etwas blinken . . . Er blickte sich um – es war niemand zu sehen. Auf den Zehen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinunter und rief mit gedämpfter Stimme nach dem Hausknechte. ›Es ist richtig, er ist nicht zu Hause. Er wird wohl irgendwo in der Nähe, vielleicht auf dem Hofe sein, da die Tür weit offensteht.‹ Hastig stürzte er nach dem Beil (denn ein solches war es) hin, zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor, befestigte es gleich dort, noch ehe er wieder hinaustrat, in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ die Kammer; niemand hatte ihn bemerkt. ›Wo der Verstand nicht hilft, hilft der Teufel!‹ dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. Dieser Zufall ermutigte ihn außerordentlich.
Er ging auf der Straße ruhig und gemächlich, ohne sich zu beeilen, um keinerlei Verdacht zu erregen. Nach den Vorübergehenden blickte er wenig hin; er gab sich sogar Mühe, ihnen gar nicht ins Gesicht zu sehen und selbst möglichst wenig beachtet zu werden. Da erinnerte er sich seines Hutes. ›Mein Gott! Und vorgestern hatte ich doch Geld und hätte mir statt seiner eine Mütze anschaffen können!‹ Er fluchte ingrimmig.
Als er zufällig in einen Laden hineinschielte, sah er, daß es an einer dort hängenden Wanduhr schon zehn Minuten über sieben war. Er mußte sich beeilen, da er auch noch einen Umweg zu machen hatte; denn er wollte sich dem Hause von der andern Seite her nähern.
Früher, wenn er sich all dies in Gedanken im voraus ausgemalt hatte, hatte er manchmal gemeint, er werde dabei große Furcht haben. Aber er fürchtete sich jetzt nicht sonderlich, ja eigentlich überhaupt nicht. Es beschäftigten ihn in diesem Augenblicke sogar mancherlei ganz fremdartige Gedanken, wiewohl immer nur kurze Zeit. Als er an dem Jussupow-Garten vorbeikam, begann er mit großem Interesse einen Plan zur Anlegung hoher Springbrunnen zu entwerfen, die auf allen freien Plätzen die Luft schön frisch machen würden. Diesen Gedanken weiter verfolgend, kam er allmählich zu der ihm sehr einleuchtenden Idee, man müsse den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnen und dann noch mit dem Michailowskij -Garten vereinigen; das würde für die Stadt einen schönen Schmuck und einen großen Nutzen bedeuten. Dann interessierte ihn auf einmal eine andre Frage: warum eigentlich in allen großen Städten die Menschen (von Gründen äußerer Notwendigkeit ganz abgesehen) eine ganz besondere Neigung dazu haben, gerade in solchen Stadtteilen sich niederzulassen und zu wohnen, wo keine Gärten und Springbrunnen, sondern Schmutz, übler Geruch und allerlei andre häßliche Dinge zu finden sind. Dabei kamen ihm seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkte in den Sinn, und er wurde aus seinen Phantasien wieder für einen Augenblick in die Wirklichkeit versetzt. ›An was für dummes Zeug denke ich da!‹ sagte er sich. ›Nein, besser ist's schon, an gar nichts zu denken!‹
›Wahrscheinlich klammern sich Menschen, die zur Hinrichtung geführt werden, in derselben Weise mit ihren Gedanken an allerlei Gegenstände an, die ihnen unterwegs in die Augen fallen‹, dachte er flüchtig; aber dieser Gedanke huschte ihm nur momentan, wie ein Blitz, durch den Kopf; er selbst verscheuchte ihn wieder so schnell wie möglich . . . Aber nun war er schon nahe; da war das Haus; da war der Torweg. Irgendwo tönte von einer Uhr ein einzelner Schlag. ›Wie? Ist es wirklich schon halb acht? Das ist nicht möglich; die Uhr geht gewiß vor.‹
Zu seinem Glücke ging im Torweg auch diesmal wieder alles nach Wunsch. Wie gerufen, fuhr gerade in diesem Augenblicke dicht vor ihm eine gewaltige Fuhre Heu in den Torweg hinein, die ihn die ganze Zeit über, während er durch den Torweg hindurchging, verdeckte, und sowie der Wagen aus dem Torweg in den Hof einfuhr, schlüpfte er in einem Nu nach rechts. Er hörte, wie auf der andern Seite des Wagens ein paar Stimmen schrien und zankten; aber niemand hatte ihn bemerkt, und niemand kam ihm entgegen. Viele Fenster, die auf diesen riesigen, quadratischen Hof hinausgingen, standen in diesem Augenblick offen; aber er hob den Kopf nicht in die Höhe; er fand in sich nicht die Kraft dazu. Die Treppe, die zu der Wohnung der Alten hinaufführte, befand sich ganz in der Nähe, gleich rechts vom Torweg. Schon war er an der Treppe . . .
Er holte Atem, drückte die Hand gegen das stark klopfende Herz, tastete dabei zugleich nach dem Beile und schob es noch einmal zurecht; dann begann er vorsichtig und leise, alle Augenblicke horchend, die Treppe hinaufzusteigen. Aber auch die Treppe war um diese Zeit völlig leer; alle Türen waren geschlossen; er begegnete keinem Menschen. Im ersten Stock allerdings stand die Tür zu einer leerstehenden Wohnung weit offen, und drinnen waren Maler bei der Arbeit; aber auch diese sahen nicht nach ihm hin. Er blieb einen Augenblick stehen, überlegte und ging dann weiter. ›Gewiß, besser wäre es, wenn die nicht hier wären; aber . . . es liegen ja noch zwei Stockwerke über ihnen.‹
Aber nun war er im dritten Stock; da war die Tür der Alten, und da gegenüber noch eine andre Wohnung; diese stand leer. Im zweiten Stock war die Wohnung, die gerade unter der Wohnung der Alten lag, allem Anschein nach gleichfalls unbewohnt: die Visitenkarte, die mit Reißstiften an die Tür genagelt gewesen war, war abgenommen – also waren die Leute ausgezogen! . . . Er konnte kaum Atem holen. Einen Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›Ob ich nicht lieber wieder fortgehe?‹ Aber er gab sich keine Antwort und horchte nach der Wohnung der Alten hin: es herrschte dort Totenstille. Dann horchte er noch einmal nach der Treppe hinunter, lange und aufmerksam . . . Hierauf sah er sich zum letzten Male um, nahm seinen Mut zusammen, rückte seinen Anzug zurecht und fühlte noch einmal nach dem Beil in der Schlinge. ›Ob ich auch nicht allzu blaß aussehe?‹ dachte er. ›Bin ich auch nicht in übermäßiger Erregung? Sie ist mißtrauisch. Ob ich lieber noch einen Augenblick warte, bis das Herz in Ordnung kommt?‹
Aber das Herz kam nicht in Ordnung. Im Gegenteil, es schlug, wie ihm zum Tort, nur immer heftiger. Er konnte es nicht ertragen, noch länger zu warten, streckte langsam die Hand nach der Klingel aus und schellte. Nach einer halben Minute schellte er noch einmal, etwas stärker.
Nichts rührte sich. So einfach weiter zu klingeln hatte keinen Zweck und paßte ihm nicht in seinen Plan. Er sagte sich, daß die Alte sich selbstverständlich in der Wohnung befinde, aber allein zu Hause und darum besonders argwöhnisch sei. Er kannte schon teilweise ihre Gewohnheiten und legte darum noch einmal sein Ohr dicht an die Tür. Ob nun seine Sinne so scharf waren (was sich allerdings schwer annehmen läßt), oder ob es wirklich nicht schwer zu hören war, genug, er vernahm ein vorsichtiges Herumtasten einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Tür. Es stand jemand heimlich dicht am Türschloß und horchte, ganz ebenso wie er hier von außen, so seinerseits versteckt von innen, und hatte anscheinend gleichfalls das Ohr an die Tür gedrückt . . .
Er machte absichtlich ein paar Bewegungen und brummte ziemlich laut etwas vor sich hin, um nicht den Anschein zu erwecken, als ob er sich verstecken wolle; dann schellte er zum dritten Male, aber sacht, maßvoll und ohne jedes Zeichen von Ungeduld. Sooft er sich in späterer Zeit hieran erinnerte, und zwar in voller Klarheit und Deutlichkeit (denn dieser Augenblick hatte sich seinem Gedächtnisse für das ganze Leben eingeprägt), so war es ihm stets unbegreiflich, wo er nur so viel Schlauheit hergenommen hatte, um so mehr, da sein Verstand sich in einzelnen Augenblicken geradezu verdunkelte und er seinen Körper fast gar nicht fühlte . . . Einen Augenblick darauf hörte er, wie der Riegel gelöst wurde."
"VII
Die Tür wurde wie das vorige Mal nur bis zu einem schmalen Spalt geöffnet, und wieder hefteten sich zwei scharfe, mißtrauische Augen aus der Dunkelheit auf ihn. In diesem Momente verlor Raskolnikow die ruhige Überlegung und beging einen großen Fehler.
Da er befürchtete, die Alte könnte sich ängstigen, weil sie beide allein wären, und da er nicht zu hoffen wagte, sein Äußeres werde sie von seiner Harmlosigkeit überzeugen, so griff er nach der Tür und zog sie an sich heran, damit die Alte sich nicht etwa beifallen ließe, sie wieder zuzumachen. Als sie dies wahrnahm, riß sie zwar die Tür nicht wieder zu sich heran, ließ aber auch nicht den Türgriff los, so daß Raskolnikow sie beinahe mit der Tür auf die Treppe herauszog. Da er aber sah, daß sie quer vor der Tür stand und ihm den Eintritt versperrte, trat er gerade auf sie zu. Die Alte sprang erschrocken zurück und wollte etwas sagen; aber sie konnte kein Wort hervorbringen und blickte ihn nur mit weit geöffneten Augen an.
»Guten Tag, Aljona Iwanowna«, begann er in möglichst
ungezwungenem Tone; aber die Stimme gehorchte ihm nicht, sondern bebte
und versagte. »Ich bringe Ihnen hier . . . einen Wertgegenstand .
. . Aber kommen Sie doch lieber dorthin . . . ans Licht.«
Er ließ sie stehen und ging geradezu, ohne
dazu aufgefordert zu sein, ins Zimmer. Die Alte eilte ihm nach; jetzt hatte
sie endlich die Sprache wiedergefunden.
»Herr Gott, was wollen Sie denn? Wer sind
Sie? Was wünschen Sie?«
»Aber ich bitte Sie, Aljona Iwanowna, Sie
kennen mich doch von früher, . . . Raskolnikow . . . Hier bringe ich
Ihnen das Pfandstück, von dem ich neulich schon gesprochen habe .
. .«
Er hielt ihr das Pfandstück hin. Die Alte sah
einen Augenblick nach dem Pfandstück, starrte dann aber sogleich wieder
dem zudringlichen Besucher in die Augen. Sie betrachtete ihn aufmerksam,
ergrimmt und mißtrauisch. So verging etwa eine Minute; er glaubte
sogar in ihren Augen etwas wie Spott zu erkennen, als ob sie alles schon
erraten hätte. Er fühlte, daß er die ruhige Überlegung
verlor und beinahe Furcht bekam, solche Furcht, daß es ihm schien,
wenn sie ihn so, ohne ein Wort zu sagen, noch eine halbe Minute lang ansähe,
so würde er davonlaufen.
»Warum sehen Sie mich denn so an, als ob Sie
mich nicht wiedererkennten?« sagte er auf einmal gleichfalls ärgerlich.
»Wenn Sie wollen, dann nehmen Sie es; wenn nicht, dann gehe ich zu
jemand anders; viel Zeit habe ich nicht.«
Er hatte so etwas eigentlich gar nicht sagen wollen;
aber es fuhr ihm so von selbst heraus.
Die Alte gewann ihre Fassung wieder, und der entschiedene
Ton des Besuchers beruhigte sie offenbar.
»Aber Väterchen, wie können Sie
nur gleich so . . . Was ist es denn?« fragte sie mit einem Blick
auf das Pfandstück.
»Ein silbernes Zigarettenetui; ich habe ja
schon das vorige Mal davon gesprochen.«
Sie streckte die Hand danach aus.
»Aber woher sind Sie denn nur so blaß?
Ihnen zittern ja auch die Hände so! Sie haben wohl gebadet, Väterchen?«
»Ich habe Fieber«, antwortete er kurz.
»Da kann man schon blaß werden, . . . wenn man nichts zu essen
hat«, fügte er murmelnd hinzu. Die Kraft verließ ihn wieder.
Aber seine Antwort hatte den Eindruck der Wahrheit gemacht; die Alte nahm
das Pfandstück.
»Was ist das für ein Ding?« fragte
sie, indem sie Raskolnikow noch einmal scharf anblickte und das Pfandstück
in der Hand wog.
»Ein Wertstück, . . . ein Zigarettenetui
. . . aus Silber. Sehen Sie es sich nur an.«
»Na, Silber wird es wohl kaum sein . , . Aber
haben Sie das fest verschnürt!«
Während sie sich damit abmühte, den Bindfaden
aufzuknüpfen, und sich nach dem Fenster zum Lichte wendete (alle Fenster
waren in ihrer Wohnung trotz der Schwüle geschlossen), ließ
sie ihn einige Sekunden ganz außer acht und drehte ihm den Rücken
zu. Er knöpfte seinen Paletot auf und zog das Beil aus der Schlinge
heraus, holte es aber noch nicht ganz hervor, sondern hielt es mit der
rechten Hand unter dem Paletot. Seine Arme waren entsetzlich schwach; er
hatte selbst die Empfindung, daß sie mit jedem Augenblicke tauber
und starrer würden. Er fürchtete, er würde das Beil nicht
mehr halten können und fallen lassen; . . . es wurde ihm auf einmal
ganz schwindlig.
»Aber wie haben Sie das verknotet!«
rief die Alte ärgerlich und machte eine Bewegung nach ihm zu.
Nun war keine Sekunde mehr zu verlieren. Er zog das Beil ganz hervor,
hob es, fast ohne Besinnung, mit beiden Händen in die Höhe und
ließ, beinahe ohne eigene Anstrengung, beinahe rein mechanisch, den
Beilrücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Er hatte in diesem
Augenblicke eigentlich gar keine Kraft in sich gehabt. Aber sobald er einmal
das Beil hatte fallen lassen, stellte sich auch die Kraft wieder ein.
Die Alte war wie immer im bloßen Kopf. Ihr
hellblondes, zum Teil schon ergrautes, dünnes Haar, wie gewöhnlich
stark geölt, war in ein Zöpfchen geflochten, das große
Ähnlichkeit mit einem Rattenschwanze hatte, und mit einem zerbrochenen
Hornkamm hochgesteckt, der auf ihrem Hinterkopfe abstand. Der Schlag hatte
sie, da sie von kleiner Statur war, gerade auf den Scheitel getroffen.
Sie schrie auf, aber nur sehr schwach, und sank sofort in sitzender Stellung
auf den Boden, hob aber noch schnell beide Hände zum Kopfe. In der
einen Hand hielt sie immer noch das Pfandstück. Da schlug er aus voller
Kraft noch einmal und noch einmal zu, immer mit dem Rücken des Beiles
und immer auf den Scheitel. Das Blut strömte heraus wie aus einem
umgestoßenen Glase, und der Körper sank hintenüber gegen
Raskolnikows Beine. Raskolnikow trat zurück, ließ ihn vollends
hinfallen und bückte sich sogleich zu ihrem Gesichte; sie war bereits
tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie herausspringen wollten,
die Stirn und das ganze Gesicht in Falten gezogen und krampfhaft verzerrt.
Er legte das Beil auf den Fußboden neben die Tote und griff ihr sogleich in die Tasche, in eben die rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die Schlüssel herausgeholt hatte; dabei nahm er sich in acht, sich nicht mit dem hervorquellenden Blute zu besudeln. Er war bei vollem Verstande; Trübung der geistigen Fähigkeiten und Schwindelgefühl waren nicht mehr vorhanden; aber die Hände zitterten ihm immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr achtsam und vorsichtig gewesen war und sich die größte Mühe gegeben hatte, sich nicht blutig zu machen . . . Die Schlüssel fand er sofort und zog sie heraus; sie bildeten alle, wie damals, ein Bund und hingen an einem stählernen Ringe. Schnell lief er mit ihnen in das Schlafzimmer. Dies war ein sehr kleines Zimmer mit einem gewaltigen Schrein voll von Heiligenbildern. An einer andern Wand stand ein großes Bett, sehr sauber, mit einer aus lauter kleinen Seidenstückchen zusammengesetzten Steppdecke. An der dritten Wand stand eine Kommode. Aber seltsam! Sowie er die Schlüssel in die Kommode hineinzupassen begann und ihr Klappern hörte, lief ihm ein krampfhafter Schauder über den Leib. Wieder wandelte ihn die Lust an, alles stehen- und liegenzulassen und davonzugehen. Indes dauerte das nur einen Augenblick; zum Davongehen war es nun doch schon zu spät. Er lächelte sogar über sich selbst; da fuhr ihm auf einmal ein andrer beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Er hatte plötzlich die Vorstellung, die Alte lebe vielleicht noch und könne wieder zu sich kommen. Die Schlüssel und die Kommode im Stiche lassend, lief er zu dem daliegenden Körper zurück, ergriff das Beil und schwang es noch einmal über der Alten; aber er ließ es nicht niederfallen. Es konnte kein Zweifel sein, daß sie tot war. Indem er sich niederbückte und sie nochmals aus der Nähe betrachtete, sah er deutlich, daß der Schädel zerschmettert und sogar ein wenig schiefgedrückt war. Er wollte schon mit dem Finger hinfühlen, zog aber die Hand wieder zurück; die Sache war auch ohne das zweifellos. Inzwischen hatte sich von dem Blute schon eine ganze Lache gebildet. Auf einmal bemerkte er an ihrem Halse eine Schnur; er versuchte sie zu zerreißen; aber die Schnur war stark und hielt; außerdem war sie von Blut durchnäßt. Nun versuchte er, sie unzerrissen unter dem Brustteil des Kleides herauszuziehen; aber es war irgend etwas da, wodurch sie festgehalten wurde. In seiner Ungeduld wollte er schon wieder mit dem Beile ausholen, um die Schnur über dem Körper durchzuschlagen; aber er wagte es nicht, und mit Anstrengung, und nicht ohne daß er seine Hände und das Beil mit Blut befleckt hätte, gelang es ihm nach einer zwei Minuten dauernden Mühe, die Schnur durchzuschneiden, ohne mit dem Beile den Körper zu berühren. Nun ließ sich die Schnur abnehmen; er hatte sich nicht geirrt: es hing ein Beutel daran. Auch waren an der Schnur zwei Kreuze befestigt, eines von Zypressenholz und eines von Kupfer, außerdem ein kleines Heiligenbild auf Emaille und schließlich hing an der Schnur der Beutel, ein kleiner waschlederner, schmutziger Beutel mit stählernem Bügel und Ring. Der Beutel war ganz gepfropft voll; Raskolnikow steckte ihn unbesehen in die Tasche; die Kreuze warf er der Alten auf die Brust. Dann eilte er wieder in das Schlafzimmer; diesmal nahm er auch das Beil mit.
Er beeilte sich aufs äußerste, griff nach den Schlüsseln und mühte sich von neuem mit ihnen ab. Aber es wollte ihm nicht gelingen; sie paßten nicht in die Schlösser. Nicht daß seine Hände so stark gezittert hätten; aber er irrte sich fortwährend: er sah z. B., daß ein Schlüssel nicht der richtige war, nicht paßte; aber er steckte ihn immer wieder von neuem hinein. Endlich besann er sich und überlegte, daß dieser große Schlüssel mit dem gezähnten Barte, der mit den kleinen zusammen an dem Ringe hing, jedenfalls gar nicht von der Kommode war (wie er sich das schon bei seinem vorigen Besuche gesagt hatte), sondern von einer Truhe, und daß in dieser Truhe vielleicht alles Wertvolle verwahrt wurde. Er ließ daher die Kommode stehen und bückte sich sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen bei alten Weibern unter den Betten zu stehen pflegen. So war es denn auch: es stand dort eine ansehnliche Truhe, mehr als zwei Fuß lang, mit gewölbtem Deckel, mit rotem Leder überzogen und mit stählernen Nägeln beschlagen. Der gezähnte Schlüssel erwies sich sofort als genau passend und schloß die Truhe auf. Obenauf lag unter einem weißen Laken ein Pelz von Hasenfell, mit rotem Seidenstoff bezogen; darunter ein seidenes Kleid; dann ein Schal; weiter nach unten hin schienen nur noch lauter Lumpen zu liegen. Vor allen Dingen wischte er sich die blutbefleckten Hände an dem roten Seidenstoff ab. ›Das Zeug ist rot; da wird auf dem Roten das Blut nicht so leicht zu merken sein‹, überlegte er, wurde sich aber plötzlich der Torheit dieser Überlegung bewußt. ›Mein Gott! Werde ich denn verrückt?‹ dachte er erschrocken.
Sowie er aber unter den Lumpen zu kramen begann, glitt auf einmal unter dem Pelze eine goldene Uhr heraus. Nun machte er sich daran, alles umzuwühlen. Wirklich, zwischen den Lumpen lagen Goldsachen versteckt, wahrscheinlich lauter Pfandstücke, verfallene und noch nicht verfallene: Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und dergleichen. Manche dieser Gegenstände befanden sich in Futteralen; andere waren einfach in Zeitungspapier gewickelt, aber sorgsam und ordentlich, in doppelte Bogen, und mit Band verschnürt. Ohne zu zaudern, stopfte er sie sich in die Hosentaschen und Paletottaschen; die Päckchen und Futterale zu öffnen und zu untersuchen, darauf ließ er sich nicht ein.
Aber er hatte noch nicht viel eingesteckt, da hörte er plötzlich in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er hielt inne und horchte, still wie ein Toter. Aber es war alles ruhig; also war es doch wohl nur Einbildung gewesen. Da vernahm er ganz deutlich einen leichten Aufschrei, oder vielmehr: es war, wie wenn jemand ein leises, kurzes Stöhnen ausstieß und dann verstummte. Darauf herrschte wieder Totenstille, eine oder zwei Minuten lang. Er kauerte bei der Truhe und wartete, kaum atmend; aber dann sprang er hastig auf, ergriff das Beil und lief aus dem Schlafzimmer.
Mitten im Zimmer stand Lisaweta, ein großes Bündel in der Hand, und blickte, starr vor Entsetzen, auf die ermordete Schwester hin. Sie war weiß wie Linnen und hatte, wie es schien, nicht die Kraft zu schreien. Als sie ihn hereinstürmen sah, zitterte sie, leise bebend, wie Espenlaub, und über ihr ganzes Gesicht lief ein krampfhaftes Zucken. Sie hob die eine Hand, öffnete den Mund ein wenig, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam nach rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen. Dabei sah sie ihn starr und unverwandt an, schrie aber immer noch nicht, als wenn ihr dazu die Luft fehlte. Er stürzte mit dem Beile auf sie zu. Sie verzog die Lippen so kläglich, wie man es bei ganz kleinen Kindern sieht, wenn sie vor etwas erschrecken, den furchterregenden Gegenstand anstarren und eben losschreien wollen. Und diese unglückliche Lisaweta war nun einmal dermaßen einfältig, verprügelt und eingeschüchtert, daß sie selbst jetzt nicht die Hände aufhob, um ihr Gesicht zu schützen, was doch die natürlichste und notwendigste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, da das Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie hob nur die freie linke Hand ein wenig in die Höhe, aber lange nicht bis zum Gesichte, und streckte sie langsam nach vorn gegen ihn aus, als wenn sie ihn von sich abhalten wollte. Der Schlag traf sie mitten auf den Schädel, mit der Schneide, und hieb mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis zum Scheitel durch. Sie stürzte sofort zu Boden. Raskolnikow wußte einen Augenblick gar nicht recht, was er tat: er ergriff ihr Bündel und warf es wieder von sich; dann lief er ins Vorzimmer.
Die Angst in ihm wuchs immer mehr, namentlich nach diesem zweiten, so völlig unerwarteten Morde. So schnell wie möglich wollte er von hier weg. Und wenn er in diesem Augenblicke fähig gewesen wäre, alles richtig zu sehen und zu beurteilen, wenn er sich auch nur von der ganzen Schwierigkeit seiner Lage, von ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrer Gräßlichkeit und Absurdität hätte eine Vorstellung machen können, wenn er imstande gewesen wäre, zu begreifen, wie viele Hindernisse er noch werde überwinden, ja, wie viele Verbrechen er vielleicht noch werde begehen müssen, um von hier wegzukommen und nach Hause zu gelangen: so hätte er vielleicht alles stehen- und liegenlassen und wäre sofort hingegangen, um sich selbst anzuzeigen, und zwar nicht einmal aus Angst um sich selbst, sondern lediglich aus Entsetzen und Ekel über das, was er getan hatte. Namentlich der Ekel wurde in ihm von einem Augenblicke zum andern immer größer und heftiger. Um keinen Preis wäre er jetzt zu der Truhe oder auch nur in das Zimmer zurückgegangen.
[Nachtatverhalten]
"
Raskolnikows Aufsatz im
Gesamtkapitel 19
Zusammenfassung: In dem Aufsatz entwickelt Raskolnikow erstens die
Theorie der gewöhnlichen (niedrigen) und außergewöhnlichen
(höherstehenden) Menschen, die sich das Recht um höherer
Ziele und Werte willen nehmen, Verbrechen gegen die zu begehen, sofern
sie diesen Zielen und Werte im Wege stehen, also keine beliebigen Opfer.
Die Geschichte sei voll davon: "Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so
fort". Zweitens stellt er die These auf, dass die Ausführung des Verbrechens
immer mit einem Krankheitszustand einhergehe, wofür er allerdings
Argumente und Beispiele schuldig bleibt und was auch allgemein falsch ist,
wenn es auch in seinem persönlichen Fall stimmt, wofür der Widerstreit
des Für und Wider und die damit verbundene sehr starke Ambivalenz
verantwortlich sein dürfte.
»Sie glauben es wohl nicht? Warten Sie nur,
ich werde Sie auch noch einmal anführen – ha-ha-ha! Nein, wissen Sie,
ich wollte Ihnen noch etwas im Ernste sagen. Wir reden hier über Streitfragen,
Verbrechen, Gesellschaft, kleine Mädchen usw.: dabei ist mir jetzt
ein Aufsatz von Ihnen eingefallen, der mich übrigens schon immer interessiert
hat. ›Über das Verbrechen‹ oder wie Sie ihn betitelt haben; ich habe
die Überschrift vergessen, ich besinne mich nicht darauf. Vor zwei
Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in der Zeitschrift für Wissenschaft
und Kunst zu lesen.«
»Meinen Aufsatz? In der Zeitschrift für
Wissenschaft und Kunst?« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich
habe allerdings vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ,
durch die Lektüre eines Buches angeregt, einen solchen Aufsatz geschrieben;
aber ich habe ihn damals der Wissenschaftlichen Wochenschrift und nicht
der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst eingereicht.«
»Aber erschienen ist er in der Zeitschrift
für Wissenschaft und Kunst.«
»Die Wissenschaftliche Wochenschrift ging
ein; darum wurde er nicht gedruckt . . .«
»Ganz richtig; aber die Wissenschaftliche
Wochenschrift wurde bei ihrem Eingehen mit der Zeitschrift für Wissenschaft
und Kunst verschmolzen, und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten
in der letzteren. Haben Sie das nicht gewußt?«
Raskolnikow wußte wirklich nichts davon.
»Aber ich bitte Sie! Sie können doch
von der Zeitschrift ein Honorar für Ihren Aufsatz verlangen! Was sind
Sie nur für ein Mensch! Sie leben so zurückgezogen, daß
Ihnen nicht einmal Dinge, die Sie direkt angehen, bekannt sind. Was ich
Ihnen gesagt habe, ist eine Tatsache!«
»Hurra, Rodja! Ich habe auch nichts davon
gewußt!« rief Rasumichin. »Ich gehe noch heute in den
Lesesaal und lasse mir die Nummer geben! Vor zwei Monaten ist es gewesen?
Weißt du das Datum, Porfirij? Nun, das tut nichts; ich werde den
Aufsatz schon finden. Das ist ja famos! Und davon sagt er einem nichts!«
»Woher haben Sie denn erfahren, daß
der Aufsatz von mir war? Er war doch nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«
»Das habe ich nur zufällig erfahren,
und erst in diesen Tagen. Vom Redakteur; ich bin mit ihm bekannt . . .
Der Aufsatz hat mich außerordentlich interessiert.«
»Soweit ich mich erinnere, erörterte
ich den Seelenzustand des Verbrechers während seiner ganzen Beschäftigung
mit dem Verbrechen.«
»Jawohl, und Sie behaupten, daß die
eigentliche Ausführung des Verbrechens immer von einem Krankheitszustande
begleitet sei. Sehr originell, in der Tat; aber . . . was mich interessierte,
war eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein Gedanke,
den Sie am Ende Ihres Aufsatzes äußern, aber leider nur andeuten,
ohne ihn klar auszuführen . . . Kurz, wenn Sie sich erinnern, es wird
dort darauf hingedeutet, daß es auf der Welt Individuen gibt, die
allerlei Exzesse und Verbrechen begehen können, . . . das heißt,
nicht bloß können, sondern ein Recht dazu haben, und daß
für sie die Gesetze nicht geschrieben sind.«
Raskolnikow lächelte über diese gewaltsame,
absichtliche Entstellung seines Gedankens.
»Wie? Was ist das? Ein Recht, Verbrechen zu
begehen? Aber doch nicht, weil ›die Gesellschaft‹ daran schuld wäre?«
erkundigte sich Rasumichin ganz erschrocken.
»Nein, nein, nicht eigentlich deswegen«,
antwortete Porfirij. »Der Kern der Sache ist, daß in Herrn
Raskolnikows Aufsatze alle Menschen in gewöhnliche und außerordentliche
eingeteilt werden. Die gewöhnlichen sind zum Gehorsam verpflichtet
und haben kein Recht, das Gesetz zu überschreiten, eben deswegen,
weil sie nur gewöhnliche Menschen sind. Aber die außerordentlichen
haben das Recht oder gar die Pflicht, allerlei Verbrechen zu begehen und
in jeder Weise das Gesetz zu übertreten, eben darum, weil sie außerordentliche
Menschen sind. So steht es ja wohl in Ihrem Aufsatze, wenn ich nicht irre?«
»Aber wie denn? So kann es doch unmöglich
dastehen?« murmelte Rasumichin verblüfft.
Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte gleich
von vornherein durchschaut, wie die Sache lag und wohin er gebracht werden
sollte; seinen Aufsatz hatte er ganz gut im Gedächtnis. Er beschloß,
die Herausforderung anzunehmen.
»Ganz so steht es allerdings nicht in meinem
Aufsatze«, begann er schlicht und bescheiden. »Indessen gebe
ich zu, daß Sie den Gedanken annähernd richtig wiedergegeben
haben, und wenn Sie das gern hören, sogar vollständig richtig
. . .« (Er tat so, als mache es ihm Vergnügen, zuzugeben, daß
die Wiedergabe vollständig richtig sei.) »Der Unterschied ist
nur der, daß ich gar nicht behaupte, außerordentliche Menschen
müßten und sollten unter allen Umständen allerlei Exzesse
begehen, wie Sie sagen. Ich meine sogar, der Druck eines solchen Aufsatzes
wäre gar nicht gestattet worden. Sondern ich habe ganz einfach darauf
hingedeutet, daß ein außerordentlicher Mensch das Recht habe,
. . . das heißt, nicht ein offizielles Recht, sondern sozusagen ein
persönliches Recht, seinem Gewissen die Überschreitung gewisser
Hindernisse zu gestatten, aber einzig und allein in dem Falle, wenn die
Durchführung seiner Idee (die mitunter vielleicht der gesamten Menschheit
Heil und Segen bringt) dies verlangt. Sie äußerten sich dahingehend,
daß mein Aufsatz unklar wäre; ich bin bereit, ihn Ihnen nach
Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich nicht, wenn
ich annehme, daß Ihnen dies erwünscht ist; nun schön! Meine
Ansicht ist also folgende: Wenn die Entdeckungen Keplers und Newtons infolge
irgendwelcher Umstände den Menschen schlechterdings nicht anders hätten
bekannt werden können als dadurch, daß das Leben von einem,
von zehn, von hundert usw. Menschen zum Opfer gebracht wurde, die der Veröffentlichung
dieser Entdeckungen störend oder hindernd im Wege standen, so hätte
Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, . . . diese zehn oder hundert
Menschen zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekannt
zu machen. Daraus folgt jedoch durchaus nicht, daß Newton das Recht
gehabt hätte, jeden beliebigen Menschen, der ihm gerade in die Quere
kam, totzuschlagen oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Ferner entwickelte
ich, meiner Erinnerung nach, in meinem Aufsatze den Gedanken, daß
alle . . . nun, sagen wir zum Beispiel alle Gesetzgeber und Führer
der Menschheit, von den ältesten angefangen, und dann weiter Lykurg,
Solon, Mohammed, Napoleon und so fort – daß diese alle, ohne Ausnahme,
Verbrecher waren, schon allein deswegen, weil sie durch die neuen Gesetze,
die sie gaben, die alten, von den Vätern überkommenen und von
der Gesellschaft für heilig erachteten Gesetze verletzten und natürlich
auch vor Blutvergießen nicht zurückschraken, wenn allein dieses
Blutvergießen (und es handelte sich dabei oft um ganz unschuldiges
Blut, das heldenmütig bei der Verteidigung der alten Gesetze vergossen
wurde) ihnen zur Durchführung ihrer Absichten helfen konnte. Es ist
sogar beachtenswert, daß die allermeisten dieser Wohltäter und
Führer der Menschheit skrupellos Ströme von Menschenblut vergossen
haben. Kurz, ich kam zu dem Ergebnis, daß nicht nur die eigentlich
großen Männer, sondern auch diejenigen, die nur einigermaßen
fähig sind, neue Bahnen einzuschlagen, das heißt, die nur einigermaßen
imstande sind, etwas Neues zu sagen, daß diese alle zufolge ihrer
Natur Verbrecher sein müssen – selbstverständlich mehr oder weniger.
Sonst würde es ihnen schwer werden, aus den alten Bahnen herauszukommen;
und andrerseits, in den alten Bahnen zu verharren, damit können sie
sich auch nicht bescheiden, wiederum zufolge ihrer Natur, und meiner Ansicht
nach dürfen sie sich sogar nicht einmal damit bescheiden. Kurz, Sie
sehen, daß bis dahin in meinen Ausführungen nichts besonders
Neues liegt. Das alles ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden.
Was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und außerordentliche
anlangt, so gebe ich zu, daß sie einigermaßen willkürlich
ist; aber ich stelle ja auch keine bestimmten Zahlen auf. Wert lege ich
nur auf meinen Hauptgedanken, und dessen Inhalt ist eben der, daß
die Menschen nach einem Naturgesetze sich tatsächlich in zwei Klassen
scheiden: in eine niedrige, die der gewöhnlichen Menschen, das heißt
sozusagen das Material, das lediglich zur Fortpflanzung der Menschheit
dient, und in eigentliche Menschen, das heißt solche, die die Gabe
oder das Talent besitzen, in ihrem Wirkungskreise ein neues Wort auszusprechen.
Unterabteilungen gibt es hier natürlich unzählige; aber die unterscheidenden
Merkmale der beiden Klassen sind doch recht scharf ausgeprägt: die
erste Klasse, also das Material, um einen zusammenfassenden Ausdruck zu
gebrauchen, bilden diejenigen Menschen, die ihrer Natur nach konservativ
und wohlgesittet sind, in ruhigem Gehorsam dahinleben und mit Vergnügen
gehorsam sind. Meiner Ansicht nach haben diese auch die Pflicht, gehorsam
zu sein, weil das ihre Bestimmung ist, und darin liegt für sie durchaus
nichts Erniedrigendes. Die Vertreter der zweiten Klasse dagegen übertreten
sämtlich das Gesetz; sie sind Zerstörer oder neigen wenigstens
zur Zerstörung, je nach dem Maße ihrer Fähigkeiten. Die
Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich nach Grad und Art
sehr verschieden; größtenteils verlangen sie, in sehr mannigfaltigen
Erscheinungsformen, die Zerstörung des Bestehenden zum Zwecke der
Erreichung von etwas Besserem. Sollte aber ein solcher Mensch im Interesse
seiner Idee es als nötig erkennen, selbst über Leichen und durch
Blut vorwärtszuschreiten, so kann er nach meiner Ansicht sich innerlich,
in seinem Gewissen, selbst die Erlaubnis erteilen, auch durch Blut dahinzuschreiten,
jedoch nur in dem Umfange, wie es zur Verwirklichung der Idee erforderlich
ist – wohl zu merken. Nur in diesem Sinne rede ich in meinem Aufsatze von
einem Rechte dieser Menschen, Verbrechen zu begehen (Sie erinnern sich,
daß wir von einer juristischen Frage ausgingen). Übrigens ist
kein Anlaß, sich über diese ganze Sache besonders aufzuregen;
die große Masse erkennt dieses Recht der außerordentlichen
Menschen fast niemals an, sondern köpft und hängt sie (mehr oder
weniger) und erfüllt dadurch in durchaus rechtmäßiger Weise
ihre konservative Bestimmung; nur ist der weitere Verlauf oft der, daß
in den nachfolgenden Generationen ebendiese große Masse die Hingerichteten
auf Piedestale stellt und feiert (auch hier setze ich hinzu: mehr oder
weniger). Die erste Klasse ist stets die Beherrscherin der Gegenwart, die
zweite die der Zukunft. Die ersten erhalten die Welt und vermehren sie
numerisch; die andern bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Die
einen und die andern haben eine völlig gleiche Existenzberechtigung.
Kurz, nach meiner Ansicht haben alle ein gleich wohlbegründetes Recht;
und: vive la guerre éternelle! Natürlich, bis das neue Jerusalem
kommt!«
»Also glauben Sie doch, daß das neue
Jerusalem einmal kommen wird?«
»Das glaube ich«, antwortete Raskolnikow
fest. Er blickte bei diesen Worten, wie schon während seiner ganzen
langen Darlegung, zu Boden, wo er sich einen Punkt auf dem Teppich ausgesucht
hatte.
»Und . . . und . . . und glauben Sie an Gott?
Verzeihen Sie meine dreiste Frage!«
»Ich glaube an ihn«, erwiderte Raskolnikow;
dabei blickte er auf und sah Porfirij an.
»Und . . . und glauben Sie an die Auferstehung
des Lazarus?«
»J–ja. Wozu diese Fragen?«
»Glauben Sie daran im buchstäblichen
Sinne?«
»Allerdings.«
»So, wirklich! . . . Nun, ich fragte nur so
aus neugierigem Interesse; entschuldigen Sie. Aber wenn ich auf unser voriges
Thema zurückkommen darf, gestatten Sie einen Einwand: die außerordentlichen
Menschen werden doch nicht immer hingerichtet; manche haben doch auch ein
ganz entgegengesetztes Los.«
»Sie meinen: sie triumphieren noch bei Lebzeiten?
O ja, manche erreichen das noch bei Lebzeiten, und dann . . .«
»Dann fangen sie selbst an, hinzurichten?«
»Wenn es nötig ist, ja; und, wissen Sie,
das ist eigentlich meist der Fall. Ihre Bemerkung war sehr scharfsinnig.«
»Danke. Aber nun, bitte, sagen Sie mir noch
eins: wodurch soll man diese außerordentlichen Menschen von den gewöhnlichen
unterscheiden? Gibt es vielleicht schon bei der Geburt derartige Merkmale?
Ich werfe diese Frage deshalb auf, weil hier doch möglichst große
Klarheit, sozusagen eine mehr äußerliche Bestimmbarkeit erforderlich
wäre; entschuldigen Sie die Besorgnis, die mir als einem im praktischen
Leben stehenden, ordnungsliebenden Manne naheliegt; aber könnte man
da nicht zum Beispiel eine besondere Kleidung einführen, oder daß
sie irgendein Abzeichen trügen, etwa einen Stempel oder so etwas?
Denn Sie werden selbst zugeben müssen, wenn es da zur Konfusion kommen
sollte und einer aus der einen Klasse sich einbildete zur andern Klasse
zu gehören und nun anfinge, ›alle Hindernisse zu beseitigen‹, wie
Sie sich sehr treffend ausdrückten, dann würde doch . . .«
»Oh, das kommt sehr häufig vor. Diese
Ihre Bemerkung ist sogar noch scharfsinniger als die vorige.«
»Danke.«
»Keine Ursache! Aber bedenken Sie, daß
ein derartiger Irrtum nur von seiten der ersten Klasse möglich ist,
das heißt, von Seiten der gewöhnlichen Menschen, wie ich sie
mit einem vielleicht sehr wenig glücklich gewählten Ausdrucke
genannt habe. Trotz der ihnen angeborenen Neigung zum Gehorsam, lieben
(vermöge einer lebhaften Phantasie, wie sie selbst den Kühen
nicht versagt ist) es dennoch sehr viele von ihnen, sich für Bahnbrecher
und Zerstörer zu halten und sich auf neue Ideen zu kaprizieren, und
zwar durchaus in gutem Glauben. Und diejenigen, die wirklich neue Werte
schaffen, werden von ihnen dabei oft gar nicht beachtet und sogar als rückständig
und niedrigdenkend geringgeschätzt. Aber eine erhebliche Gefahr kann
meines Erachtens dadurch nicht hervorgerufen werden, und Sie haben wirklich
keinen Anlaß zur Besorgnis; denn besonders weit geht diese Sorte
von Menschen in ihren Exzessen niemals. Für ihr verblendetes Handeln
könnte man ihnen ja manchmal die Rute geben, damit sie nicht vergessen,
an welchen Platz sie gehören; aber auch nicht mehr. Auch bedarf es
dabei gar nicht einmal eines Vollstreckers der Strafe; sie werden sich
schon selbst die Rute applizieren, weil sie sehr moralisch sind: manche
erweisen einander wechselseitig diesen Dienst, andere besorgen es bei sich
eigenhändig . . . Sie legen sich dabei allerlei öffentliche Bußen
auf – das macht sich sehr hübsch und erbaulich; kurz, Sie brauchen
sich nicht zu beunruhigen . . . Dafür ist das Gesetz da.«
»Nun, wenigstens in dieser Hinsicht haben
Sie mich einigermaßen beruhigt; aber da ist noch ein anderer heikler
Punkt: bitte, sagen Sie doch, gibt es viele solche Leute, die das Recht
haben, andere zu morden, also solche ›Außerordentlichen‹? Ich bin
natürlich durchaus bereit, mich denen zu beugen; aber Sie müssen
selbst zugeben, es wäre doch eine ängstliche Geschichte, wenn
ihrer gar zu viele wären; nicht wahr?«
»Oh, auch darüber brauchen Sie sich keine
Sorgen zu machen«, fuhr Raskolnikow in demselben Tone fort. »Menschen
mit neuen Ideen, ja selbst Menschen, die auch nur einigermaßen fähig
sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt in außerordentlich
geringer Anzahl geboren; es ist sogar geradezu merkwürdig, wie spärlich
sie sind. Nur das eine ist klar: die Ordnung, in welcher die Menschen aller
dieser Klassen und Unterabteilungen geboren werden, ist gewiß in
bestimmter, genauer Weise durch ein Naturgesetz geregelt. Dieses Gesetz
ist uns selbstverständlich zur Zeit unbekannt; aber ich glaube, daß
es existiert und in der Folgezeit auch zu unserer Kenntnis gelangen kann.
Das gewaltige Gros der Menschen, das Material, existiert in der Welt nur
zu dem Zwecke, um schließlich durch eine Art von Anstrengung, durch
einen bis jetzt noch geheimnisvollen Vorgang, vermittels irgendwelcher
Kreuzung der Familien und Arten ein bestimmtes Resultat zu erzielen, nämlich
einen einzigen, auch nur leidlich selbständig denkenden Menschen –
sagen wir auf tausend einen – hervorzubringen. Mit größerer
Selbständigkeit wird vielleicht einer auf zehntausend geboren (die
Zahlen gebe ich nur beispielsweise, zur Veranschaulichung). Mit noch größerer
einer auf hunderttausend. Von genialen Menschen kommt einer auf Millionen,
und von den ganz großen Genies, die zur Vervollkommnung des Menschengeschlechtes
beitragen, vielleicht eines auf viele tausend Millionen Menschen. Kurz,
in die Retorte, in der sich dieser ganze Prozeß vollzieht, habe ich
nicht hineingeschaut. Aber ein bestimmtes Gesetz existiert sicher und muß
existieren; bloßer Zufall kann da nicht vorliegen.«
»Sagt mal, macht ihr beide nur Spaß?«
rief Rasumichin endlich. »Wollt ihr euch wechselseitig zum besten
haben, oder wie ist das? Sitzen die beiden Menschen da und machen sich
einer über den andern lustig! Oder hast du im Ernst geredet, Rodja?«
Raskolnikow hob sein bleiches, beinahe trauriges
Gesicht und sah ihn an, ohne zu antworten. Und einen merkwürdigen
Eindruck machte auf Rasumichin im Gegensatze zu diesem stillen, traurigen
Gesichte der unverhohlene, dreiste, verletzende Spott auf dem Gesichte
Porfirijs.
»Nun, Bruder, wenn du wirklich im Ernste geredet
hast, so . . . Du hast natürlich ganz recht, wenn du sagst, daß
das nicht neu sei und daß wir es ähnlich schon tausendmal gelesen
und gehört hätten; aber was tatsächlich an alledem originell
und, zu meinem Schrecken, dein ausschließliches geistiges Eigentum
ist, das ist die Erlaubnis, die du den Menschen erteilst, nach ihrem Gewissen
Blut zu vergießen; und das tust du sogar mit einem wahren Fanatismus,
nimm's nicht übel! . . . Das ist also wohl auch der Hauptgedanke deines
Aufsatzes. Diese, diese Erlaubnis, nach eigenem Gewissen Blut zu vergießen,
die . . . die ist nach meiner Meinung schrecklicher, als es eine offizielle,
gesetzliche Erlaubnis, Blut zu vergießen, sein würde . . .«
»Durchaus richtig, diese ist schrecklicher«,
stimmte ihm Porfirij bei.
»Nein, da hast du dich von deinem Eifer hinreißen
lassen! Da liegt ein Irrtum vor. Ich will deinen Aufsatz durchlesen . .
. Du hast dich hinreißen lassen! So kannst du ja gar nicht denken
. . . Ich werde es lesen.«
»In meinem Aufsatze steht das alles nicht;
da sind nur Andeutungen gegeben«, erwiderte Raskolnikow.
»Jawohl, jawohl«, sagte Porfirij und
rückte erregt auf seinem Stuhle hin und her, »jetzt ist es mir
ziemlich klar geworden, wie Sie das Verbrechen ansehen; aber . . . entschuldigen
Sie meine Zudringlichkeit (ich belästige Sie gar zu sehr; ich schäme
mich selbst) – sehen Sie mal: Sie haben mich vorhin recht beruhigt in bezug
auf Fälle irrtümlicher Vermengung der beiden Klassen; aber .
. . es beunruhigen mich dabei immer noch allerlei in der Praxis mögliche
Fälle! Wenn nun ein Mann oder ein Jüngling sich einbildet, er
sei ein Lykurg oder ein Mohammed – in spe natürlich – und nun munter
beginnt, alle Hindernisse zu beseitigen . . . Er sagt sich, der Weg zum
Ziele sei lang, und zur Zurücklegung dieses Weges brauche er Geld,
. . . und nun fängt er an, sich das Geld zu diesem Wege zu beschaffen,
. . . Sie verstehen?«
Sametow prustete in seiner Ecke plötzlich vor
Lachen los. Raskolnikow wandte die Augen gar nicht zu ihm.
»Ich muß zugeben«, antwortete
er ruhig, »daß solche Fälle nicht ausbleiben können.
Dumme, eitle Menschen sind dieser Versuchung besonders ausgesetzt, namentlich
die Jugend.«
»Sehen Sie wohl! Nun, und was dann?«
»Dann hat es auch noch nicht viel zu sagen«,
antwortete Raskolnikow lächelnd, »ich bin doch jedenfalls nicht
daran schuld. Es ist nun einmal so und wird nie anders werden. Der hier«
(er wies auf Rasumichin) »sagte eben, ich gäbe die Erlaubnis
zum Blutvergießen. Nun, was macht das? Die Gesellschaft hat sich
doch durch Verschickung nach Sibirien, durch Gefängnisse, Untersuchungskommissare
und Zuchthäuser genug und übergenug gesichert: wozu sich da also
beunruhigen? Mag man den Verbrecher suchen!«
»Und wenn wir ihn finden?«
»Dann mag er bestraft werden.«
»Sie denken außerordentlich logisch.
Und wie steht es mit seinem Gewissen?«
»Was kümmert Sie sein Gewissen?«
»Nun, ich frage nur so – aus Humanität.«
»Wer ein Gewissen hat, der mag leiden, wenn
er zur Erkenntnis seines Irrtums kommt. Auch das ist eine Strafe für
ihn, die noch zur Zuchthausstrafe hinzukommt.«
»Nun, und die wirklich Genialen«, fragte
Rasumichin mit finsterer Miene, »also die, denen das Recht zu morden
gegeben ist, die sollen gar nicht leiden, auch nicht für vergossenes
Blut?«
»Was soll hier der Ausdruck ›sollen‹? Es handelt
sich hier weder um eine Erlaubnis noch um ein Verbot. Mag ein solcher leiden,
wenn ihm sein Opfer leid tut. Wo eine umfassende Erkenntnis und ein tief
empfindendes Herz vorhanden sind, da bleiben auch Leid und Schmerz nicht
aus. Die wahrhaft großen Menschen müssen, wie ich glaube, auf
der Welt eine große Traurigkeit empfinden«, fügte er in
düsterem Nachdenken hinzu, gar nicht im Gesprächstone.
Er blickte auf, sah alle nachdenklich an, lächelte
und griff nach seiner Mütze. Er war gar zu ernst geworden im Vergleich
mit der Lustigkeit bei seinem Eintritte, und er fühlte das. Alle standen
auf.
»Na, mögen Sie nun auf mich schimpfen
oder nicht, auf mich wütend werden oder nicht, ich kann nicht umhin,
noch ein Wort hinzuzufügen«, sagte Porfirij Petrowitsch zum
Schluß. »Gestatten Sie mir nur noch eine kleine Frage (ich
mache mir Vorwürfe, Sie so zu belästigen); nur einen einzigen
kleinen Einfall möchte ich aussprechen, nur um ihn nicht zu vergessen
. . .«
»Schön, sagen Sie Ihren kleinen Einfall!«
erwiderte Raskolnikow, der ernst und blaß vor ihm stand und wartete.
»Ich meine so: . . . Aber ich weiß wirklich
nicht, wie ich mich am passendsten ausdrücken soll . . . Der Einfall
ist zu komisch, . . . aus dem Gebiete der Psychologie . . . Ich meine so:
als Sie Ihren Aufsatz schrieben, da haben Sie selbst sich doch notwendigerweise,
he-he-he, wenigstens ein ganz klein bißchen auch für einen außerordentlichen
Menschen gehalten, der ›etwas Neues sprechen‹ könne, in dem Sinne,
wie Sie diesen Ausdruck gebrauchen . . . Ist's nicht so?«
»Sehr möglich!« erwiderte Raskolnikow
geringschätzig. Rasumichin machte eine Bewegung.
»Wenn nun dem so ist, hätten Sie sich
wirklich selbst entschlossen, na, in einer bestimmten Lage, angesichts
irgendwelcher Schicksalsschläge und Bedrängnisse oder auch zur
Förderung des Wohles der ganzen Menschheit – hätten Sie sich
entschlossen, über ein Hindernis hinwegzuschreiten? . . . Nun, zum
Beispiel, zu morden und zu rauben?«
Wieder machte es den Eindruck, als zwinkere er ihm
mit dem linken Auge zu und lache lautlos – genau wie eine Weile vorher.
»Wenn ich wirklich über ein Hindernis
hinwegschritte, so würde ich es Ihnen natürlich nicht sagen«,
antwortete Raskolnikow mit herausfordernder, hochmütiger Verachtung.
»Nicht doch, ich frage ja doch nur aus ganz
harmlosem Interesse, eigentlich nur, um Ihren Aufsatz besser verstehen
zu können, vom rein literarischen Gesichtspunkte aus.«
›Pfui, wie unverhohlen und unverschämt er redet!‹
dachte Raskolnikow mit Ekel.
»Gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären«,
entgegnete er trocken, »daß ich mich nicht für einen Mohammed
oder Napoleon halte und überhaupt für keinen Menschen von solcher
Art; da ich also ein derartiger Mensch nicht bin, so kann ich Ihnen auch
keine befriedigende Auskunft darüber geben, wie ich handeln würde.«
»Nun, lassen Sie's gut sein; wer hält
sich jetzt bei uns in Rußland nicht für einen Napoleon?«
erwiderte Porfirij auf einmal in außerordentlich familiärer
Redeweise. Sogar in seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.
»Wenn nur nicht auch so ein künftiger
Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit dem Beile totgeschlagen
hat!« platzte der im Winkel sitzende Sametow heraus."
Signierungssystem Erleben (Quelle)
7. Version 28.04.2023 Literaturkennzeichnungen überarbeitet.
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< Erleben Differenzierung > Erlebnis |
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ohne nähere Spezifikation Erleben/Erlebnis des Schöpfers beim
Schaffen, wovon wir
Dargestelltes direktes Erleben/Erlebnis im
Werk. Der
Beschriebenes oder berichtetes Erleben/Erlebnis
im
Erleben / Erlebnis der Konsumentin einzelner Passagen,
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Anmerkung Carnap: hier
ist EE für Elementarerlebnis
vorgesehen, obwohl unklar ist, was ein Elementarerlebnis
von einem Erlebnis unterscheidet.
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Inhaltsverzeichnis site:www.sgipt.org. |
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korrigiert: 15.10.2024 irs Rechtschreibprüfung und gelesen