Studien zur Psychologie und Psychopathologie der HochstaplerIn
Der Apoll von Bellac *
Uraufführung am 16.6.1942
in Rio de Janeiro
Ist Giraudoux'
Agnès eine Hochstaplerin oder der Apoll?
Vom Wert der Lebenslügen und der Illusionen
"Man erkennt den Irrtum daran, dass alle Welt ihn teilt." [Jean Giraudoux, 1]
Darstellung aus dem polnischem Film
1958 hier: https://www.tvp.pl/_teatry/a/a36.htm.
Ein weiteres Bild " L'Apollon de
Bellac" findet man in Rowohlts Monographie ©
S. 149
von Rudolf Sponsel, Erlangen
[Ursprüngliche Quellen: Biographisches:
https://theater.mausefalle.ch/?3111,,giraudoux
Film: https://www.imdb.com/title/tt0275197/
Doku zum Fernsehfilm 1955: https://www.tvprogramme.net/50/1955/19550417.htm]
"Nach Giraudoux' Bühnenstück, Der
Apollo
von Bellac, könnte man diese Intervention die Bellac-Technik nennen.
Agnès, ein scheues, junges Mädchen, hat sich um eine Stelle
beworben und wartet nun nervös im Vorzimmer auf ihr Interview. Dort
sitzt auch ein junger Mann, der, als er von ihrer Angst vor dem Interview
erfährt, ihr erklärt, daß die einfachste Art, mit Menschen
umzugehen, darin besteht, ihnen zu sagen, daß sie schön sind. Zuerst ist sie über die scheinbare Unehrlichkeit seines Rats schockiert. Es gelingt ihm aber, sie zu überzeugen, daß deswegen keine Unehrlichkeit vorliegt, da jemandem zu sagen, daß er schön ist, ihn auch tatsächlich schön macht. Sie folgt seinem Rat und hat sofort Erfolg mit dem mürrischen Bürovorsteher, dann mit dem hochnäsigen Vizepräsidenten und mit den Direktoren. Schließlich kommt der Präsident aus seinem Büro gestürmt: Wie haben Sie das nur angestellt, Mademoiselle Agnès? Bis heute verkam dieses Haus, das unter meiner Leitung steht, in Trübsal, in Trägheit und Dreck. Sie haben es kaum betreten, und schon erkenne ich es nicht wieder. Mein Türsteher ist dermaßen höflich geworden, daß er sogar seinen eigenen Schatten an der Wand grüßt. Mein Generalsekretär ist entschlossen, der Vorstandssitzung in Hemdsärmeln beizuwohnen [43].Auch der Präsident wird zu einem anderen Menschen, sobald Agnès ihm sagt, daß er schön ist. Etwas später, in Anwesenheit seiner streitsüchtigen Frau Thérèse, kommt er zu der wichtigsten Schlußfolgerung: wenn man anderen Menschen sagt, daß sie schön sind, macht einen das selbst schön: Hör zu, Thérèse, zum letzten Mal. Die Frauen sind auf dieser elenden Welt, um uns zu sagen, was Agnès uns sagt. (...) Sie sind auf Erden, um den Männern zu sagen, daß sie schön sind. Und gerade die schönsten Frauen müssen's den Männern am meisten sagen. Sie sind es auch, die es am ehesten tun. Diese junge Frau sagt mir, daß ich schön bin. Weil sie nämlich selbst schön ist. Du sagst mir fortwährend, ich sei häßlich. Warum? [44]Was Giraudoux hier entwirft, ist das Gegenteil jener zwischenpersönlichen Teufelskreise, in denen das eigene Häßliche Häßliches im andern hervorruft und so auf sich selbst zurückwirkt. Giraudoux zeigt auch, wenngleich mit der dichterischen Freiheit der Vereinfachung, daß es unter Umständen nur einer ganz kleinen anfänglichen Veränderung bedarf, um den Wandel der Gesamtsituation herbeizuführen. Und was hat es mit dem Apollo von Bellac auf sich, jenem Inbegriff der Schönheit, mit dem alle Spieler verglichen werden? Die Statue gibt es nicht, teilt der junge Mann Agnès vertraulich mit; er hat sie erfunden, aber alle anderen sind bereit, zu glauben, daß der Apollo wirklich existiert." |
Kritischer
Exkurs zur "Bellac-Technik" nach Watzlawick et al.
aus dem Handbuch Integrativer Psychologischer
Psychotherapie (Sponsel
1995, S. 451).
Ausnutzen der Abwehr in der Therapie zur Veränderung. WATZLAWICK (et al. 1979, S. 156 f) beschreiben eine Bellac-Technik,
die nach einem Bühnenstück von GIRAUDOUX ("Der Apollo von
Bellac") benannt (FN) wurde.
Fußnote Bellac Technik:
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Personen: AGNÈS * DER TÜRSTEHER * DER HERR AUS BELLAC * DER GENERALSEKRETÄR * MONSIEUR DE CRACHETON * MONSIEUR LEPÉDURA * MONSIEUR RASEMUTTE * MONSIEUR SCHULZE * DER PRÄSIDENT * MADEMOlSELLE CHÈVREDENT * THÉRÈSE
AUS DER
ERSTEN SZENE [Situationsrahmen, Aufhänger]
Agnès. Der Türsteher. Der Herr aus
Bellac.
Wartezimmer in der Geschäftsstelle des Verbandes
der Großen und Kleinen Erfinder.
AGNÈS Bin ich hier recht in der
Geschäftsstelle des Verbandes Großer und Kleiner Erfinder?
DER TÜRSTEHER Ganz recht. AGNÈS Ich möchte den Präsidenten sprechen. TÜRSTEHER Art der Erfindung? Klein, mittel oder groß? AGNÈS Ich weiß nicht, was ich da sagen soll - TÜRSTEHER Also klein. Macht der Herr Generalsekretär. Kommen Sie Donnerstag wieder. DER HERR AUS BELLAC Wer sagt Ihnen denn, Herr Türsteher, daß die Erfindung der Dame so klein ist? TÜRSTEHER Was mischen Sie sich da ein' DER HERR AUS BELLAC Typisches Kennzeichen des Erfinders ist, daß er bescheiden auftritt. Der Hochmut ist eine Erfindung der Nicht-Erfinder. In dieser jungen Dame vereinen sich schöpferische Bescheidenheit und liebenswert weibliche Schüchternheit. Wer sagt Ihnen denn, ob sie nicht vielleicht Ihnen eine Erfindung bringt, die bestimmt ist, Epoche zu machen? AGNÈS Monsieur... TÜRSTEHER Für die epochemachenden Sachen ist der Herr Präsident zuständig. Sprechstunde montags von elf bis zwölf. DER HERR AUS BELLAC Heute ist Dienstag! TÜRSTEHER Ich kann's nicht ändern. Es sei denn, die Dame hätte das Mittel erfunden, aus Dienstag den Tag zu machen, der vor dem Montag kommt. ... [Der Türsteher geht ab, den Sitzungssaal herrichten]
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Kommentar/ Interpretation
Zu Beginn führt Giraudoux etwas paradox und komödiantisch in die Situation ein: Agnès, schüchtern, unsicher, sagt dem Türsteher der Geschäftsstelle des Verbandes der Großen und Kleinen Erfinder, daß sie den Präsidenten sprechen möchte, worauf dieser nicht eingeht, sondern erst mal nach der Bedeutung der Erfindung fragt. Offenbar traut er ihr keine Erfindung zu, die eine Begegnung mit dem Präsidenten rechtfertigte. In dieser Situation eilt ihr DER HERR AUS BELLAC zu Hilfe. Das Leitmotiv, eine wichtige Erfindung für die Menschheit, wird
durch diesen Situationsrahmen definiert. Agnès scheint also eine
Erfindung gemacht zu haben.
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AUS DER
ZWEITEN SZENE [Agnès, eine Sozialphobikerin]
Agnès. Der Herr aus Bellac.
... ... ...
DER HERR AUS BELLAC Sind Sie Korrespondentin, Redakteurin, Archivarin? Sagen Sie halt, wenn ich's getroffen habe. AGNÈS Sie könnten das ganze Berufslexikon aufsagen. Ich würde Sie nie unterbrechen müssen. DER HERR AUS BELLAC Vielleicht Kokette, Sentimentale, Genießerin, Schmeichelkätzchen, Bacchantin, Naive? AGNÈS Das ist schon eher mein Fach. DER HERR AUS BELLAC Ausgezeichnet. Die beste Gewähr für eine glückliche Karriere. AGNÈS Nein. Ich habe Angst vor Männern... DER HERR AUS BELLAC Vor welchen Männern? AGNÈS Wenn ich sie nur sehe, wird mir schon schwach... DER HERR AUS BELLAC Angst vor dem Türsteher? AGNÈS Wenn ich sie nur sehe, wird mir schon schwach... DER HERR AUS BELLAC Angst vor dem Türsteher? AGNÈS Vor allen. Vor den Türstehern, den Präsidenten, den Soldaten. Es braucht nur ein Mann aufzutauchen, schon fühle ich mich wie eine Diebin im Warenhaus, die im Nacken bereits den Atem des Detektivs spürt. [>412] DER HERR AUS BELLAC Diebin, wovon? AGNÈS Ich habe nur den einen Wunsch: das Gestohlene gleich wieder loszuwerden, es ihm hinzuwerfen und zu schreien: ‚Lassen Sie mich laufen!’ DER HERR AUS BELLAC Das Gestohlene, was? AGNÈS Das frag ich mich gar nicht. Ich will es nicht wissen. Ich habe Angst. DER HERR AUS BELLAC Es beeindruckt Sie wohl ihr Aufzug? Ihre Röhrenhosen und Knickerbockers? AGNÈS Ich bin mit Schwimmern zusammengetroffen. Ihre Knickerbockers lagen am Boden. Trotzdem war mir genauso zumute. DER HERR AUS BELLAC Vielleicht mißfallen sie Ihnen ganz einfach? AGNÈS Das glaube ich nicht. Ihre Hundeaugen gefallen mir, ihre behaarten Arme, ihre großen Füße. Und dann haben sie gewisse ganz eigene Organe, die finde ich rührend: ihr Adamsapfel zum Beispiel, beim Essen. Aber sowie sie mich ansehen oder ansprechen, wird mir schwach. |
Kommentar/ Interpretation
Nach dem Geplänkel um ihren Beruf, der sich in keinem Berufslexikon
finden will, kommentiert DER HERR AUS BELLAC zur Charakterisierung, daß
gerade ihre Stärken die beste Gewähr für eine Karriere seien.
Eine spezielle, geradezu panisch generalisierte Angst vor Männern
(aller Art) wird zum Thema.
Die Angst ist wohl mit einem Ertappt- und Schuldgefühl verbunden.
Eine PsychoanalytikerIn würde wohl auf ein unbewußtes Penisdiebstahl-Motiv
infolge Penisneides [1,2,3,]
tippen (was sie fast immer tun und deshalb besagt es ja nichts).
Ein Fest für PsychoanalytikerInnen, diese Formulierungen ;-)
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Noch Zweite Szene: Einweihung
in die Bellac-Technik - Das einfache Generalrezept schmeicheln
"Sagen Sie ihnen, daß sie schön sind!"
... ... ...
DER HERR AUS BELLAC Wäre Ihnen daran gelegen, nicht mehr schwach zu werden? AGNÈS Wie meinen Sie? DER HERR AUS BELLAC Wäre Ihnen daran gelegen, sie nach Ihrem Belieben zu lenken, alles bei ihnen zu erreichen, die Präsidenten zum Tauchen, die Schwimmer zum klettern zu bringen? AGNÈS Gibt es denn dafür Rezepte? DER HERR AUS BELLAC Ein einziges, unfehlbares! AGNÈS Wie kämen Sie dazu, es mir zu verraten? Sie sind doch selbst ein Mann... DER HERR AUS BELLAC Kennen Sie's nicht, so bedeutet das ein Leben in Schmutz und Elend. Wenden Sie's an, und Sie werden Königin über alle sein! AGNÈS Königin über alle! Oh! Und was muß man ihnen da sagen? DER HERR AUS BELLAC Hört uns auch keiner zu? AGNÈS Niemand... [>413] DER HERR AUS BELLAC Sagen Sie ihnen, daß sie schön sind! AGNÈS Daß sie schön sind, gescheit, sensibel? DER HERR AUS BELLAC Nein! Nur schön. Was den Kopf und das Herz angeht, damit kommen sie selbst zurecht. Nur daß sie schön sind... AGNÈS Allen? Auch den Begabten, und den Genies' Einem Mitglied der Akademie sagen, es sei schön? Das würde ich niemals wagen... DER HERR AUS BELLAC Versuchen Sie's nur! Bei allen! Bei den Bescheidenen, bei den Alten, bei den Aufgeschwemmten. Sagen Sie's dem Professor der Philosophie, und Sie kriegen Ihr Doktordiplom. Sagen Sie's Ihrem Fleischer, und er wird noch ein Stück Filet in seinem Kühlraum finden. Sagen Sie's hier dem Präsidenten, und Sie haben die Stellung. AGNÈS Das braucht doch eine gewisse Vertrautheit, ehe man die Gelegenheit findet, ihnen das zu sagen... DER HERR AUS BELLAC Sagen Sie s gleich, ohne Umschweife. Und wenn Ihnen die Stimme versagt, lassen Sie's Ihren ersten Blick sagen, sowie er sich anschickt, Sie über Spinoza auszufragen oder Ihnen ein Stück zähes Rind abzusäbeln. AGNÈS Man muß doch warten, bis sie allein sind! Unter vier Augen mit ihnen sein! DER HERR AUS BELLAC Sagen Sie’s ihnen in der Straßenbahn, daß sie schön sind; mitten im Prüfungszimmer, im überfüllten Fleischerladen. Im Gegenteil. Je mehr Zeugen, um so besser! AGNÈS Und wenn sie nicht schön sind, was sag ich ihnen dann? Das ist doch leider das häufigste! DER HERR AUS BELLAC Sollten Sie schwer von Begriff sein, Agnès? Sagen Sie den Häßlichen, daß sie schön sind, denen mit O-Beinen und mit Pickeln... AGNÈS Sie werden es mir nicht glauben! DER HERR AUS BELLAC Alle werden sie's glauben. Alle glauben sie's von vornherein. Jeder Mann, selbst der Häßlichste, hütet in sich ein Sesam und eine geheime Pforte, durch die er unmittelbar mit der Schönheit selbst in Verbindung steht. Er wird nur das laut bestätigt hören, was seine Selbstgefälligkeit ihm ständig leise vorsagt. Und jene, die es nicht glauben - [>414] wenn es so etwas überhaupt gibt -, werden sich sogar am meisten geschmeichelt fühlen. Sie glauben zwar, daß sie häßlich sind; doch da eine Frau existiert, in deren Augen sie schön sind, so hängen sie sich an sie. Ihnen wird sie zur Zauberbrille und Maßreglerin eines Universums, das die Dinge verzerrt sieht. Sie weichen nicht mehr von ihrer Seite. Sehen Sie eine Frau allenthalben von einem Schwarm von Rittern umgeben, so besagt das nicht so sehr, daß die Herren die Dame schön finden, als vielmehr, daß diese ihnen eröffnet hat, daß sie schön sind... AGNÈS Oh, dann gibt es also schon Frauen, die das Rezept kennen? DER HERR AUS BELLAC Sie kennen es, aber schlecht. Sie reden drumherum. Sie sagen dem Buckligen, er sei hochherzig, sie nennen die Säufernase ein Seelchen. Das bringt nichts ein. Ich hab es erlebt, wie eine Frau Millionen verloren hat, Perlen und Brillantkolliers, weil sie zu einem Klumpfuß gesagt hatte, er laufe ausgezeichnet. Was sie ihm hätte sagen müssen, was Sie ihnen sagen müssen, ist nur eins: Sie sind schön!... Vorwärts. Daß er schön ist, läßt sich der Präsident auch außerhalb seiner Sprechstunden sagen ... |
Kommentar/ Interpretation
Ein ganz einfaches und sogar unfehlbares Rezept wird in Aussicht gestellt ... und mit einer kühnen Verheißung versehen ... Königin
über alle ...
Sagen Sie ihnen, daß sie schön sind! Nur schön.
Es soll bei allen funktionieren. D.h. nichts anderes als daß eben
"alle" Menschen für die Bestätigung bezüglich ihrer geheimen
Sehnsüchte, zu denen nach Giraudoux unbedingt gehört, schön
zu sein, anfällig sind.
Die gute Botschaft ist immer und überall und in jeder Situation
willkommen.
Der Häßliche, Bucklige, Picklige, jeder will es hören ... ... und alle werden es gern glauben ...
Schön sein ist wichtig, nichts anders kommt ihm gleich.
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In den folgenden Szenen wird ziemlich ausführlich und teilweise recht komisch ausgeführt, wie es funktioniert. Agnès verwandelt mit dem Zauberrezept - wie schön du bist - das ganze Amt. Alle strahlen, blühen auf und werden gleich einen Kopf größer. Ein wahrer Ruck geht durch die Körper und Seelen. Erst wandelt sich der Türsteher, dann der Generalsekretär, der gleich seine queren familiären weiblichen Beziehungen preisgibt (5. Szene) und die "dummen Gänse" mit den Familienmitgliedern assoziiert, die ihn offenbar nicht schön fanden (Mutter, Schwester, Nichte) und in der kurzen 6. Szene alle Vorstandsmitglieder, die gerade den Raum durchqueren und vom Türsteher ausgerufen werden. In der 7. Szene folgt der Präsident, der sich darüber wundert, daß die ganze Trübsal aus dem Haus urplötzlich verschwunden scheint. Erfüllt von der immer schon ersehnten Schmeichelei feuert er seine Privatsekretärin, die ihn häßlich fand. In der 8. Szene wird die Generalregel in der Auseinandersetzung des Präsidenten mit seiner Frau Thérèse, die Agnès der Lüge bezichtigt und mit dem Apoll von Bellac differenzierter interpretiert.
Aus der 8. Szene: Differenzierte
Interpretation der Generalregel
Agnès. Der Präsident. Thérèse
[Fast-Verlobte des Präsidenten]. Der Herr aus Bellac.
... ... ...
DER HERR AUS BELLAC Agnès lügt nicht. Sie hat dem Präsidenten die Wahrheit gesagt. Und Kleopatra hat Cäsar die Wahrheit gesagt, und Dalila Samson. Denn die Wahrheit ist, daß sie alle schön sind, die Männer, und zu jeder Zeit schön: und nur die Frau, die es ihnen sagt, lügt nicht. THÉRÈSE Mit einem Wort, ich bin die Lügnerin! DER HERR AUS BELLAC Sie sind die Blinde. Denn man braucht doch, um sie schön zu finden, die Männer wahrlich nur anzusehen, wie sie atmen und wie sie sich regen. Jeder hat ja seine Schönheit, seine verschiedenen Schönheiten. Seine Leibesschönheit zunächst: die Stämmigen stehen so fest auf der Erde. Die Schlottrigen hängen so hübsch vom Himmel. Seine Gelegenheitsschönheit: der Bucklige auf dem Dachfirst von Notre- Dame ist ein Meisterwerk und strotzt von gotischer Schönheit. Man muß ihn nur da hinaufbringen. Seine Tätigkeitsschönheit schließlich: der Möbelträger hat die Schönheit des Möbelträgers. Der Präsident seine Präsidentenschönheit. Mißlich wird es nur, wenn die beiden tauschen, wenn sich der Möbelträger die Schönheit des Präsidenten anmaßt, der Präsident die des Möbelträgers. |
Kommentar/ Interpretation
Nur wer die Sehnsucht befriedigt, sagt die 'Wahrheit'. Nur wer sagt,
was erwünscht ist, erreicht, was er will.
Die Kunst der relativierenden und differenzierenden Umdeutung feiert
Hochzeit.
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Der Präsident steigert sich in einen regelrechten Rausch hinein, endlich richtig wahrgenommen worden zu sein und verkündet rabiate persönliche Entscheidungen im eskalierenden Ehekrach. Und es kommt zur Gretchenfrage, die wahrscheinlich dem Konstruktivisten und Kommunikationstherapeuten Watzlawick so gefallen hat (noch 8. Szene):
Die
Freiheit der Definition der Wirklichkeit
... ... ...
PRÄSIDENT Sagten Sie, ich sei schön, Agnès, weil Sie mich schön finden, oder nur, um sich lustig zu machen? AGNÈS Weil Sie schön sind. ... ... ... THÉRÈSE Hat er etwa nicht eine Brust wie ein Schlachthuhn? AGNÈS Nein, Madame. Wie ein Schlachtschiff. THÉRÈSE Und diese Stirn, diese Dorftrottelstirn, ist das etwa die Stirn eines Landgrafen? AGNÈS Oh, keineswegs! Eines Königs! |
Kommentar/ Interpretation
... "sind" ist das erlösende Wort, die indikativische Definition der 'Wirklichkeit' Die Umdeutung geht bis zur Verdrehung, Verkehrung und maßlosen Übertreibung.
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In der 9. Szene, dem Schluß, verschwindet
Apoll, der sich als Gott der Schönheit zu erkennen gab. Sein Geheimnis
war einfach: Erfülle die Sehnsüchte glaubwürdig und die
erfahrene und ersehnte Wertschätzung macht die Menschen glücklich.
Dies könnte man auch als einen Weg mancher Psychotherapien, etwa der
gesprächspsychotherapeutischen bzw. klientenzentrierten Psychotherapie
sehen, deren Erfolgsrezept in der therapeutischen Grundhaltung Einfühlung,
Echtheit und Wertschätzung besteht. Psychotherapie, Kunst und Hochstapelei
erweisen sich so gesehen als potentielle Verwandte.
Die
Gesprächspsychotherapie von Rogers erscheint so durch den Apoll von
Bellac inspiriert. Zufällig und doch interessanterweise ist das erste
wichtige Buch von Carl Rogers - Counseling and Psychotherapy - zur Begründung
der Gesprächspsychotherapie im selben Jahr 1942
erschienen als Der Apoll von Bellac in Rio de Janeiro uraufgeführt
wurde. Zu dieser Zeit hatte Paul Watzlawick gerade drei Jahre sein Abitur
gemacht.
Wird Agnès zur Hochstaplerin
durch den ebensolchen Hochstapler Apoll von Bellac ausgebildet? Die Sozialphobikerin
Agnès hat ein Riesenmännerproblem und damit eine große
Sehnsucht ("... Und dann haben sie gewisse ganz eigene Organe, die finde
ich rührend ... "). Es gibt ein Heilmittel für sie, so die verheißungsvolle
Botschaft des Apoll: sag einfach jedem, daß er schön ist, wie
häßlich oder unattraktiv auch jemand sein mag. Er wird es sehnsüchtig
aufsaugen, gierig verschlingen und daran wachsen und blühen. Die Lebenslüge
wird zum psychologischen Heilmittel,
zur Alltagstherapie und gereicht der AnwenderIn zum Vorteil.
Ohne Zweifel haben die Lügen, Lebenslügen und Täuschungen bis hin zum Wahn auch sehr positive, fördernde, stützende und schützende Wirkungen. Wer die Sehnsüchte, Motive, Wünsche und Bedürfnisse so anzusprechen weiß, daß Erfüllung verhießen oder gar vermittelt wird, darf wohl auf eine positive Einstellung und Beziehung vertrauen. Dies wird vielfach genutzt im Alltag, aber auch in professionellen Beziehungen und natürlich auch von HochstaplerInnen. Die Grenzen sind fließend.
Geliebter Hyakinthos [1]
Apoll zwi. Artemis/ Tityos [2] Apoll u. Daphne [3] Apoll tötet die
Pyton [4]
[Quellen: https://www.viennatouristguide.at/Mythologie/Belvedere/ubapoll.htm#Die%20Geburt%20von%20Apoll
https://www.viamichelin.com/viamichelin/deu/dyn/controller/mapPerformPage?strLocation=Bellac&strCountry=eur&google=1
1 https://www.androphile.org/preview/Library/Mythology/Greek/Kyparissos/Apollo_and_Cyparissus.htm
2 https://www.canino.info/inserti/monografie/etruschi/musei/louvre/slides/image_06.htm
3 https://www.tyskaskolan.se/deutsch/facher/latein/rom/villa.html
4 https://www.viennatouristguide.at/Mythologie/Belvedere/ubapoll.htm#Die%20Geburt%20von%20Apoll]
___
Jean
Giraudoux (1882 Bellac - 1944 Paris)
"Der Sohn eines Ingenieurs besuchte die französische
Elite-Hochschule Ecole Normal Superieure, die er 1904 als Jahrgangsbester
verließ. Nach einem Studium der Germanistik ging er für ein
Jahr als Hauslehrer in die Familie des Theaterherzogs Georg II. von Meiningen.
Nach Reisen durch Europa und einem Aufenthalt als Lektor in Amerika trat
er 1910 in den diplomatischen Dienst ein, der ihn in den folgenden Jahren
in verschiedene Länder Europas und des Orients führte. In den
Jahren 1939/40 war er der Minister für Information seines Landes.
Nach der Niederlage Frankreichs zog er sich aus der Politik zurück.
Sein literarisches Werk entstand neben dieser diplomatischen Karriere.
Größeres literarisches Aufsehen erregte Giraudoux mit der Dramatisierung
eines Romans aus dem Jahr 1922 Siegfried und der Limousiner, die 1928 unter
dem Titel Siegfried uraufgeführt wurde. Hier ist ein Generalthema
Giraudoux' angeschlagen, das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland:
Ein französischer Offizier verliert auf den Schlachtfeldern des Ersten
Weltkriegs das Gedächtnis, lebt als Deutscher unter Deutschen,
bis ihm seine nationale Identität erneut bewusst wird. Weitere Dramen
mit Stoffen aus der Gegenwart sind Der Apoll von Bellac (1942), Intermezzo
(1933) und Die Irre von Chaillot (1945); andere Dramen Giraudoux'
greifen zwar antike Stoffe auf, wie z.B. Elektra (1937), Amphitryon 38
(1929), Der Trojanische Krieg findet nicht statt, zielen aber dennoch auf
Probleme der Gegenwart. In den Stücken mit biblischen Stoffen Judith
(1931), Sodom und Gomorrha (1943) diskutiert Giraudoux das Verhältnis
zwischen Männern und Frauen. Bei aller Skepsis ist seine Grundhaltung
optimistisch, da er ein blindes Walten des Schicksals, dem der Mensch wehrlos
ausgeliefert ist, bestreitet."
Die Zeitgenossen
von JEAN GIRAUDOUX (1882 - 1944): "Khalil Gibran * Simone Weil * Antoine
de Saint-Exupéry * Paul Nizan * Federico Garcia Lorca * Mikhaïl
Boulgakov * Marc Bloch * Walter Benjamin * Howard Phillips Lovecraft *
Marina Tsvetaeva. [https://www.evene.fr/celebre/fiche.php?id_auteur=344].
[Ursprüngliche Quelle: https://theater.mausefalle.ch/?3111,,giraudoux,]
___
"Behandle die Menschen so, als wären sie,
was sie sein sollten, und du hilfst ihnen zu werden, was sie sein können."
(Goethe)
korrigiert: irs 24.04.05