Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=28.09.2007 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 31.10.17
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen   E-Mail:  sekretariat@sgipt.org  _ Zitierung  &  Copyright

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    Willkommen in unserer Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung In Memoriam Walter Toman, Bereich Psychologie der Kunst, Literatur und Kultur:

    Hamlet
    Beispiel der Deutung eines Dramas.

    von Toman, Walter (1978).
    Tiefenpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. S. 215-218
    mit freundlicher Genehmigung der elektronischen Rechteinhaberinnen.
    Anmerkung: Das Toman'sche Motivationsbeurteilungsprinzip.



    "12. Beispiel der Deutung eines Dramas

    Was für umfassende diagnostische Bewertungen oder Deutungen von psychotherapeutischen Behandlungen gilt, soll auch hier beachtet werden. In der kasuistischen Berichterstattung ist es eigentlich unerläßlich, den Bericht der psychotherapeutischen Auseinandersetzung zwischen den Patienten oder der Patientengruppe und dem Psychotherapeuten von den nachträglichen abschließenden oder zusammenfassenden Interpretationen des psychotherapeutischen Geschehens zu trennen. Der Zuhörer oder Leser soll einerseits die Daten bekommen, auf die sich die zusammenfassende Interpretation bezieht, andererseits eben diese Interpretation, und er soll sodann selbst prüfen können, ob er die Daten genau so sieht und interpretieren würde wie der Berichterstatter, oder anders.
    So wollen wir es auch mit einem dichterischen Werk versuchen. In einem solchen, insbesondere wenn es das Interesse des Publikums über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg gefesselt hat, müßte es dem Dichter gelungen sein, Personen, Handlungen und Schicksale so miteinander zu verweben, zu »verdichten«, daß an seiner Botschaft, an der Mitteilung, die er machen möchte, eigentlich keine Zweifel mehr bestehen können. Das dichterische Werk ist eines der berühmtesten Stücke der Weltliteratur, nämlich Hamlet.
    An diesem Stück wurden bereits psychoanalytische Deutungen versucht. Es wurde darauf hingewiesen, daß Hamlet seine Mutter liebt und daß er sich mit seinem Oheim und Stiefvater darüber im Konflikt befindet. In den Gesprächen mit Ophelia und mit der eigenen Mutter enthüllt Hamlet durch seine Äußerungen und Gleichnisse, um wen es ihm in Wahrheit geht (siehe z. B. Freud 1900, bes. S. 271-273, auch 1927b).
    Wenn man Freud glaubt, daß jedes Kind seinen Ödipus-Komplex zu bewältigen hat und dies je nach den Lebensumständen der Familie besser oder weniger gut tut, dann ist diese Deutung Hamlets nicht überraschend. Auch Hamlet war einmal ein Kind, hatte seinen Ödipus-Komplex und bewältigte ihn mehr oder weniger gut. Durch den Tod seines Vaters und den Eintritt seines Oheims als Stiefvater ist alles noch einmal in Frage gestellt.
    Damit wäre aber zu wenig erklärt. Eine zusammenfassende Interpretation müßte im Grunde alles, was sich ereignet, erklären können. Was gesprochen wird, ist vielleicht nicht nur im Alltag, sondern auch im Drama weniger bedeutsam als das, was gehandelt wird, was realiter geschieht. Eine zusammenfassende Interpretation müßte auf alles Bezug nehmen, und zwar möglichst konsistent.
    Die Handlung ist im Drama Hamlet etwa folgendermaßen zu charakterisieren: Prinz Hamlet ist von der Universität Wittenberg an den dänischen Königshof zurückgekehrt, da sein Vater verstorben war. Die Mutter hat seither den (jüngeren) Bruder des Vaters, also Hamlet's Onkel Claudius, geheiratet. Claudius ist damit König geworden. Hamlet erscheint der Geist des Vaters und teilt ihm mit, daß er ermordet worden sei. Hamlets Onkel sei der Mörder. Man habe ihm, Hamlets Vater, als er auf einer Bank im Garten schlief, ein tödliches Gift ins Ohr geträufelt.
    Hamlet unterhält sich mit Ophelia, der Tochter des Polonius und der Schwester des Laertes. Claudius, der König, und Polonius hören zu und glauben, daß Hamlet Ophelia liebt. Rosencrantz und Guildenstern werden beauftragt herauszufinden, ob dies wahr sei. [<215]

    Schauspieler kommen an den Königshof und Hamlet instruiert sie, den Mord seines Vaters, so wie ihm der Geist es mitgeteilt hat, zu spielen. Sein Freund Horatio soll seine Mutter und seinen Stiefvater während der Vorstellung genau beobachten. Alles geschieht wie vereinbart. Claudius, der König, verläßt mit sichtlicher Bestürzung und vorzeitig die Vorstellung der Schauspieler.
    In einem Gespräch mit der Mutter versucht Hamlet, sie zur Trennung von seinem Onkel zu überreden. Sie geht darauf nicht ein. Ein Geräusch hinter einem Vorhang erweckt in Hamlet den Verdacht, daß er belauscht wird, vielleicht vom König. Er zieht sein Schwert und sticht durch den Vorhang hindurch. Dahinter bricht Polonius sterbend zusammen. Vorher hatte Hamlet einmal seinen Onkel allein und betend angetroffen, ihn aber deswegen nicht getötet, weil Claudius offenbar im Zustand der Reue war und vielleicht mit vergebenen Sünden gestorben wäre. Hamlets Vater dagegen war laut Mitteilung des väterlichen Geistes sündig gestorben und litt offenbar im Fegefeuer große Qualen.
    Claudius sendet Hamlet an den englischen Hof mit einer Botschaft, und Rosencrantz und Guildenstern begleiten ihn. In der Botschaft steht, daß Hamlet getötet werden möge. Hamlet hat den Beweis, daß ihn der König töten will. Hamlet verändert die Botschaft. Seine Begleiter sollen getötet werden. Er selbst flieht vom Schiff und kehrt nach Dänemark zurück.
    Am Grab Ophelias, die möglicherweise wegen Hamlets mehrdeutigen und auch kränkenden Erklärungen ihr gegenüber und wegen des Todes ihres Vaters wahnsinnig geworden war und sich ertränkt hatte, kämpft er mit Ophelias Bruder Laertes, der den Tod seiner Schwester und seines Vaters rächen möchte. Der Kampf wird unterbrochen. Er soll am Königshof im Beisein des Hofstaates und des königlichen Paares mit stumpfen Schwertern fortgesetzt werden. Dabei soll sich zeigen, wer der bessere Kämpfer ist.
    Der König verabredet mit Laertes, mit geschärftem (statt mit stumpfem) Schwert und mit vergifteter Schwertspitze gegen Hamlet zu kämpfen. Um sicher zu gehen, daß Hamlet stirbt, stellt der König auch noch einen Giftbecher bereit, aus dem Hamlet trinken soll, wenn er im Duell noch nicht tödlich verwundet wurde. Hamlet scheint den Kampf zu gewinnen, wird aber unerwartet durch das Schwert von Laertes geritzt. In einem darauffolgenden Getümmel werden die Schwerter vertauscht. Hamlet kämpft mit dem spitzen und vergifteten Schwert weiter und verletzt auch Laertes. Dieser verrät ihm nun, daß er vom König gedungen war und daß Hamlet, ebenso wie er selbst, in weniger als einer halben Stunde sterben müßte. Noch vorher hat die Königin, Hamlets Mutter, auf das Wohl Hamlets trinkend, versehentlich von dem Giftbecher getrunken, der für ihn, Hamlet, bestimmt war. Sie ruft aus, daß sie vergiftet worden sei. Auch sie stirbt. Hamlet selbst fühlt bereits die Wirkung des Giftes, stürzt sich mit letzter Kraft auf König Claudius und tötet ihn. Dann stirbt er selbst. Der endlos zaudernde und manchmal als wahnsinnig anmutende Hamlet handelt zuletzt doch.
    Fortinbras, ein norwegischer Prinz, übernimmt das Königreich Dänemark. Hamlets Vater hatte Fortinbras' Vater vor vielen Jahren im Kampf getötet und ihm seine Ländereien weggenommen. Diese gehen nun an den Sohn von Fortinbras zurück.

    12.1. Zusammenfassende Interpretation

    Warum läßt Shakespeare Hamlet so lange zaudern, bis es zu spät ist und alle zugrunde gehen? Was will er sagen? Versuchen wir die Ereignisse durch Nennung von zugrundeliegenden Motiven zu deuten. [<216]

    Hamlet liebt seinen Vater und seine Mutter. Er will den Tod seines Vaters rächen. Er würde eventuell davon Abstand nehmen, wenn die Mutter sich von seinem Onkel trennt.
    Claudius, Hamlets Onkel, will die Frau seines Bruders und wahrscheinlich auch die Königskrone. Um dies zu erreichen, war er auch bereit, seinen Bruder zu töten. Hamlet hat nichts von ihm zu befürchten, sofern er sich der neuen Situation fügt (Impliziert ist vielleicht sogar, daß er der Kronprinz bleibt. Entweder wird das neue Königspaar aus Altersgründen keine Kinder mehr haben, oder eventuell geborene Kinder werden in der Erbfolge hinter Hamlet rangieren).
    Die Mutter liebt Claudius, hat wissentlich oder unwissentlich der Ermordung des Vaters zugestimmt und möchte ebenfalls, daß Hamlet die neue Lage akzeptiert Hamlet läßt die Ermordung seines Vaters von Schauspielern noch einmal vorführen. Er bekommt den Beweis, daß Claudius schuldig ist. Er darf und muß Claudius töten. Er tut es bei der ersten Gelegenheit nicht, weil Claudius gerade betet. Er würde, wenn er jetzt stirbt, vielleicht in den Himmel kommen. Das wäre eine schlechte Sühne für seine Mordtat. Dagegen will Hamlet den König töten, als er bei der Unterredung mit der Mutter, die enttäuschend für ihn ausgeht, einen Lauscher - »hoffentlich ist es der König!« - hinter einem Vorhang vermutet. Er ersticht dabei aber einen anderen Vater, nämlich den von Ophelia und Laertes, Polonius, und er kann vielleicht nur deswegen zustechen, weil er nicht sicher weiß, daß er der König ist. Wüßte er es sicher, dann würde er es doch nicht wagen.
    Nach dem Beweis, daß ihn der König an den englischen Hof schickt, um ihn dort töten zu lassen, fährt er nach Dänemark zurück. Daß die beiden Söldlinge des Königs Rosencrantz und Guildenstern, statt seiner sterben werden, ist ihm eine eher belanglose Genugtuung. Auch der Streit mit Laertes und der Tod Ophelias berühren Hamlet nicht sehr. Er hat beides nicht gewollt. Der Tod des Vaters der beiden war ein Versehen. Es ging ihm nur um die Sühne des Mordes an seinem Vater. Claudius mußte getötet und die Mutter befreit werden. Alles andere war weniger bedeutsam.
    In dem Kampf am Hof wird Hamlet aus dem Munde Laertes noch einmal bestätigt, daß der König ihn, Hamlet, ermorden lassen wollte bzw. eigentlich bereits ermordet hat. Die Mutter ist ebenfalls bereits im Sterben. Der »Reservemordanschlag« des Königs auf Hamlet ist versehentlich bei der Mutter gelandet. Der König hat auch Hamlets Mutter gemordet. Jetzt erst vermag Hamlet den König zu töten.
    Man könnte sagen, das Zaudern und der manchmal an Wahnsinn grenzende innere Belastungszustand von Hamlet ist durch die Ungeheuerlichkeit der Tat bedingt, die er begehen soll. Er soll einen Vater, seinen Vater, töten, auch wenn es sich nur um seinen Onkel und Stiefvater handelt. Er soll den Mann seiner Mutter töten. So unantastbar ist ein Vater, so tabu seine Person, daß er auch nicht getötet werden darf, wenn er Schuld auf sich geladen hat und nicht einmal der leibliche Vater ist  Die Vaterstelle ist unantastbar. So unantastbar ist auch der Wunsch und die Wahl der Mutter. Wen sie zum Mann erkürt, der muß auch der Vater ihres Sohnes werden nicht nur m den Augen ihres neuen Mannes, sondern auch in der Anerkennung durch den Sohn.
    Die Schuldgefühle Hamlets könnten subjektiv auch auf mögliche eigene Kindheitswünsche des Besitzes der Mutter und der Ausschaltung des Vaters zurückzuführen sein. Wie andere Kinder bzw. wie andere Einzelkinder (die es etwas schwerer haben) wäre er aber damit vermutlich zu Rande gekommen, und erst, als durch den Tod des Vaters alles noch einmal offen und möglich wird, worauf er bereits verzichtet hat, werden ihm die eigenen Wünsche bewußt. Sie sind auch jetzt noch unter seiner Kontrolle. Er hätte vielleicht mit der Mutter »in Keuschheit« gelebt. Beide wären in der [<217] Liebe abstinent geblieben, er als neuer König, sie als die verehrte Königin-Mutter. Sie hätten dem verstorbenen Vater ein treues Angedenken bewahrt.
    Wenn die Mutter nach dem Tod des Vaters jedoch keineswegs abstinent zu sein gedenkt, wenn sie vielmehr den (jüngeren) Bruder des Vaters ehelicht, und zwar viel zu bald nach dem Tod des Vaters, wenn ein anderer also mit der Mutter tun darf, was er selbst sich im Interesse des guten Einvernehmens mit der Familie längst und gründlich versagt hatte, dann wird die Sache kritisch. Das Spiel der Schauspielertruppe nach den Anweisungen von Hamlet soll eine Probe für den Oheim sein, aber da er selbst, Hamlet, das Geschehen rekreiiert, da er dabei selber den Vatermord durchprobiert, weiß er noch genauer, was der Oheim wollte. Er kann eine Spur eines solchen Wunsches vielleicht auch bei sich selbst entdecken. Umso weniger Berechtigung hat er aber, den Oheim zu bestrafen.                                                                      .
    Dazu kommt noch die vielleicht nicht eingestandene Erkenntnis Hamlets, daß sein verehrter Vater vielleicht alt und schwach geworden war. Der seinerzeitige Sieger über Fortinbras' Vater fällt jetzt sozusagen im Schlaf. Er ist müde geworden. Er braucht sein Nickerchen und wird dabei das Opfer seines Gegners. Er ist vielleicht der Mutter Hamlets auch als Gatte nicht mehr viel wert. Hamlet hätte dies möglicherweise nichts gemacht. Vater und Sohn verzichten eben beide auf die intime Liebe zur Mutter. Die Mutter verzichtet aber nicht. Sie will ihren Liebhaber. Das ist für Hamlet empörend. - Man könnte sogar vermuten, daß eine »Schwäche« des Vaters manchen schon früher evident geworden war. Wieso hatte er nur einen einzigen Sohn, nur ein einziges Kind? Ob der Geist sozusagen ein »wirklicher Geist« oder nur die Einbildung Hamlets ist, wäre in diesem Zusammenhang von sekundärer Bedeutung. Im zweiten Fall hätte Hamlet den wahren Sachverhalt eben feinfühlig erraten. Es ändert nichts an dem, was geschehen ist und was er infolgedessen zu tun hat.
    Shakespeares Botschaft könnte also wie folgt lauten: Ein Sohn darf auch einen Stiefvater, den die Mutter gewählt hat, nicht töten. Er darf dies auch dann nicht, wenn dieser den Vater ermordet hat. Er darf es erst, wenn der Stiefvater sogar ihm selbst nach dem Leben trachtet, wenn er den Sohn praktisch bereits ermordet hat und wenn er zu allem Überdruß auch noch die Mutter tötet. Erst dann darf der Sohn Hand an jemanden legen, der die Vaterstelle bei ihm eingenommen hat.
    Eine peripherere Botschaft Shakespeares, eine Art von Rahmenbotschaft zur eigentlichen Mitteilung, könnte etwa lauten: Unrecht Gut gedeiht nicht. Was Hamlets Vater anderen weggenommen hat, muß er denen bzw. ihren Nachkommen (Fortinbras) wieder zurückgeben. Wenn dies nur über den Tod der gesamten Familie von Hamlets Vater möglich ist, dann sei es eben.
     
    Shakespeare's Hamlet ist das Drama einer lange hinausgezögerten Tötung des Stiefvaters als Vergeltung für die Ermordung des Vaters. Erst als auch Hamlet selbst und seine Mutter von der Hand des Stiefvaters bereits im Sterben sind, kann Hamlet seinen Vater rächen und seinen Stiefvater töten.
    Die dichterische Botschaft könnte sein: So stark verboten ist der Vatermord, daß man auch einen Ersatzvater, selbst wenn er den Vater ermordet und die Mutter geheiratet hat, nicht töten darf, es sei denn, die Mutter und man selbst sind ebenfalls bereits Opfer des Mörders.

    Kontrollfragen
    12. Was würde dagegen sprechen, daß die Ermordung von Hamlet's Vater durch dessen Oheim nur die Phantasie Hamlet's, der Anschlag des Oheims auf Hamlet nur ein Akt der Notwehr gegen Hamlet's Wahnsinn war?
    [<218]"

    ******************
    Im Text zitierte Literatur:
    Freud, S. (1900). Die Traumdeutung. Gesammelte Werke 2/3. London: Imago Publishing.
    Freud, S. (1927b).  Dostojewski und die Vatertötung. Gesammelte Werke Bd. 14. London: Imago Publishing.



    Literatur und Links (Auswahl)
    Walter Toman Online (Fachbiographie: Literaturliste).

    Hamlet Online Versionen:
    GP nach Schlegel (kritisch) :

    • https://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=2615&kapitel=1#gb_found
    GP übersetzt von Christoph Martin Wieland:
    • https://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=2614&kapitel=1#gb_found
    und andere Quellen in W.
     



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    1) GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    ___
    Das Toman'sche Motivations-Beurteilungsprinzip findet sich an mehreren Stellen seines Werkes, und so auch hier, im Hamlet:
     
    Was gesprochen wird, ist vielleicht nicht nur im Alltag, sondern auch im Drama weniger bedeutsam als das, was gehandelt wird, was realiter geschieht.

    Das bedeutet auch: die letztlich wirk-lichen (> wirklich) Motive eines Menschen ergeben sich aus seinen Handlungen, aus seinem Tun und Lassen. Mit diesem Beurteilungsprinzip befindet sich Toman ganz in der Nähe der existenzialistischen Philosophie. Der Existenzialismus vertritt die Auffassung, dass der Mensch wesentlich sein Tun (und Lassen, was wir hinzufügen möchten) "ist". Dass ausgerechnet die Psychotherapie, deren Hauptwerkzeug doch die Worte und die Sprache sind, die Worte, sofern sie keine Handlungen beschreiben, so kritisch hinterfragt, mag paradox erscheinen, zeigt aber den Stellenwert der Worte als blosses Medium und dass es darauf ankommt, was sie bedeuten, was wirk-lich hinter ihnen steckt, vor allem an Handlungen (oder Unterlassungen). Damit steht Toman als empirisch orientierter Psychoanalytiker auch der Verhaltens-, Kommunikations- und systemisch-handlungsorientierten Therapie nahe. Besonders in der Verhaltenstherapie sind TUN und LASSEN als Realisationen von LERNEN sehr mächtige therapeutische Methoden.
    Inhaltlich folgt Toman der Interpretation Freuds (1900), der zum Hamlet schrieb: "... Mit der überwältigenden Wirkung des moderneren Dramas hat es sich eigentümlicherweise als vereinbar gezeigt, daß man über den Charakter des Helden in voller Unklarheit verbleiben könne. Das Stück ist auf die Zögerung Hamlets gebaut, die ihm zugeteilte Aufgabe der Rache zu erfüllen; welches die Gründe oder Motive dieser Zögerung sind, gesteht der Text nicht ein; die vielfältigsten Deutungsversuche haben es nicht anzugeben vermocht. Nach der heute noch herrschenden, durch Goethe begründeten Auffassung stellt Hamlet den Typus des Menschen dar, dessen frische Tatkraft durch die überwuchernde Entwicklung der Gedankentätigkeit gelähmt wird (»Von des Gedankens Blässe angekränkelt«). Nach anderen hat der Dichter einen krankhaften, unentschlossenen, in das Bereich der Neurasthenie fallenden Charakter zu schildern versucht. Allein die Fabel des Stückes lehrt, daß Hamlet uns keineswegs als eine Person erscheinen soll, die des Handelns überhaupt unfähig ist. Wir sehen ihn zweimal handelnd auftreten, das einemal in rasch auffahrender Leidenschaft, wie er den Lauscher hinter der Tapete niederstößt, ein anderesmal planmäßig, ja selbst arglistig, indem er mit der vollen Unbedenklichkeit des Renaissanceprinzen die zwei Höflinge in den ihm selbst zugedachten Tod schickt. Was hemmt ihn also bei der Erfüllung der Aufgabe, die der Geist seines Vaters ihm gestellt hat? Hier bietet sich wieder die Auskunft, daß es die besondere Natur dieser Aufgabe ist. Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an dem Mann vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dessen Stelle eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche zeigt. Der Abscheu, der ihn zur Rache drängen sollte, ersetzt sich so bei ihm durch Selbstvorwürfe, durch Gewissensskrupel, die ihm vorhalten, daß er, wörtlich verstanden, selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafende Sünder." Freud bemerkt weiter, dass Shakespeare den Hamlet 1601, kurz nach dem Tode seines Vaters, also in einer Zeit der "frischen Trauer" in der "Wiederbelebung" der Kindheitsempfindungen dichtete. IRS/RS.
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    elektronische Rechteinhaberinnen. Hier die Erbinnen, d.h. die beiden Töchter Walter Tomans - Frau Christina Bogensberger und Frau Adrienne Trubel-Toman, Österreich - , so die Auskunft des Kohlhammer-Verlages (Frau Schmid): vielen Dank für den Hinweis und die Erlaubnis.
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    Querverweise
    Standort: Hamlet.
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    Hamlet. Eindrücke und Impulse durch die Premiere im Markgrafentheater Erlangen 29.9.7.
    Überblick Walter Toman im Internet.
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    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B. Walter Toman site:www.sgipt.org. 
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    Dienstleistungs-Info.
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    Zitierung
    Toman, Walter (DAS). Hamlet. Beispiel der Deutung eines Dramas. [In memoriam Walter Toman 28.9.2007]. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/lit/toman/Hamlet.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Dieser Text von Walter Toman darf nur mit Genehmigung der elektronischen Rechteinhaberinnen auf andere elektronische Datenträger übernommen oder eingebunden werden. Die Buchprintrechte liegen beim Kohlhammer-Verlag.


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    korrigiert/kontrolliert: irs 27.9.7



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    31.10.17    Zwei Querverweise.
    15.09.15    Linkfehler geprüft.
    01.10.07    Ergänzung: Bemerkung Freuds zum zeitlichen Zusammenhang der Hamletdichtung und dem Tod von Shakespeares Vater (1601).