Begriff, Begriffsanalyse und Gebrauchsbeispiele bei William Stern im 16. Kapitel der Allgemeinen Psychologie: "Die Hauptarten der Gedanken"
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Begriffsanalyse Begriff.
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Begriff.
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Begriffe und Begriffsmerkmale (BM).
Aufbereitet von Rudolf Sponsel, Erlangen
Stern, William (1935) 16. Kap.: Die Hauptarten der Gedanken. In (396-417)
Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage. 2. Auflage. Nachdruck
1950: Den Haag: Nijhoff.
"SECHSZEHNTES KAPITEL
DIE HAUPTARTEN DER GEDANKEN
Allen Gedanken wohnt eine Intention inne; deren Ziel kann sein: ein Gegenstand, eine Beziehung, ein Gesamtsinn. Hiernach gliedern sich auch psychologisch die Hauptarten der Gedanken.
I. GEGENSTANDSGEDANKEN
Der Beginn gegenständlichen Denkens ist noch ganz in die Sinneswahrnehmung eingeschmolzen. Rein in der Gegenwart erlebt der Mensch ein: „da ist etwas"; die Denkintention geht auf einen flüchtigen „Augenblicksgegenstand". Erst von hier aus scheiden sich dann allmählich die beiden Wege des Objektdenkens: zum individuellen und zum allgemeinen Gegenstand hin. Beide setzen schon gewisse Entanschaulichungsprozesse voraus.
1. Das Denken individueller Gegenstände
Die Auffassung des selbständig existierenden Einze1dinges
verlangt Identifikation durch Bezug beliebiger Vorstellungen auf
ein, mit sich selbst über die Zeit hin identisch bleibendes, Etwas.
Die reine Gegenwartsbindung reicht also nicht aus, ebenso wenig das Erlebnis
irgend einer einzelnen konkreten Vorstellung. Wir haben dies früher
an dem Beispiel „Hamburger Hafen" aufgezeigt (S. 370). Beim Kleinkind kann
man das Denken individueller Gegenstände im Entstehen beobachten,
z.B. dort, wo aus dem blossen Vertrautheitsgefühl beim Sehen des mütterlichen
Gesichts oder des Püppchens ein regelrechtes „Wiedererkennen", also
ein Identifizieren wird. Die fortschreitende „Vergegenständlichung"
der Einzeldinge ist ein sehr langsamer, [> 397] nie ganz zum Abschluss
kommender Prozess ; es ist immer nur ein kleiner Bruchteil der personalen
Welt eines Menschen, innerhalb dessen jene Herauslösungen, Abgrenzungen,
Gegenüberstellungen und Identifikationen erstrebt werden und gelingen,
die zum Gegenstandsgedanken führen.
Ein Beispiel: für naive Menschen ist die Luft,
die sie atmen, so innig dem Vitalprozess eingeschmolzen und so unklar gegen
anderes abgegrenzt, dass sie psychologisch nicht den vollen und klaren
Gegenstandscharakter gewonnen hat.
Wie sehr der Identitätsgedanke, bezogen auf
einen individuellen Gegenstand, schon über die blosse konkrete Vorstellung
hinausgeht, ersieht man am besten an dem Unterschied zwischen unbelebten
und belebten Gegenständen. Auch einem unbelebten Gegenstand „Puppe",
„Berg" entsprechen viele Vorstellungen. Aber deren Verschiedenheit
wird nicht dem Objekt zugeschrieben, sondern nur der jeweilig wechselnden
Stellung des Subjekts zu ihm; hier ist dem Identitätsgedanken der
Gedanke der Gleichheit (genauer des Mit-sich-Gleichbleibens) zugesellt.
Anders beim lebendigen Gegenstand. Eine Pflanze wächst und blüht
und welkt, ruft in mir im Zeitablauf verschiedene Wahrnehmungen hervor,
die sich in verschiedenen Vorstellungen niederschlagen; diese werden objektiviert,
d.h. auf jeweilig wechselnde Zustände des Objekts bezogen —aber
das Objekt selbst wird als identisch gedacht, ungeachtet der an ihm mitgedachten
Veränderungen. Und zwar ist diese Fähigkeit zur gedanklichen
Identifikation veränderlicher Gegenstände nicht etwa ein spätes
Phänomen; sie ist vielmehr ganz primitiv, ja sie ist gerade auf primitiven
Denkstufen besonders fessellos; denn diese Stufen denken magisch: jedes
Ding, jedes Geschöpf kann sich in ein völlig anderes verwandeln
— ohne dass seine „Dasselbigkeit" dadurch irgendwie berührt würde
; in Märchen, Mythos und Zauberei gibt es ja unbeschränkte Metamorphosen
der Personen und Sachen.
Natürlich kommt auch dieser priniitive Identitätsgedanke
nicht ohne anschauliche Hilfen zustande, die teils der äusseren Wahrnehmung,
teils der Selbstwahrnehmung angehören. An den Gegenständen
wird der Zeitablauf ihrer Zustandsänderungen als ein stetiger erlebt;
nirgends erfolgt der Bruch, der die Abhebung eines neuen Objekts gegen
das alte rechtfertigen würde. [>398] Zugleich erlebt das Subjekt
sich selbst als identisch mit seinem früheren Dasein. „Ich" habe Erinnerungen
an frühere Zustände als „meine" ; „Ich" habe das Bewusstsein,
dass die Linie meines Lebens nirgends eine Zerreissung erfuhr und auch
weiterhin auf lange nicht erfahren wird, sodass die verschiedensten Zustände
verschiedener Zeiten der Vergangenheit und Zukunft demselben, „meinem",
Leben angehören. Der Identitätsgedanke kann sich hier also auf
den unmittelbar vitalen Untergrund der Person stützen; nach Analogie
zum eigenen Ich erhalten dann auch die anderen Gegenstände eine Art
personaler Identität.
An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen psychologischer
und logischer Behandlung desselben Themas deutlich. Der „Satz von der Identität"
wird von der Logik ausgesprochen in der Formel „A = A" oder „jedes Ding
ist sich selbst gleich". Psychologisch ist die auf G1eichheit gestützte
Identität die späteste und abstrakteste Form dieses Gedankens;
viel primitiver sind die beiden Kriterien der Identität, die sich
in die Sätze fassen lassen: „Jedes Seiende existiert stetig
zu sich selbst" und „Ich bin Ich; Dein Ich ist Dein Ich". Von hier aus
führt ein langer Weg zu jener versächlichten Identität,
in der das „Mit-sich-g1eich-sein" — und damit die Starrheit, Unveränderlichkeit
— zum Kriterium des Gegenstandes wird. Seine abstrakteste Form hat dieser
Identitätsgedanke gewonnen in den philosophischen Kategorieen der
Substanz, der leblosen Materie, des „Seins" schlechthin, aus dem alles
Leben und alle Veränderung fortgedacht ist.
2. Das Denken allgemeiner Gegenstände
Aber der Mensch denkt nicht nur individuelle, sondern auch allgemeine
Gegenstände (vgl.BeispielcS. 371 von der Winkelsumme im Dreieck)
; und hier ist nun allerdings die Gleichheitskategorie als Denkstütze
von wesentlicher Bedeutung. Denn das Denken des Allgemeinen setzt voraus,
dass an einer Mehrzahl individueller Gegenstände übereinstimmendes
erkannt, und dass dann dies übereinstimmende von den Einzelgegenständen
losgelöst (abgezogen, „abs-trahiert") und zu selbständigem Gedankeninhalt
erhoben wird. Diese Verselbständigung verlangt dann eine Fixierung,
die im sprachlich formulierten Allgemeinbegriff („Dreieck",
„Mensch", „Affekt") erfolgt. Vergleichung, Abstraktion und Fixation sind
also die gedanklichen Akte, ohne welche allgemeine Gegenstände nicht
gedacht [>399] werden können. Eine solche Leistung setzt schon einen
ziemlich hohen Grad geistiger Entwicklung voraus; man muss sich deshalb
hüten, überall dort schon echte Allgemeingedanken anzunehmen,
wo das äussere Symptom — ein für verschiedene Gegenstände
gebrauchtes gleiches Wort — auftritt.
Hier hat es namentlich in früheren Stadien
der Kindespsychologie Irrungen gegeben, indem man den psychischen Vorgang
zu stark logifizierte. Wenn ein Kind von 5/4 Jahren nicht nur verschiedene
Vögel, sondern auch Insekten, fliegende Papierstücke u.s.w.
„pipip" nannte, so hatte es nicht etwa den sehr allgemeinen Gedanken des
„Fliegenden überhaupt" gewonnen; vielmehr bewirkte nur die Vagheit
des Erlebens und der Wortmangel, dass in irgend einem Augenblick dem Eindruck
eines in der Luft bewegten Objekts ein geläufiges Wort zugesellt wurde.
Ob es „derselbe Gegenstand" sei, wie früher, wenn etwas „pipip" genannt
wurde, ob es ein anderer, aber jenem früheren Gegenstand ähnlicher
oder gleicher sei — diese Gedankenoperationen liegen noch ganz jenseits
des frühkindlichen Bereichs; nur ein „Momentgegenstand" wird gedacht
und benannt.
Auch das primitive oder flüchtige Denken des
Erwachsenen täuscht zuweilen einen besonders hohen Grad der Abstraktion
vor durch Verwendung sehr allgemeiner Sprachsymbole, wie „Ding", „Tier",
„Mensch" — wo in Wirklichkeit überhaupt nicht Abstraktion, sondern
blosse Unbestimmtheit des Denkens, geringe Anschaulichkeit und grosse Wortarmut
vorherrscht.
Auch nach der anderen Seite hin darf man nicht in
eine falsche Logisierung des Problems verfallen, indem man etwa sagt: der
Gedanke eines Allgemeingegenstandes setze jedesmal voraus, dass
ein Prozess der Vergleichung, Abstraktion und Fixierung, also ein regelrechtes
Induktionsverfahren, vorangegangen sei. Träfe dies zu, dann wäre
der mögliche Vorrat an Allgemeingedanken beim Einzelindividuum unsäglich
dürftig. In Wirklichkeit bedarf der Mensch, um überhaupt zu erfassen,
was Allgemeingedanken seien, einer relativ kleinen Anzahl von Modellen,
an denen die Intention auf das Allgemeine entwickelt wird; ist sie aber
einmal gewonnen, so ist nicht mehr die jedesmalige Ableitung aus einer
Vielheit individueller Gegenstände oder die tatsächliche Anwendung
auf sie nötig; es genügt das abstrakte Wissen, dass sich der
Gedanke auf das Übereinstimmende vieler Einzelobjekte bezieht. Wenn
man einem Menschen erstmalig einen ihm bisher unbekannten Begriff
— z.B. „Komet" oder „Infusorium" — nahe [>400] bringt, so versteht er unmittelbar,
dass damit nicht ein Einzelgegenstand, sondern eine Gattung — der Inbegriff
der Gemeinsamkeiten vieler Einzelgegenstände — gemeint ist, ohne dass
er auch nur einen einzigen individuellen Repräsentanten wahrgenommen
oder mehrere verglichen haben müsste.
Aber freilich — um den Allgemeingedanken zu kären,
um die ihm zukommenden und nicht zukommenden, die wesentlichen und unwesentlichen
Merkmale zu unterscheiden, ist das immer wiederholte Zurückgreifen
auf Anschauung und Vorstellung, auf Schema und Einzelgegenstände („Beispiele",
„Fälle") von grösster Bedeutung. Solche Veranschaulichungsschritte
des Denkens wechseln dann immer wieder mit Entanschaulichungsschritten,
um den abstrakten Gleichheitsgedanken der Idealform des logischen „Begriffes"
anzunähern.
In diesem Hin und Her von Allgemeindenken und. Anschauungshilfen
gibt es die krausesten psychologischen Verquickungen und Zwischenstufen.
Die Frühentwicklung des kindlichen Sprechdenkens
liefert hierfür besonders instruktive Beispiele, von denen wir an
dieser Stelle nur einige wenige herausgreifen können 1).
Der erste, deutlich erkennbare Allgemeingedanke
des Kindes ist vielleicht der, dass „jedes Ding einen Namen habe". Einige
Monate nach den ersten Spracherwerbungen, die noch wie zufällige Verknüpfungen
von Lauten mit Momentangeschehnissen oder Individualgegenständen
anmuten, beginnt das Kind plötzlich zu bemerken, dass Dinge allgemein
benennbar sind; es zeigt auf verschiedene, ihm sprachlich unbekannte Objekte
und verlangt, ihren Namen zu erfahren, durch fragende Mienen oder
fragende Worte („isn das ?" = was ist denn das ?).
Immerhin ist diese Entdeckung der Nennfunktion zunächst
noch ein Gedanke von beschränkter Allgemeinheit, da das Kind ihn nur
auf wahrnehmbare 'Gegenstände (also nicht auf Tätigkeiten, Eigenschaften
u.s.w.) erstreckt und innerhalb dieser auf solche Gegenstände, die
das Inventar seiner engen Umwelt ausmachen.
Unterstützt werden diese primitiven Abstraktionen
sehr stark durch Reihenbildung, da in einer Reihe die zu vergleichenden
Einzelgegenstände anschaulich neben- oder hintereinander gegeben
sind. Die Wahrnehmung von übereinstim1) Vgl. C. u. W. Stern, Die Kindersprache.
3. Aufl. — W. Stern, Psychol. d. fr. Kindheit, III. und VIII. Abschn. [>
401] mungen erleichtert es wesentlich, einen Gattungsgedanken als Substrat
des gemeinsamen Merkmals zu denken.
Ein Kind von 3/4, Jahren läuft im Zimmer umher,
berührt jeden Stuhl mit jedesmaliger Wiederholung der Frage „das Tul
?" ( = „Ist das ein Stuhl?"). Und wenn es etwa an eine anders aussehende
Sitzgelegenheit, einen gepolsterten Sessel oder einen Schemel, kommt, so
wird der sprachliche Ausdruck der Frage noch zweifelnder und zögernder;
die Unterordnung dieses Gegenstandes von geringerer Ähnlichkeit unter
den Allgemeingedanken „Stuhl" wird eben nicht ohne weiteres vollzogen.
1) Vgl. C. u. W. Stern, Die Kindersprache. 3. Aufl. — W. Stern, Psychol.
d. fr.Kindheit, III. und VIII. Abschn.
Was wir in einer solchen Einzelbeobachtung ertappen,
ist nur der Momentausschnitt aus einem Prozess, der sich bezüglich
aller Allgemeingedanken fortwährend vollzieht; ihre Klärung,
Verengung, Erweiterung, Verschiebung geht das ganze Leben hindurch; neue
Erfahrungen, Korrekturen aus der Wahrnehmung, aus anderen Denkvorgängen,
aus dem sozialen Kontakt bewirken, dass der Erlebnisgehalt eines Allgemeingedankens
nicht stabil ist, sondern stark wechselt. Auch die Allgemeingedanken sind
also unselbständige Momente des personalen Lebens selbst und ändern
sich mit diesem. (Wieder sehen wir den Unterschied zwischen dem „psychologischen"
Gedanken und dem „logischen" Begriff,
der zeitlos und von dem denkenden Subjekt unabhängig ist.) Die Reihenbildung
spielt eine besonders interessante Rolle bei einer sehr wichtigen Kategorie
allgemeiner Gedanken, den Zahlgedanken.
Beim Kleinkind entwickelt sich der erste sinnvolle
Gebrauch von Zahlen stets an gleichartigen, neben- oder nacheinander
gereihten Gegenständen. Sind solche in ihrer Zusammengehörigkeit
durch einen Anschauungsakt zu erfassen, dann gelangt das Kind zu
den ersten „Anschauungszahlen": zwei Äpfel, zwei Hände, drei
Männer.
Für die höheren Ziffern sind Zwischenstadien
nötig. Das Kind legt lauter Kastanien hintereinander und „zählt":
eins, noch eins, noch eins; auf einer nächsten Stufe werden die einzelnen
Glieder einer solchen Reihe schon mit den gelernten Zahlwörtern verbunden:
eins, zwei, drei, vier. Diese Sprachsymbole bedeuten also 1) Vgl. hierzu
die viel primitivere Verhaltungsweise des Tieres in analogen Fällen
S. 440. [>402] zunächst nur den Platz in der Reihe, stellen „Ordnungszahlen"
dar; und es ist noch ein weiterer Entwicklungsschritt nötig bis zu
dem Gedanken, dass die letztgenannte Zahl zugleich die Anzah1 aller
Reihenglieder — also die Kardinalzahl — angibt 1).
Der Gedanke der „Anzahl" wird nicht sogleich
in seiner abstrakten Allgemeinheit gewonnen; er bleibt zunächst auf
gewisse, personal wichtige Gegenstandsgruppen beschränkt. So können
Kinder schon die „Zweiheit" bei Äpfeln und Händen verstehen und
sinnvoll aussprechen, ohne dass sie diese Zahlennamen auf Häuser oder
Berge anwenden können. Ganz entsprechende Erscheinungen zeigen die
Zahlsysterne primitiver Völker; doch auch die der Kulturmenschheit
sind nicht frei davon. Es gibt in den Kultursprachen halb-abstrakte Anzahlbezeichnungen,
wie „Paar", „Dutzend", „Schock", die nur auf bestimmte Gegenstandsgruppen
anwendbar sind; und es gibt magische Zahlen wie 3, 7, 13, die nicht
einen indifferenten Mengenwert darstellen, sondern personalen Symbolcharakter
haben.
Es ist hier nicht der Ort, den gewaltigen Entanschaulichungsprozess
zu verfolgen, den das Zahlendenken der Menschheit im Laufe der Zeiten durchmessen
hat. Nur gewisse Haupttypen seien genannt. Am Anfang stehen, wie wir eben
sahen, die „ausgewählten" und „magischen" Zahlen — bei denen überhaupt
nur wenige unter den möglichen Anzahlen erfasst und auch diese nur
in Bezug auf wenige Gegenstandsgebiete angewandt werden. In weiteren Denkschritten
werden gewonnen : die „benannten" Zahlen, die noch an Gegenständen
kleben, aber schon auf beliebige Gegenstände anwendbar sind, die „unbenannten"
ganzen Zahlen, bei denen bereits die gedanklichen Operationen in Unabhängigkeit
von irgend welchen Gegenständen vollzogen werden. Durch eine Kluft
getrennt von diesen sind jene weiteren Zahlabstraktionen, die erst durch
wissenschaftliches Denken erarbeitet werden konnten: die negativen, die
irrationalen, die imaginären, die infinitesimalen Zahlen — bis hin
zu den, in keiner gegenständlichen Anschauung mehr verifizierbaren,
nur noch in abstrakt-begrifflichen Zeichen
fassbaren Zahlgedanken der modernen Zahlentheorie.
II. BEZIEHUNGSGEDANKEN
Die letzte Betrachtung hatte schon mehrfach Beziehungsgedanken behandelt (Identität, Gleichheit, Anzahl), aber doch nur so[>403] weit, als sie zur Erzeugung von Gegenstandsgedanken erforderlich sind. Nun können aber die Beziehungsgedanken auch selbständig auftreten als zwischengegenständliche und übergegenständliche Erlebnisinhalte. Die Gedanken „Kausalität" oder „Ähnlichkeit" sind zwischengegenständlich, sofern sie zwischen mehreren Gegenständen eine Brücke schlagen, übergegenständlich, sofern sie in identischer Weise auf beliebige Gegenstandsarten anwendbar sind. Logik und Erkenntnistheorie nennen diejenige Beziehungen, die unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis als letzte, irreduzible Voraussetzungen für die Verknüpfung und Ordnung von Gegenständen anzusehen sind, „Kategorieen". Die Psychologie hat, unabhängig von der Geltungsfrage, jene Beziehungsgedanken in ihrem psychischen Gehalt zu beschreiben und ihre Genese im Einzelindividuum wie in der Menschheit zu verfolgen.
1. Praekategoriale Beziehungen
Hierbei stösst sie auf einen Tatbestand, der noch einmal deutlich
die Verschiedenheit logischer und psychologischer Blickrichtung zeigt :
das ursprünglichste Beziehungsdenken erweist sich als praekategoria1.
Auf jenem geistigen Niveau, auf welchem der Mensch beginnt, Gegenstände
aus dem Chaos seiner Vitalwelt heraus zu analysieren, ist es ihm noch gar
nicht möglich, den abgegrenzten Einzelgegenstand zu irgend einem anderen
abgegrenzten Gegenstand in eine scharf charakterisierte Einzelbeziehung
zu setzen; jeder Gegenstand ist noch eingebettet in das Total der Welt
und gehört mit allem anderen, das ebenfalls vergegenständlicht
wird, auf das innigste zusammen. Die Urbeziehung, welche gedacht wird,
ist also garnicht die Zweierbeziehung (wie sie Ursache und Wirkung, Mittel
und Zweck, die zwei Glieder einer „Ähnlichkeit" u.s.w. verbindet),
sondern eine A11beziehung, ein Miteinander-zu-tun-haben von Jedem
mit Jedem — oder, besser: ein noch garnicht völlig Abgesondertsein
des einzelnen Gegenstandes aus der unbestimmten Ganzheit der personalen
Welt. Unbestimmt aber bleibt zugleich die kategoriale Art dieser
Beziehung. Ein Gegenstand wird als einem anderen ähnlich und zugleich
als mit ihm identisch gedacht. Zwei Phasen eines Vorgangs werden noch ungeschieden
gedacht als : eine Wir[>404]kung, die aus einer Ursache herrührt ;
ein Zweck, dem ein Mittel dient ; ein Zeichen für ein Bezeichnetes.
Wie bei allen psychischen Entwicklungserscheinungen, so steht also auch
beim Beziehungsdenken ein Zustand der Diffusität und Vieldeutigkeit
am Anfang; und erst allmählich werden dann durch Ausgliederung die
spezifischen
Beziehungsgedanken gewonnen.
In die chaotische, praekategoriale Urbeziehung wird
aber auch die denkende Person miteinbezogen ; ja, es handelt sich ursprünglich
um die Beziehung I c h/Welt, erst in zweiter Linie um die Beziehung von
Weltstück zu Weltstück. Alles, was an Einzelgegenständen,
Zuständen und Vorgängen in der Welt abhebbar ist, hat etwas zu
tun mit „m i r" ; und i c h habe zu tun mit allem, was da draussen passiert.
Ein Komet erscheint am Himmel, oder eine Katze läuft über den
Weg: diese Begegnung wird irgendwie in Zusammenhang gedacht mit dem Schicksal
des Denkenden — wobei es noch ganz diffus bleiben kann, ob jene Gegenstände
Ursache oder Zeichen kommenden Unglücks, oder Strafen für vergangene
Taten, oder gar Identifikationen mit „mir" seien. In umgekehrter Richtung
ist eine Tat meiner selbst — z.B. eine Kulthandlung, eine Beschwörung
— für die Welt bestimmend; sie kann das Wetter ändern, den Feind
schädigen, einen Erfolg herbeiführen; wobei wiederum Beobachtung
natürlicher Ursachbeziehung und kritische Nachprüfung der Richtigkeit
der
Annahme noch völlig fehlen können.
Wir haben damit die Grundformen des mystisch-magfischen
Beziehungsdenkens entwickelte). „Mystisch" heisst dies Denken, wenn
man die praekategoriale Allbeziehung betont ; „magisch", wenn man den aktiven
Anteil des eigenen Ich hervorhebt. Diese Denkweisen führen auf primitiven
Stufen: bei Naturvölkern, bei kleinen Kindern, durchaus die Vorherrschaft.
Aber auch auf höherem Denkniveau fehlen sie nie ganz. Sie bilden beim
Kulturmenschen, ja sogar beim Wissenschaftler, zum mindesten eine Unterschicht,
die das darüber gelagerte, rationale und kategoriale Denken oft genug
in verschwiegener Weise färbt, zuweilen aber durchbricht und sich
in ausgesprochen mystischmagischem Denkgehalt bekundet.
Dabei wäre es falsch, praekategoriales und
rationales Denken einfach mit den Wertausdrücken „nieder" und „höher"
rangieren ') Literatur bei H. Werner und Zeininger. [>405] zu wollen. Denn
das rein rationale Denken für sich bringt die Gefahr einer Entpersönlichung
mit sich, die der Mensch immer wieder durch eine Rückkehr zu den personalen
Untergründen des Denkens bekämpfen muss. Die umfassendsten Denksysteme,
die die Menschheit überhaupt produzierte, die der „Weltanschauungen"
im weitesten Sinne, sind deshalb stets Synthesen beider Denkweisen. Mythen,
Religionen, künstlerische Weltbilder und — auf wissenschaftlicher
Stufe — metaphysische Systeme sind aus den beiden Quellen des ganzheitlich-totalen
und des abstraktkategorialen Beziehungsdenkens gespeist und reichen dadurch
sowohl in den Wurzelboden der personalen Existenz wie in die Höhen
der Spekulation hinein.
Daneben stehen dann solche Verquickungen beider
Denkweisen, bei welchen das rationale Denken eigentlich nur dazu benutzt
wird, dem mystisch-magischen Denken als Werkzeug der Begriffs-
und Systembildung zu dienen. Mystizismus, Spiritismus, Theosophie, Aberglaube,
Sektenbildungen verschiedener Art sind mehr oder minder trübe Erzeugnisse
solcher Denkarbeit.
Das Beziehungsdenken ist also ebenfalls von einer
Doppelbewegung bestimmt (ähnlich jener, die wir beim Gegenstandsdenken
als Entanschaulichung und Veranschaulichung beschrieben hatten). Zwischen
Entpersönlichung und Verpersönlichung geht der Weg hin und
her; und jeder einzelne Beziehungsgedanke steht an einer bestimmten Stelle
dieses Weges, ist zugleich personal verankert und kategorial abstrahiert.
Es sei dies an einigen Beispielen erläutert, die
hier nur als Hinweise dienen können für eine anzustrebende Phänomenologie
aller wesentlichen Beziehungsgedanken.
2. Gleichheit, Verschiedenheit, Ähnlichkeit
Eine Gruppe von Beziehungsgedanken baut sich auf
Denkakten des Vergleichens auf : so die Kategorieen : Identität,
Gleichheit, Verschiedenheit, Ähnlichkeit, Steigerung.
Schon oben konnten wir nachweisen, wie der Gedanke
der Identität seinen Ursprung in der Selbstgewissheit von der
[>406] Stetigkeit des Ich, also durchaus im Personalen habe, und dass die
abstrakte Identität zweier Begriffe,
oder die mechanische Identität der trägen und unveränderlichen
Substanz erst am Ende eines langen Prozesses der Versächlichung steht.
Der Gedanke der „Gleichheit" bedeutet ursprünglich
Gleichwertigkeit für mich, Vertauschbarkeit und Vertretbarkeit im
Dienste personaler Zwecke, Bedeutungslosigkeit (Unterschwelligkeit) der
Verschiedenheiten, immer im Hinblick auf irgend welche sinnvolle Zielsetzung.
Erst sehr allmählich wird dies personale Ziel zum sachlichen Gesichtspunkt
rationalisiert, zum sogenannten „tertium comparationis" — ganz zurück
tritt es endlich im abstrakten, mathematischen Gleichheitsgedanken, sodass
hier Gleichheit zu einer rein unpersönlichen Maisbeziehung wird.
„Verschiedenheit" und „Anderssein". —Zu Grunde
liegt ein Urerlebnis der Durchbrechung der personalen Situation: das Fremdheitsgefühl,
die Desorientiertheit, der Choc oder auch die Entbehrung, das Bedürfnis,
der Wunsch. Hier wird also „Anderssein", „Anders-werden" noch erlebt ohne
Vergleichungsakte, ohne Zweigliedrigkeit der Denkbeziehung. Im leidenschaftlichen
Ausruf: „Das muss anders werden !", in der Konstatierung „Ich fühle
mich heut ganz anders", oder „Du siehst heut so verändert aus" braucht
der — vergangene oder zukünftige — Zustand, v o n dem der gegenwärtige
verschieden ist, garnicht als zweites Denkglied im Bewusstsein zu sein.
Die scheinbare Paradoxie einer eingliedrigen Beziehung löst sich dadurch,
dass ich im Grunde die Beziehung des Gegenstandes zu m i r, nicht zu einem
anderen Gegenstande denke. Aber auch, wenn das zweite Vergleichsglied mitgedacht
wird, werden doch „Verschiedenheit" und „Veränderung" zunächst
noch stark als Wechsel innerhalb der personalen Welt, als Bedeutsamkeit
für „mich" erlebt — um erst allmählich (ganz entsprechend, wie
wir es vorhin von der Gleichheit ausführten) entpersönlicht und
formalisiert zu werden.
Sehr deutlich ist der personale Anteil beim Beziehungsgedanken
der
quantitativen Verschiedenheit: in den Gedanken der Zunahme und
Abnahme, des „Mehr und Minder", „Grösser und Kleiner" u.s.w. lässt
das naive Denken ganz unverhüllt ein Urerlebnis der personalen Geltungssteigerung
und-Minderung mitklingen.
Beim Ähnlichkeits-Gedanken gibt es eine,
nunmehr ver[>407] ständlich werdende, Seltsamkeit. Während für
die Logik „Ähnlichkeit" eine durchaus reziproke Beziehung ist (a ist
dem b ebenso ähnlich, wie b dem a), gilt dies psychologisch durchaus
nicht. Im wirklichen Leben wird die Ähnlichkeitsbeziehung einseitig
nach dem mir personal näher stehenden, bedeutsameren Gliede orientiert.
Ich kann daher sagen: dieser (fremde, mir zufällig begegnende) Mann
sieht meinem Bruder ähnlich, ohne dass ich umgekehrt sagen könnte:
mein Bruder sieht diesem fremden Manne ähnlich. Je mehr die Vergleichsglieder
der Person entfremdet, versachlicht werden, um so mehr kann sich die rein
abstrakte Ähnlichkeit als reziproke Beziehung im Denken durchsetzen;
in der mathematischen Lehre von den „ähnlichen Dreiecken" etwa ist
die volle Gleichordnung beider Glieder erreicht.
3. Kausalität und Finalität
Eine andere Gruppe von Beziehungsgedanken hat es mit Gliedern zu tun,
die in zeitlicher Abfolge stehen. Aus der mystischmagischen Allbeziehung,
die ebenso Gleichzeitiges wie Sukzessives umfasst, sondert der Mensch allmählich
gewisse Sukzessionsglieder heraus und setzt zwischen ihnen eine sinnhafte
Beziehung an, sei es als Ursache/Wirkungs-Zusammenhang, sei es als Mittel/-Zweck-Zusammenhang.
Wie sind diese Beziehungsgedanken psychologisch zu beschreiben ?
Dass der Gedanke „propter hoc" mehr und anderes
ist als der Gedanke „post hoc", ist eine unmittelbar einleuchtende, psychologische
Erfahrungstatsache. Dennoch hat man zuweilen eine einfache Reduktion versucht.
Das bekannteste Beispiel hierfür ist Hume's psychologische Ableitung
des Kausalitätsgedankens aus blosser Assoziation: Sind zwei Vorgänge
häufig nacheinander ins Bewusstsein getreten, so hat sich allmählich
eine sehr feste Assoziation zwischen beiden gestiftet; diese Gewöhnung
bewirkt, dass bei Wiedereintritt des einen Gliedes das zweite erwartet
wird. In solchen Fällen sagen wir : der eine Vorgang verursache den
anderen.
Die erkenntnistheoretische Bedeutung dieser Theorie
geht uns hier nichts an. Psychologisch ist sie aber durchaus unzureichend.
Sie könnte vielleicht verständlich machen, warum wir den Kausalitätsgedanken,
wenn
er einmal da ist, nun gerade auf [>408] die (häufig in Verbindung
erlebten) Vorgänge a und b, nicht aber auf die Vorgänge a und
c anwenden. Aber völlig unerklärt bleibt, warum wir jene
häufig vorkommende Verbindung unter einem ganz anderen, viel gehaltvolleren
Beziehungsgedanken („Kausalität") denken, als es der Gedanke der wiederholten
Sukzession ist.
An sich hat die Gewöhnung an Wiederholung nichts
mit dem Ursachgedanken zu tun. Wenn ein Mensch Tag für Tag und Jahr
für Jahr beim Aufstehen erst den linken Strumpf und gleich darauf
den rechten Strumpf anzuziehen pflegt, wird hieraus dennoch nie der Kausalgedanke
entstehen: das Strumpf anziehen links sei die Ursache, deren Wirkung in
dem Strumpfanziehen rechts hervortrete. Und ebenso wenig hat die immer
wieder erlebte Sukzession von Abenddämmerung und Nachtdunkel, und
die sehr feste Erwartung, dass der Dämmerung das Dunkel auch in Zukunft
folgen werde — jemals dazu geführt, dass die Dunkelheit der Nacht
als eine „Wirkung" der Dämmerung aufzufassen sei.
Es wird hier also wiederum die Unzulänglichkeit
einer rein assoziationspsychologischen Theorie des Denkens offenbar.
Fragen wir weiter, welche Art von Erlebnissen
es sind, an denen sich diese ersten Kausalgedanken entwickeln, so muss
die Antwort wiederum der Hume'schen These von Gewohnheit und Erwartung
entgegengesetzt sein. Denn für die alltägliche, im Gleichtrott
des Lebens wiederkehrende, Ähnlichkeit von Verknüpfungen bedarf
der Mensch keiner besonderen gedanklichen Kategorie; die wiederholten Verbindungen
werden hingenommen mit dem blossen Vertrautheitsgefühl; sie ordnen
sich von selbst der personalen Welt und ihrem magischen Totalzusammenhang
ein ; sie werden erwartet mit Selbstverständlichkeit, d.h. ohne Denkarbeit.
(Deshalb gibt es auch für das Tier — dessen Welt viel gleichförmiger
und dessen Leben viel konservativer ist — keinen Zwang zum Kausaldenken.)
Die
Frage nach der Ursache entzündet sich vielmehr an Neuem und Ungewohntem,
andem,was plötzlichin die vertraute Selbstverständlichkeit einbricht,
und eben deshalb für sich da steht, fremd, drohend, beängstigend
oder mindestens staunenerregend. Reicht für die Bewältigung des
Neuen nicht mehr die rein vitale Reaktion (Abwehr, Flucht, Neuanpassung)
aus, dann tritt das Denken in Funktion und sucht nach der speziellen
Beziehung, durch welche sich das Befremdliche in Ver[>409]trautes einordnet:
es wird als Wirkung einer bekannten Ursache gedacht. Daher setzt das kausale
Denken der Primitiven ein bei Naturereignissen, die die Existenz bedrohen,
wie Gewitter, Sturm, Erdbeben, Hungersnot, Feuer, Krankheit; bei den hervorstechenden
Wendepunkten des Lebens, wie Geburt, Mannbarkeit, Tod ; bei schweren Schicksalsentscheidungen
des Individuums und bei den, das Alltagsleben unterbrechenden, Gemeinschaftsphänomenen,
wie Krieg und Aufruhr. Auch die ersten Kausalfragen des Kindes beziehen
sich nicht auf das Alltägliche, sondern auf das Ungewohnte.
„Macht die Sonne die Fingerle blutig ?" fragte ein
2; 8 alter Knabe, als er zum ersten Mal in seinem Leben bemerkte,
wie die gegen die Sonne gehaltenen Finger rosig durchleuchtet wurden. Wie
hätte dieser Knabe „auf Grund von Gewohnheit und Erwartung" jemals
darauf kommen können, dass Sonne und Aussehen der Finger kausal zusammenhängen?
Ganz langsam erst lockert sich mit fortschreitender
Abstraktionsfähigkeit diese Gebundenheit des Kausalgedankens an das
für die Person Neue und Relevante; immer weitere Kreise des Seins
werden ihm unterworfen, bis die höchste Abstraktion erreicht ist in
dem wissenschaftlichen Kausalprinzip, nach welchem jedes Geschehen
und jedes Sein unentrinnbar in die Kette der Weltverknüpfungen eingereiht
ist.
Auch dem gedanklichen Gehalt nach durchläuft
die Entpersönlichung des Kausalgedankens zahlreiche Entwicklungsschritte.
Aus der diffusen Totalbeziehung von Jedem mit Jedem hebt sich als erste
Sonderbeziehung zweier Sukzessionsglieder heraus der Zusammenhang zwischen
meiner
Tat und ihrem unmittelbaren Effekt: das Erlebnis des „Machens".
Diese ursprüngliche Einheit von Macher und Gemachtem bildet
das Schema, an dem der Kausalgedanke sich zu entwickeln vermag. Es ist
eine Erlebniseinheit der Anschauung, aber zugleich auch eine solche der
personalen Geltung; die „Mach"-Beziehung ist zugleich „Macht"-Beziehung.
Schon das einjährige Kind hat, wenn es den
von der Mutter gebauten Turm mit Begeisterung einwirft, das Bewusstsein:
ich hab's gemacht, Gleichzeitig erlebt es solchen Zusammenhang in ]>410]
umgekehrter Richtung: die Mutter macht, dass ich jetzt Nahrung bekomme;
die Tischkante macht, dass ich plötzlich einen Stoss an der Stirn
erhalte. Die letzten Beispiele zeigen schon jene Verallgemeinerung des
„Machen", in der wir den ersten Abstraktionsschritt des Kausaldenkens sehen
können : Alle Veränderungen, die mich (aktiv oder passiv)
angehen, sind „gemacht".
Noch auf lange hinaus kann Kausalität überhaupt
nicht anders denn als „Machbeziehung" gedacht werden. Für diese primitive
Denkstufe legen die Schöpfungsgeschichten und Mythologieen der Völker
Zeugnis ab, nach denen Wetter, Einzelschicksale, Stammesgeschichte, ja
die ganze Welt von göttlichen Kräften, Dämonen, Zauberern
„gemacht" sind — ebenso das Kausalinteresse des Kindes, das danach fragt,
wie und von wem die Bäume, die Tiere, die Häuser, die Krankheiten
u.s.w. „gemacht" werden. Zugleich steigert und erweitert sich die eigene
Erfahrung des Selbermachenkönnens; und so kommt es, dass die
technischen
und künstlerischen Kausalbeziehungen zu Modellen für naives
Kausalitätsdenken überhaupt werden. Denn das Hervorbringen von
Artefakten zeigt ja am klarsten die Zueinandergehörigkeit von tätigem
Ich und gemachtem Erzeugnis.
Kennzeichnend für diese Abstraktionsstufe desKausaldenkens
ist aber auch die Undifferenziertheit des dynamischen und des teleologischen
Moments. Ist doch die tätige Kraft im allgemeinen auf das zu
erreichende Zie1 eingestellt; ja, noch mehr, das Ziel wird als „Aufgabe"
bereits im Bewusstsein vorweggenommen.
Der naive Kausalgedanke enthält also zugleich
und diffus die „causa efficiens" und die „causa finalis". Die gedachte
Ursache ist kraftgeladene Zielstrebigkeit, die gedachte Wirkung angestrebte
Kraftverwendung.
Ein weiterer Abstraktionsschritt führt nun
zur Differenzierung dieser beiden Momente. Zeigt schon das primitive
personale Erleben gelegentlich ein „Machen", das nicht zielgemäfs
ausläuft (z.B. das Zerstören — Kaputt-„machen" — bei einem Wutanfall),
so werden mit Erweiterung der Erfahrung immer mehr Fälle von Kraftentladung
des eigenen Ich und anderer Kraftquellen sichtbar, bei denen der Effekt
zum mindesten nicht eindeutig auf entsprechende Zielsetzung zurückgeführt
wer[>411]den kann: die „blinde" Kraft wird als Ursachprinzip erkannt.
Auf der anderen Seite führt das wachsende Vorausschauen
des Menschen dazu, dass er von gedanklich gesetzten, aber noch nicht verwirklichten
Zukunftseffekten her die „gerichteten" Kräfte zu denken sucht, die
das Ergebnis herbeiführen können: die Beziehung „Mitte1/Zweck"
löst sich aus der vagen Urkausalität heraus.
Es wäre sehr reizvoll zu verfolgen, wie sich nun
diese beiden Typen kausalen Denkens teils auseinanderentwickeln, teils
gegenseitig zu beeinflussen suchen. An dieser Stelle müssen wenige
Andeutungen genügen.
Der Beziehungsgedanke der „blinden Kräfte"
findet innerhalb des naiven Denkens seine umfassendste Abstraktion im Gedanken
des blindwaltenden Schicksals. In der Wissenschaft ist dem Gedanken
der „mechanischen Kausalität" eine starke und vielseitige Entfaltung
beschieden gewesen — bis zur Selbstaufhebung.
Die Mechanik machte den Anfang; von hier wurde der
Begriff
der uni Ziel und Zweck unbekümmerten „Naturkräfte" auf die anderen
Gebiete der Physik, ferner auf Chemie und Biologie übertragen und
auch die Erweiterung auf Soziologie, Psychologie und Geisteswissenschaften
zum mindesten versucht — bis auch hier die höchste Abstraktionsstufe
in einem Fatumbegriff (allgemeine Naturgesetzlichkeit,
Prinzip der Erhaltung der Kraft) erreicht war. Aber als man so weit vorgedrungen
war, erkannte man, dass im Kraftbegriff
selbst noch ein letzter Rest jenes personalen Ursprungs, der „Mach-Beziehung"
enthalten war; und man ersetzte ihn durch den Begriff
der gesetzmäfsigen Zuordnung zweier Geschehnisse. Damit war die Entanschaulichung
und Entpersönlichung des Kausalgedankens vollkommen geworden — aber
dieser Gedanke selbst preisgegeben. Blosse Funktionalbeziehung ist keine
„Kausalität" mehr.
Die Gedanken der zielgerichteten Kausalität
(die Mittel/Zweck-Gedanken) haben sich auf vier grossen Denkgebieten in
jeweilig besonderer Weise entwickelt. Der Bereich des eigentlichen „Machens",
den wir schon kennen, breitete sich ungemessen aus. Wirtschaft, Technik,
Geldwesen, Krankenheilung, Erziehung u.s.w. existieren ja nur dadurch,
dass für Zwecke, die zum Teil erst in ferner Zukunft liegen, die Mittel,
und für deren Verwirklichung wieder die Mittelsmittel gesucht, geordnet
und ins Spiel gesetzt werden müssen. Die natürliche [>412] Lebenspraxis
des Alltags ebenso wie alle praktischen Wissenschaften stehen dauernd unter
dem Mittel/Zweck-Gedanken; und wenn dieser Gedanke im Einzelfalle (z.B.
beim Kauf eines Brotes, oder bei der Heilung eines Kranken) noch durchaus
in der Anschaulichkeit der Situation verankert ist, so ist doch selbst
diese individuelle Anwendung nur möglich, weil der Mensch zum Denken
abstrakterer Mittel/Zweck-Zusammenhänge fähig ist, die als
Lebensregeln, Erfahrungsmaximen, sittliche Grundsätze, Rechtsnormen,
Heil- und Erziehungs-Methoden auftreten. Gemeinsam ist allen diesen Mittel/Zweck-Gedanken
die Zweiheit von Macher und Gemachtem; es ist eine von aussen wirkende
Teleologie.
Im Gegensatz hierzu entwickelt sich auf dem Erfahrungsgebiet
des organischen Lebens der Gedanke der „inneren" (immanenten) Teleologie.
In aller organischen Selbsterhaltung, Entwicklung, Selbststeuerung, Selbstheilung
werden Mittel ins Spiel gesetzt, die ihren Zielen nicht als etwas Fremdes,
Zweites gegenüberstehen, sondern mit ihnen zusammen einer identischen
Ganzheit angehören. Dieses „Sich-selber-Machen" erlebt ja der Mensch
fortwährend an seinem eigenen Lebensgeschehen, an seinem Wachsen und
Reifen, seiner Atmung und Ernährung, seiner Erkrankung und Gesundung.
Aber gerade wegen dieser alltäglichen Selbstverständlichkeit
ist der Anstoss zur gedanklichen Heraussonderung dieser Beziehungsform
nicht so stark wie etwa für die Ausgliederung des „Mach"-Gedankens
; auch erfordert der organische Zweckgedanke eine Selbstreflexion, die
stets später einsetzt als das, auf das Verhältnis Ich/Welt gerichtete,
Nachdenken.
So ist es verständlich, dass der spezifische
Gedanke einer immanent-organischen Teleologie innerhalb der naiven Denkstufen
über Ansätze und Andeutungen nicht hinaus gelangte und erst als
wissenschaftlicher Gegen-Gedanke gegen die Gedanken der blinden Kausalität
und der äusseren Teleologie seine volle Entwicklung erlebt.
Die Geschichte der Biologie, von Aristoteles' Entelechie-Begriff
bis zum modernen Vitalismus und Personalismus, liefert die Belege hierfür.
Von jenen — heut unentbehrlich gewordenen — Teilgedanken, die diesem Bereich
des Mittel/Zweck-Gedankens angehören, seien hier nur die Beziehungsbegriffe
der Zielstrebigkeit, der Erblichkeit, der Anlage, der Disposition, der
Selbstregulierung genannt. [>413] Die Selbstreflexion des Menschen hat
nun aber einen, der eigenen Person zukommenden, Bereich des Mittel/Zweck-Gedankens
gefunden und herausgearbeitet, der weit über das Nur-Organische hinausreicht.
Es ist die Stellung der Person zu den Werten. Die Werte bilden eine
gedankliche Welt von, in sich bedeutsamen, Sinngehalten, in die sich einzuordnen
und denen nachzuleben, nun für den Menschen zur Aufgabe wird. „Aufgabe
und Erfü1lung" ist also die hier neu auftretende Gestalt des Mittel/Zweck-Gedankens.
Dabei ist eine mehrfache Entwicklung des Denkens
zu verfolgen. Die Werte werden aus der konkret anschaulichen Fassung (Gott,
die eigene Nation, die eigene Ehre u.s.w.) ins Abstrakte vergeistigt („das
Wahre", „das Gute", „das Schöne", „das Heilige") ; und eine äussere
Teleologie (Befolgung des göttlichen Gesetzes, Treue gegen die Autorität)
wird durch eine innere abgelöst (die Kantische Idee der sittlichen
Autonomie). In den Bereich dieser so spezifisch personalen Kausalitätsgedanken
gehören dann die Beziehungsgedanken der Motivation, der Entscheidung,
der Pflicht, der Freiheit, der Verantwortlichkeit, der Zurechnung.
Endlich wird das Gebiet der objektiven Wertverwirklichung,
auch unabhängig von den daran beteiligten Einzelpersonen, zum Gegenstand
des Mittel/Zweck-Gedankens. Man versucht für den „objektiven Geist"
d.h. die Gesamtkultur und Gesamtgeschichtlichkeit der Menschheit, Kausalgedanken
zu erarbeiten. Sie sind teils dynamischer Natur, indem sie „treibende Faktoren"
des Kulturgeschehens ausdrücken, teils sind sie mehr teleologisch
gerichtet, indem sie das „Ziel der Geschichte" vorwegnehmen und von diesem,
erst zu verwirklichenden, Ziel her das Vergangene zu verstehen, das Gegenwärtige
zu würdigen und das Kommende zu beeinflussen suchen.
Von den naiven Formen der Schöpf ungs- und
Heilsgeschichte bis hin zu den ausgebauten kulturphilosophischen Systemen
und abstrakten geschichtsphilosophischen Utopieen der Gegenwart ist auch
hier eine gewaltige Denkentwicklung zu verzeichnen; die einzelnen gedanklichen
Stufen sind zwar von genialen Individuen — religiösen Heroen, Staatsmännern,
Philosophen und Propheten — erstmalig gedacht, dann aber vom Denken der
Massen übernommen und in Ideale, Überzeugungen und Taten umgewandelt
worden. [>414]
III. SINNGEDANKEN
Die einzelnen Beziehungsgedanken, wie wir sie soeben isolierend betrachteten,
stehen im wirklichen Denkleben niemals selbständig nebeneinander;
sie sind eingebettet in eine geschlossene Denkgestalt, die wir als
„Sinn" bezeichnen.
Ich lese etwa den Satz Nietzsche's: „Nicht nur fort
sollst Du Dich pflanzen, sondern hinauf." Dann denke ich dabei vielerlei
Beziehungen : räumliche Gerichtetheit nach vorwärts und nach
oben; Symbolik dieser beiden Raumrichtungen, Gegensätzlichkeit, Ergänzung,
Steigerungsverhältnis zwischen beiden Teilgedanken, die Normbeziehung,
die im „Du sollst" liegt — aber alle diese Gedanken in ihrer Summierung
machen noch nicht den „Sinn" jenes Satzes aus; ja es wäre möglich,
dass ich einem anderen jede einzelne Teilbeziehung verständlich machen
könnte, ohne dass er doch jenen Gesamtsinn erfasste.
Das Eigentümliche eines solchen „Gesamtsinnes"
lässt sich nicht mehr durch bestimmte logische Kategorieen determinieren,
auch nicht angemessen in Worten ausdrücken — genau so wenig, wie sich
die individuelle Gestalt eines Kunstwerks adäquat beschreiben lässt.
Mit dem Terminus „Gestalt" kann man wohl den formalen
Aspekt des Sinngedankens umschreiben, aber nicht mehr. Gewiss sind in dem
„Sinn" des obigen Satzes (oder in dem „Sinn" des Faustdramas u.s.w.) die
zahlreichen einzelnen Gegenstands- und Beziehungs-Gedanken zu einer besonderen
Denkstruktur zusammengeschlossen, in welcher das Gewicht und die Bedeutung
der einzelnen Gedanken vom Ganzen her bestimmt sind. Es gibt dominierende
und unterstützende Teilgedanken; es gibt zwischen den gedanklichen
Momenten Spannungen und Verschränkungen und Differenzierungen — all
dies sind Phänomene gestaltpsychologischer Art.
Aber dem eigentlichen Sinn des „Sinns" kommt man
doch erst dann nah, wenn man die Tiefendimension einbezieht. So
wie die Person „Tiefe" hat, so auch die Welt für die Person 1) Vgl.
S. 1319. Diejenigen Erlebnisse, die aus dem unmittelbaren Kontakt
von Person und Welt entstehen, haben Oberflächencharakter, aber [>415]
sie weisen hin auf anderes, dahinter Liegendes; und das Bestreben, in dieses
Andere vorzustossen, heisst den „Sinn" von Person und Welt suchen. Gegenüber
dem gesuchten tieferen „Sinne" ist nicht nur die „Sinnlichkeit" oberflächenhaft,
sondern auch das Vorstellen und Denken, sofern es sich auf Einzelgegenstände
und Einzelbeziehungen erstreckt.
Diese Bedeutung des „Sinndenkens" gilt also ebenso
für die Tiefe der Person, wie für die der Welt : man sucht den
Sinn der eigenen Existenz, des eigenen Schicksals zu ergründen,
aber ebenso den Sinn der We1t, den Sinn der Natur, den Sinn
der Geschichte, den Sinn der Nationen. Ferner kann das Sinndenken auf Grösstes
und Kleinstes gerichtet sein: man bemüht sich um den Sinn des Goethe'schen
Faust im ganzen, und um den Sinn eines einzelnen Zitats aus dem Faust;
um den Sinn der Mathematik, und um den Sinn des Pythagoräischen Lehrsatzes;
um den Sinn des eigenen Lebens, und um den Sinn einer einzelnen Handlung,
die man getan hat.
Der Akt, in dem sich dieses Sinndenken erfüllt,
bezeichnet man als „Verstehen". Damit wird auch psychologisch
der Unterschied jener beiden Denkakte deutlich, die als „Erklären"
und „Verstehen" in der modernen Wissenschaftstheorie eine gegensätzliche
Rolle spielen 1). „Erklären" ist die Anwendung des Kausaldenkens auf
einen bestimmten Denkgegenstand — wobei es gleichgültig ist, welche
der verschiedenen Formen des Kausalgedankens verwertet sind; genug, wenn
das Fremde und Einzelne dadurch einem bekannten Zusammenhang eingeordnet
wird. „Verstehen" aber ist das Erfassen des Sinnes; die Fremdheit des oberflächenhaften
Eindrucks soll nicht durch Ausgreifen in die Weite, sondern durch Eindringen
in die Tiefe überwunden werden. Wer Napoleon „erklären" will,
muss auf anderes ausserhalb Napoleon's Bezug nehmen: auf seine Vorfahren,
seine Umgebung, die geschichtlichen Ereignisse, in die er hineingestellt
war. Wer Napoleon „verstehen" will, kann sich ganz auf ihn selbst beschränken,
aber muss sich alles einzelne, das er von Napoleon weiss, gleichsam transparent
machen, um in die Substanz seines Lebens vorzudringen. Und es kann jemand,
der Napoleon sehr gründlich erklärt hat, unter Umständen
doch nur ein sehr geringes Verständnis für den Sinn des Phänomens
Napoleon haben. i) Vgl. S. 25 f. [>416] Wenden wir nun noch einmal die
so gewonnen Merkmale des „Sinndenkens" auf engere Sinnzusammenhänge,
etwa einzelne Sentenzen, Lehrsätze, Handlungen an.
Was wir oben (S. 414) bei dem Nietzsche-Satz hypothetisch
andeuteten, ist oft genug Wirklichkeit : die einzelnen Gegenstandsund Beziehungs-Gedanken
eines Sinnzusammenhanges werden durchaus begriffen,
ohne dass doch der Sinnzusammenhang des ganzen Denkgebildes verstanden
würde. So kann etwa ein Schüler die einzelnen Denkschritte eines
mathematischen Lehrsatzes erfasst haben; er sieht ein, dass aus der Voraussetzung
a die Folgerung b, aus dieser der weitere Satz c abgeleitet werden kann
oder muss — aber warum im ganzen gerade diese Denkwege begangen werden,
welche Bedeutung dem einzelnen Denkschritt in diesem Gefüge zukommt,
kurz die „Plausibilität" des gesamten Sinnzusammenhanges kann ihm
trotzdem verschlossen bleiben. Ähnliches gilt auch bei einem literarischen
Werk, etwa einem Gedicht, an dem die einzelnen Gedanken, auch vielleicht
der Oberflächenzusammenhang des Gedankenfortschritts, durchaus erfasst
sind, während der „tiefere Sinn" noch gänzlich unter der Schwelle
des Verstehens bleibt.
Sehr bekannt ist die entsprechende Erscheinung bei
Witzen
und bei Rätseln. Es gibt sehr intelligente Menschen, die Witze
nicht verstehen. Sie begreifen durchaus alle Teilgedanken und ihre Verknüpfungen,
bringen aber kein Verständnis auf für
die „Pointe", jenen nicht
weiter definierbaren Überraschungssinn, der dem Ganzen zukommt.
Ebenso gehört beim Rätselraten eine besondere Gabe dazu, in einer
Art von Intuition jenen gemeinsamen Punkt zu schauen, zu dem die verschiedenen,
im Rätseltext angelegten, Fäden konvergieren.
Es gibt aber auch das Umgekehrte: Sinnverständnis,
ohne dass die Einzelheiten gedanklich bewältigt würden. Ein Kind
lacht zuweilen herzlich über einen Witz, dessen von uns gemeinte Pointe
es garnicht verstanden haben kann, weil die Voraussetzungen zum Verständnis
der einzelnen dazugehörigen Denkschritte fehlen. Es legt eben irgendwie
seinen
— von jenen Voraussetzungen unabhängigen — Sinn in den Witz hinein.
Oder es können die Einzelheiten eines Denkgebildes nur halb und unklar
begriffen
sein — aber der dahinter liegende Totalsinn offenbart sich doch. Ist dieser
Tatbestand erst einmal an gewissen markanten Beispielen ein [>417] sichtig
geworden, dann bemerkt man, dass er viel allgemeinerer Natur ist: Sinnverständnis
greift nicht nur über die gedankliche Erfassung der Einzelmomente
hinaus, sondern ist nicht auf sie angewiesen, eilt ihr voraus, kann sich
aus Spuren und dumpfen Ansätzen aufbauen, um dann von sich aus die
Einzelheiten gedanklich zu klären. So sind z.B. alle Vermutungen
und Hypothesen nur dadurch möglich, dass ein problematischer
Totalsinn die zu findenden Einzelbeziehungen antezipiert.
Aus der Tiefendimension des Sinnes ergibt sich noch
eine letzte wichtige Folgerung. Der Sinn kann in verschiedenen Tiefen
gelagert sein; ein und derselbe Denkgegenstand kann mannigfache „Sinngehalte"
in verschiedener Tiefenlage besitzen; ein und derselbe Mensch kann denselben
Denkgegenstand zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Sinngehalten erfüllen;
verschiedene Menschen können den Sinn eines Denkgegenstandes aus ganz
verschiedenen Tiefen — und auch sehr verschiedenen Richtungen — hervorholen.
Wer zum ersten Male den Faust liest, mag schon irgendwie
den Totalsinn (besser: einen Totalsinn) zu verstehen meinen; und
doch: wieviel an Einzelheiten ist unverstanden geblieben; wieviel wird
bei zweiter Lesung erst gedanklich geklärt von jenem früher erfassten
Totalsinn aus! Und wenn die zweite Lektüre beendet ist — hat man wieder
einen anderen — tieferen — Totalsinn gewonnen."
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