Psychoanalytische Theorie der
Bedürfnisanstalt bei Homosexuellen
aus Helmut Thomä (1967). Zur Psychoanalyse der männlichen
Homosexualität, S. 76
Präsentiert und kommentiert
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Internet-Erstausgabe 22.06.2002, Letztes Update
TT.MM.JJ
Querverweise
"Es ist eine bekannte Tatsache,
daß sich homosexuelle Anknüpfungen häufig im Umkreis von
Bedürfnisanstalten ergeben. Wie nicht anders zu erwarten, bestätigte
sich dies auch bei der Umfrage Gieses: 38 Prozent der ungebundenen Homosexuellen,
die zu keiner länger dauernden Freundschaft fähig sind, suchen
ihren Partner im Umkreis von Bedürfnisanstalten (H. Giese, S. 61).
Dieses Verhalten ist interpretationsbedürftig, und man würde
gewiß bei psychoanalytischen Untersuchungen des Motivationszusammenhanges
schließlich auch auf psychogenetische Vorläufer dieses
Verhaltens stoßen. Welche Interpretation man auch immer wählen
mag - und man könnte eine Situationsanalyse so amplifizieren, daß
daran einige wesentliche Aspekte der Homosexualität evident gemacht
werden könnten-, eines darf als sicher angenommen werden und den Ausgangspunkt
psychoanalytischer Untersuchungen bilden, nämlich daß der Homosexuelle
diesen Ort nicht zufällig, wie Giese meint, aufsucht: «In die
Bedürfnisanstalt geht man, wie der Jargon sagt, um ein 'Geschäft
zu erledigen'. Es handelt sich, genaugenommen, um einen Ort, an dem man
nicht zu Hause ist, den man zufällig aufsucht und ebenso schnell wieder
verläßt, der keine lebensgeschichtlich bedeutungsvollen Spuren
zurückläßt. Die Bedürfnisanstalt ist daher für
den, der die Unverbindlichkeit sucht, insbesondere auch als Methode der
sexuellen Partnerwahl, ein adäquater Ort des Sichkennenlernens»
(H. Giese, S. 61). Ohne dieses spezielle Verhalten einer psychoanalytischen
Interpretation unterziehen zu wollen, weil diese vom Einzelfall ausgehen
müßte und erst sekundär typische Motive und psychogenetische
Zusammenhänge erbringen würde, scheint uns schon das Wort
Bedürfnisanstalt darauf zu verweisen, daß hier ein «Geschäft»
erledigt wird. Der Jargon hat seine Wurzel in der Kindersprache, und
es ist kein Zufall, daß ein hoher Prozentsatz der «ungebundenen»
Homosexuellen den Beginn ihrer phallisch-analen «Geschäfte»
in einer «Bedürfnisanstalt» suchen."
Was sollte an diesem Verhalten interpretationsbedürftig sein? Dort traf man zu jener Zeit Männer, mit denen sich schnell und durchaus unverbindlich zum Sexualkontakt anbandeln ließ. Das Wort Bedürfnisanstalt hat weniger mit einem «Geschäft» zu tun als mit einem Ort, wo man ein mehr oder dringendes Bedürfnis los werden kann, weshalb es ja auch 'Bedürfnisanstalt' und nicht 'Geschäftsanstalt' heißt. Die allgemeine Interpretation Gieses: "Es handelt sich, genaugenommen, um einen Ort, an dem man nicht zu Hause ist, den man zufällig aufsucht und ebenso schnell wieder verläßt, der keine lebensgeschichtlich bedeutungsvollen Spuren zurückläßt" ist daher auch sehr vernünftig und richtig. Und genau so seine spezielle Interpretation: "Die Bedürfnisanstalt ist daher für den, der die Unverbindlichkeit sucht, insbesondere auch als Methode der sexuellen Partnerwahl, ein adäquater Ort des Sichkennenlernens." Und so ist es in der Tat kein Zufall, daß Homosexuelle sich früher zu 38% unverbindliche Partner im Kreis von Bedürfnisanstalten suchten. Das hat weder mit der Kindersprache noch mit 'phallisch-analen «Geschäften»' zu tun, sondern mit Trefferquote und Gelegenheit. Doch in der Psychoanalyse ist eben alles ein bißchen anders ;-). |