von Rudolf Sponsel unter Mitarbeit von Irmgard Rathsmann-Sponsel, Erlangen
"Lernen
wir träumen, meine Herren, dann finden wir vielleicht die Wahrheit
- aber hüten wir uns, unsere Träume zu veröffentlichen,
ehe sie durch den wachen Verstand geprüft worden sind." (Kekulé
1890, 25 Jahre Benzolfest)
"Außerdem
habe ich auf meinen mannigfachen Reisen viele Ansichten kennen und das
Gute wie das Schlechte aussondern gelernt: ich war ein Eklektiker geworden.
Ich war nicht im Geiste einer engeren Schule befangen." (Kekulé
1892, 25 Jahre Professor)"
"Wir
alle stehen auf den Schultern unserer Vorgänger; ist es da auffallend,
dass wir eine weitere Aussicht haben als sie?"
01
Aktualisierung 10.09.2000
Zusammenfassung:
Argumente für die zeitliche Zuordnung von Kekulés Traum auf
Sommer 1863
Zunächst muß gesagt werden, daß eine klare zeitliche Zuordnung kaum möglich ist. Meine zeitliche Zuordnung steht kaum auf besseren Füßen als die anderen. Und, ich bekenne es gleich: ich muß nicht recht haben. Zu spärlich sind bislang die Daten, als daß sich eine gute Argumentationskette für eine bestimmte Zeit ergäbe. In der Literatur werden verschiedene Zeiten diskutiert, zu denen sich Kekulés Traum ereignet haben soll. Gillis meint 1861, andere meinen 1864, wieder andere argumentieren chemiehistorisch und wissenschaftlich, daß sich der Traum kaum vor Februar 1862 ereignet haben kann. An dieser Stelle muß ich passen, weil ich viel zu wenig von Chemie verstehe. Das wichtigste Argument derjenigen, die den Halbtraum vor die Eheschließung Kekules (24.6.1862) datieren, ist die Formulierung Kekulés "... elegante Junggesellenzimmer ...". Das ist ohne Zweifel ein Argument, das man nicht so ohne weiteres von der Hand weisen kann. Aber: (1) Wie hätte Kekulé formuliert, wenn er die gleiche Wohnung, die gleichen "Junggesellenzimmer" wie vor der Ehe nach dem Tod seiner Frau weiter oder wieder bewohnt hätte? Er hätte sicher nicht gesagt "Witwerzimmer", weil dieser Ausdruck nicht üblich ist. Nach dem Tod seiner Frau ist er zwar Witwer, aber auch wieder Junggeselle. So gesehen, meine ich, ergibt sich aus der Formulierung "... Junggesellenzimmer ..." nicht der zwingende Schluß, er müsse den Zeitraum vor seiner Eheschließung meinen. Um hier weiterzukommen, müßten wir genau wissen, wo Kekulé vor der Ehe, in der Ehezeit und nach der Ehe gewohnt hat. Leider konnte ich die Wohnungsfrage nicht richtig klären, wobei ich einräume, daß es mir wichtiger war, zu klären, hat er nun den Halbtraum eher gehabt oder nicht?
Dennoch: (2) Wir wissen aus der Gedächtnis- und vor allem aus der Aussagepsychologie, daß sich in Erinnerungen verschiedene Elemente aus unterschiedlichen Zeiten miteinander vermengen können. Erhebt man zwei Aussagen zu verschiedenen Zeiten, selbst ein und desselben Menschen zum selben Ereignis, so werden in aller Regel beide Aussagen Unterschiede aufweisen. Zwei gleichlautende Aussagen sind verdächtig, was weniger intelligente Ganoven oft nicht berücksichtigen, wenn beide genau die gleiche Aussage machen, was ein ziemlich sicheres Zeichen dafür ist, daß hier gelogen wird. Also: man wird einerseits eine gewisse Konstanz im wesentlichen Geschehen erwarten und andererseits aber auch Ungereimtheiten, Unklarheiten, Fehler in einem gewissen Toleranzbereich. Es ist also sehr gut möglich, daß Kekulé zwar das wesentliche Geschehen (Gent, abends, Kaminfeuer, Halbschlaf, tanzende Schlangen: Uroboros, jähes Erwachen, Heureka-Erlebnis) korrekt erinnert, aber möglicherweise in der Wohnungscharakteristik, auf die es ja für ihn auch gar nicht ankommt, etwas durcheinanderbringt, wenn man schon nicht akzeptieren kann, daß die Formulierung "... Junggesellenzimmer ..." auch zu einem Witwer paßt.
An dieser Stelle vielleicht ein Wort zu Kekulés Erinnerung 25 Jahre später: Wir wissen aus der Gedächtnispsychologie, Physiologie und Psychopathologie, daß das Gedächtnis mit zunehmendem Altern (Querverweis) nachläßt, und zwar nach der Gesetzmäßigkeit, daß ältere Begebenheiten länger und besser behalten werden als jeweils jüngere oder aktuellere. Das heißt: wir vergessen jüngere Daten eher, mehr und vollständiger als ältere (Querverweis: Gedächtnispsychologie nicht vergessen :-)). Bedenken wir, daß dieser Halb-Traum in seiner Auswirkung ein solch herausragendes Ereignis1) im Leben Kekulés war - es machte ihn sicher zu einem, der unvergeßlich eingeht in die Geschichte der Chemie und der Wissenschaft - so ist es psychologisch vollkommen verständlich, normal und natürlich, daß er sich dieses Ereignis, diesen Halb-Traum gut gemerkt hat. Ja, ich gehe sogar noch weiter und sage, es gibt Ereignisse im Leben eines Menschen, die vergißt er nicht: wegen ihrer Bedeutung. Und das wichtigste "Bindemittel" für Bedeutungen in der Psychologie ist der Affekt (= Gefühl, Emotion, Motivation, Antrieb, Stimmung)
Was veranlaßt mich als Psychologen nun, den Zeitraum Sommer 1863 für wahrscheinlich zu halten?
Wir wissen, daß Kekulé im August 1864 sich wieder aufraffte und ins Labor ging. Wir wissen von Kekulé, daß die Arbeit von Tollens und Fittig, am 19.8.1864 veröffentlicht, für Kekulé so etwas wie der Anstoß war, jetzt aber seine in der Schublade liegende Arbeit auszupacken und zu veröffentlichen, sonst kommen ihm andere zuvor, weil die Erkennung der Bedeutung des Benzolrings sozusagen in der Luft lag. Wir wissen weiter von Kekulé, daß der Zeitraum zwischen dem Entschluß, zu veröffentlichen und der Niederschrift ein knappes Jahr betragen hat. Wir fragen uns nun, was sollte psychologisch gewesen sein, daß dieser Uroboros-Traum sich ereignet hat und daß er so einschlug, wie ein Blitz, der ihn jäh zum Erwachen brachte? Ich nehme als plausibel eine schwere seelische Erschütterung an und die schwerste Erschütterung hatte er sicher in der ersten Zeit nach dem Tode seiner jungen Frau. Es muß ein fürchterlicher seelischer Schmerz gewesen sein. Er muß im Innersten sehr berührt und getroffen gewesen sein. In dieser Zeit war er sowohl - wissenschaftlich und problemlösungskonstruktiv gesehen - sehr abgelenkt und aufgewühlt und und durch diese Erschütterung - unbewußt ereignisbedingt - auch sehr offen für Neues zugleich. Flammen und der Tod einer Frau, der Gräfin Görlitz, standen schon einmal in Vebrindung zu einem doppelten Uroborosring. Kaminflammen und der Tod seiner Frau verleihen nun dieser Imgagination eine besonders heftige und tiefe affektive Bedeutung: Affekthypothese. Dieser Affekt hebt diesen Uroboros aus den "1000", die er sonst schon vorgestellt, im Vorübergehen und beiläufig gesehen haben mag, heraus. Die Wucht der Gegenwart des Todes, des Schmerzes und der Trauer - also die verständlichen Affekte - machen aus diesem Uroboros einen ganz besonderen: Heureka! Und nun paßt alles zusammen: Tollens und Fittig. Ein Jahr ungefähr davor: tiefe Trauer und Schmerz. Erschütterung. Uroboros Halbtraum. Er geht wieder ins Labor. Nur, weil die Trauer abgeklungen ist, oder hat ihn nicht auch die Arbeit von Tollens und Fittig "elektrisiert", ins Leben zurückgeholt?
Hätten Tollens und Fittig ihre Arbeit ein Jahr früher veröffentlicht, dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Die Wissenschaftsgeschichte ist nicht logisch, rational, vernünftig. Zufall, Glück, die Gunst der Stunde, zahlreiche Neben- und Randbedingungen, die sich nicht vorhersehen oder beeinflussen lassen und nicht zuletzt auch die Leistung anderer ("Wir alle stehen auf den Schultern unserer Vorgänger; ist es da auffallend, dass wir eine weitere Aussicht haben als sie?"), spielen eine mitunter entscheidende Rolle. Die Götter oder das Schicksal müssen oft ein bißchen mitspielen.
So könnte es, psychologisch betrachtet, gewesen sein. Aber, ich weiß natürlich, so muß es nicht gewesen sein. Immerhin, ich denke, es ist eine psychologische Argumentation, die zum jetzigen Zeitpunkt bei den spärlichen Daten, die vorliegen, vertretbar ist.
Als nächstes könnte uns in der Frage der zeitlichen Abfolge weiterbringen, wenn wir zwei Sachverhälte klären könnten: 1. die Wohnungsfrage und 2. wann hat Kekulé die Arbeit von Tollens und Fittig tatsächlich gelesen?
Ende Aktualisierung und Ergänzung 01