1. Traumbericht: London
2. Uroboros-Halbtraum: Gent
Lernen wir träumen, meine Herren..
Wir alle stehen auf den Schultern unserer
Vorgänger ...
Rede von August Kekulé 1890 (25 Jahre Benzolfest),
gehalten bei der ihm zu Ehren veranstalteten Feier der Deutschen Chemischen Gesellschaft im großen Saal des Rathauses der Stadt Berlin am 11. März 1890. Ber. d. deutsch. chem. Ges. 23, 1302 (1890).
"Ich bin mit Ehrenbezeugungen so überhäuft,
dass mir zum Dank nicht nur die Worte, dass mir die Gedanken fehlen. Wo
soll ich anfangen? Wie soll ich enden? Noch niemals, seitdem Wissenschaft
betrieben wird, ist ein Lebender in solcher Weise von seinen Fachgenossen
gefeiert worden. Noch niemals hat man für eine wissenschaftliche Arbeit
nach nur 25 Jahren ein Jubiläum veranstaltet.
Die Deutsche Chemische Gesellschaft hat es für geeignet gehalten,
eine meiner geringen Leistungen in dieser ausserordentlichen Weise zu feiern.
Ihrem Beispiel und offenbar ihrer Aufforderung sind zahlreiche gelehrte
Gesellschaften des In- und Auslandes gefolgt; zahllose einzelne Fachgenossen
haben sich angeschlossen.
Die Deutsche Chemische Gesellschaft hat mir überdies
eine prachtvoll ausgestattete Adresse überreicht. Ein flüchtiger
Blick, und mehr als ein flüchtiger Blick ist mir bisher nicht vergönnt
gewesen, hat mir schon gezeigt, dass ein wahres Kunstwerk vorliegt. Der
Inhalt, den mein verehrter Freund Wiche1haus, welchen ich mit Stolz
zu meinen Schülern rechne uns mitgetheilt hat, überschüttet
mich mit überschwänglichem Lob.
Fremde Gesellschaften haben eigene Vertreter hierhergesandt.
Im Namen der Chemical Society in London hat mein berühmter Freund
Armstrong,
der erste Sehretär der Gesellschaft, eine Ansprache gehalten und mir
eine kunstvoll ausgestattete Adresse überreicht. Von dem Inhalt eines
von zahlreichen Mitgliedern der Société chimique in Paris
unterzeichneten Schreibens hat mein verehrter Freund
Martius uns
Kenntniss gegeben. Mein lieber Freund und langjähriger Mitarbeiter,
Professor Körner aus Mailand, der mit an der Wiege der Benzoltheorie
gestanden hat, ist als Vertreter zahlreicher Italienischer Körperschaften
hier erschienen und hat deren Glückwünsche theils in Form [938]
von Adressen, theils als Depeschen angekündigt. Eine Adresse der Russischen
Physico-Chemischen Gesellschaft in Petersburg ist von Hrn. Professor Bischoff
aus Riga verlesen und hier niedergelegt worden.
Selbst das ferne Amerika hat einen Vertreter gesandt,
um mir seine Glückwünsche zu überbringen.
Ich bin im Augenblick ausser Stande, allen Rednern
nach Gebühr zu danken und auf Alles, was zu meinem Lobe gesagt worden
ist, zu erwidern. Für mich ist Eines sicher, man hat meine geringen
Verdienste weit über Gebühr gelobt. In allen Reden und in allen
Adressen höre ich denselben Ton, den Ton derselben Uebertreibung.
Ich wende mich nochmals an Sie, hochverehrter Freund
Hofmann,
den Begründer und Vorsitzenden der Deutschen Chemischen Gesellschaft;
ich wende mich an den Vorstand der Gesellschaft.
Sie haben, ohne zureichenden Grund, eine aussergewöhnliche
und aussergewöhnlich grossartige Feier veranstaltet und haben dieser
Feier den Stempel meines Namens aufgedrückt. So bin ich, sehr gegen
meine Neigung, genöthigt, von meiner eigenen Person zu reden und die
Frage zu erwägen, ob meine geringen Verdienste eine derartige Huldigung
und ob sie überhaupt eine Huldigung verdient haben.
Sie feiern das Jubiläum der Benzoltheorie.
Ich muss zunächst sagen, für mich selbst war diese Benzoltheorie
nur eine Konsequenz, und zwar eine leidlich naheliegende Konsequenz der
Ansichten, die ich mir über den chemischen Werth der Elementaratome
und über die Art der Bindung der Atome gebildet hatte, also der Ansichten,
die wir jetzt als Valenz- und Structurtheorie zu bezeichnen gewohnt sind.
Was hätte ich mit den disponibel bleibenden Verwandtschaften anfangen
sollen?
Ich habe mit besonderem Vergnügen gehört,
dass Ihr Festredner, mein verehrter Freund Baeyer, in seiner geistreichen
und beredten Weise, denselben Gedanken zum Ausdruck gebracht hat. Er hat
uns gesagt, die Benzoltheorie sei der Schlussstein des Gebäudes und
wir feierten heute das Richtfest der Structurchemie. Derselben Ansicht
hat, zu meiner grossen Genugthuung, auch der berühmte Italiener Cannizzaro
Ausdruck gegeben, indem er in der für mich so schmeichelhaften Rede1),
durch welche er die Accademia dei Lincei veranlasste, am heu- [939] tigen
Tage ein Glückwunschtelegramm hierherzuschicken, die Benzoltheorie
als Krönung des Werks bezeichnete.
Aber wo ist das besondere Verdienst?
Meine Herren Fachgenossen! Wir alle stehen auf den Schultern
unserer Vorgänger; ist es da auffallend, dass wir eine weitere Aussicht
haben als sie? Wenn wir auf den von unseren Vorgängern gebahnten Wegen,
oder wenigstens auf den von ihnen betretenen Pfaden mühelos zu den
Punkten gelangen, welche Jene, mit Ueberwindung zahlreicher Schwierigkeiten,
als die äussersten erreicht haben: ist es da ein besonderes Verdienst,
wenn wir noch die Kraft besitzen, weiter wie sie in das Gebiet des Unbekannten
vorzudringen?
Jeder der Fachgenossen hat zu diesen Fortschritten
beigetragen; Jeder in seiner Weise. Sie können gewiss meinen Fachgenossen
von vor 25 Jahren keinen Vorwurf daraus machen, dass nicht sie es waren,
die die Benzoltheorie erdacht und veröffentlicht haben: aber andererseits
wäre es zu weit gegangen, wenn Sie es mir als besonderes Verdienst
anrechnen wollten, dass gerade ich sie erdachte.
Gewisse Ideen liegen zu gewissen Zeiten in der Luft;
wenn der Eine sie nicht ausspricht, thut es kurz nachher ein Anderer.
Man hat gesagt: die Benzoltheorie sei wie ein Meteor
am Himmel erschienen, sie sei absolut neu und unvermittelt gekommen. Meine
Herren! So denkt der menschliche Geist nicht. Etwas absolut Neues ist noch
niemals gedacht worden, sicher nicht in der Chemie. Wer, wie ich, von Jugend
auf die Geschichte der Entwickelung seiner Wissenschaft mit Liebhaberei
studiert, und dann später, wie es im Alter ziemt, sich in neue gründlichere
Studien der Klassiker vertieft hat, der kann versichern, keine Wissenschaft
hat sich so stetig entwickelt wie die Chemie.
Während der Entwickelung, die ich zum Theil
ja noch miterlebt habe, sah das zeitweise freilich anders aus. Vor jetzt
50 Jahren hatte sich der Strom in zwei Arme getheilt; der eine floss, meist
auf französischem Boden, durch üppige, blumenreiche Gefilde,
und die ihm Folgenden, Laurent und Dumas an der Spitze, konnten
auf der ganzen Fahrt [940] fast mühelos die reichste Ernte einheimsen.
Der andere schlug die Richtung ein, die ein seit lange bewährter,
von dem großen Schweden Berzelius aufgepflanzter Wegweiser
andeutete. Er führte vielfach durch zertrümmertes Gestein und
kam erst später wieder in fruchtbares Land. Schliesslich, als beide
Zweige sich schon wesentlich genähert hatten, trennte sie ein Gestrüpp
von Missverständnissen; die noch immer getrennt Einherfahrenden sahen
sich nicht und verstahden ihre Sprache nicht. Da erscholl plötzlich
lautes Hurrah in der Heerschaar der Typiker. Die Anderen waren auch angekommen;
Frank1and
an der Spitze. Man sah jetzt, dass man, wenn auch auf verschiedenen Wegen,
demselben Ziele zugestrebt hatte. Man tauschte seine Erfahrungen aus; jede
Partei zog Vortheil aus den Errungenschaften der anderen, und mit vereinten
Kräften fuhr man auf dem wieder einheitlichen Strom durch die fruchtbarsten
Gefilde weiter. Nur Einzelne hielten sich schmollend zur Seite; sie meinten,
sie allein hätten den richtigen Weg eingeschlagen, sie allein befänden
sich im richtigen Fahrwasser; aber sie folgten dem Strome.
Unsere jetzigen Ansichten stehen nicht, wie man
öfter behauptet hat, auf den Trümmern früherer Theorien.
Keine der früheren Theorien ist durch spätere Geschlechter als
vollständig irrig erkannt worden; alle konnten, gewisser unschöner
Schnörkel entkleidet, in den späteren Bau aufgenommen werden
und bilden mit ihm ein harmonisches Ganzes.
Da ist wohl zeitweise ein Samenkorn liegen geblieben,
ohne zu keimen, aber Alles, was wuchs, entsprosste dem früher ausgestreuten
Samen. Auch meine Ansichten sind aus denen der Vorgänger erwachsen
und lehnen sich an sie an. Von absoluter Neuheit kann keine Rede sein.
Man hat gesagt, die Benzoltheorie sei, gewappnet
wie Pallas Athene, dem Haupt eines chemischen Zeus entsprungen. Das mag
vielleicht so ausgesehen haben, aber selbst wenn es so aussah, so war es
nicht so. Ich bin in der Lage, Ihnen in dieser Hinsicht einige Aufklärung
geben zu können.
Meine Vorstellungen über den chemischen Werth
und die Art der Bindung der Atome, also das, was wir jetzt als Structurtheorie
bezeichnen, waren schon während meines Aufenthaltes in London entstanden.
Als junger Privatdocent in Heidelberg brachte ich diese Ansichten zu Papier
und theilte die Arbeit zweien meiner näheren Freunde mit. Beide schüttelten
bedenklich den Kopf. Ich dachte, eines von beiden ist noch nicht reif,
entweder meine Theorie oder die Zeit und legte das Manuscript ruhig in
die Schieblade: Nonumque prematur in annum. Ueber [941] ein Jahr nachher
gab eine Abhandlung von Limpricht den äusseren Anstoss zur
Veröffentlichung; natürlich in veränderter Form. Die Arbeit
hat durch diese Aenderung nicht eigentlich gewonnen; der polemische Theil
wäre zweckmässig nicht gedruckt worden; nach meiner Ansicht war
die ursprüngliche Form besser.
Aehnlich ging es mit der Benzoltheorie. Sie lag
nahezu ein Jahr geschrieben in meinen Papieren, bis die schöne Synthese
aromatischer Kohlenwasserstoffe von Fittig und Tollens mich
zur Veröffentlichung veranlasste.
Lassen wir immer die Früchte hängen, bis
sie reif sind. Unreifes Obst bringt selbst dem Züchter wenig Gewinn;
es schädigt die Gesundheit derer, die es geniessen; es gefährdet
namentlich die Jugend, die Reif und Unreif noch nicht zu unterscheiden
vermag.
Man hat von Genie gesprochen und die Benzoltheorie
als genial bezeichnet. Ich habe mich oft gefragt: was ist eigentlich genial,
was ist ein Genie?
Man sagt, das Genie erkenne die Wahrheit ohne den
Beweis zu kennen. Ich zweifle nicht daran, dass schon in den ältesten
Zeiten in dieser Weise gedacht worden ist. 'Würde Pythagoras eine
Hekatombe geopfert haben, wenn er seinen berühmten Satz nicht gekannt
hätte, als er den Beweis fand'?
Man sagt auch: das Genie denke in Sprüngen.
Meine Herren, der wachende Geist denkt nicht in Sprüngen. Das ist
ihm nicht gegeben.
Vielleicht ist es für Sie von Interesse, wenn ich,
durch höchst indiscrete Mittheilungen aus meinem geistigen Leben,
Ihnen darlege, wie ich zu einzelnen meiner Gedanken gekommen bin.
Während meines
Aufenthaltes in London wohnte ich längere Zeit in Clapham road in
der Nähe des Common. Die Abende aber verbrachte ich vielfach bei meinem
Freund Hugo Mü1ler in Islington, dem entgegengesetzten
Ende der Riesenstadt. Wir sprachen da von mancherlei, am meisten aber von
unserer lieben Chemie. An einem schönen Sommertage fuhr ich wieder
einmal mit dem letzten Omnibus durch die zu dieser Zeit öden Strassen
der sonst so belebten Weltstadt; 'outside', auf dem Dach des Omnibus, wie
immer. Ich versank in Träumereien. Da gaukelten vor meinen Augen die
Atome. Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleine Wesen, aber
es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu erlauschen. Heute sah
ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu Pärchen zusammenfügten;
wie grössere zwei kleine umfassten, noch [942] grössere drei
und selbst vier der kleinen festhielten, und wie sich Alles in wirbelndem
Reigen drehte. Ich sah, wie grössere eine Reihe bildeten und nur an
den Enden der Kette noch kleinere mitschleppten. Ich sah, was Altmeister
Kopp,
mein hochverehrter Lehrer und Freund, in seiner 'Molecularwelt' uns
in so reizender Weise schildert; aber ich sah es lange vor ihm. Der Ruf
des Conducteurs: 'CIapham road' erweckte mich aus meinen Träumereien,
aber ich verbrachte einen Theil der Nacht, um wenigstens Skizzen jener
Traumgebilde zu Papier zu bringen. So entstand die Structurtheorie.
Aehnlich ging es mit der Benzoltheorie. Während
meines Aufenthaltes in Gent in Belgien bewohnte ich elegante Junggesellenzimmer
in der Hauptstrasse. Mein Arbeitszimmer aber lag nach einer engen Seitengasse
und hatte während des Tages kein Licht. Für den Chemiker, der
die Tagesstunden im Laboratorium verbringt, war dies kein Nachtheil. Da
sass ich und schrieb an meinem Lehrbuch; aber es ging nicht recht; mein
Geist war bei anderen Dingen. Ich drehte den Stuhl nach dem Kamin
und versank in Halbschlaf. Wieder gaukelten die Atome vor meinen Augen.
Kleinere Gruppen hielten sich diesmal bescheiden im Hintergrund. Mein geistiges
Auge, durch wiederholte Gesichte ähnlicher Art geschärft, unterschied
jetzt grössere Gebilde von mannigfacher Gestaltung. Lange Reihen,
vielfach dichter zusammengefügt; Alles in Bewegung, schlangenartig
sich windend und drehend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen erfasste
den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen.
Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich; auch diesmal verbrachte ich den
Rest der Nacht um die Consequenzen der Hypothese auszuarbeiten.
Lernen wir träumen, meine Herren, dann finden wir vielleicht die Wahrheit:
'Und wer nicht denkt,
Dem wird sie geschenkt,
Er hat sie ohne Sorgen'
—
aber hüten wir uns, unsere Träume zu veröffentlichen, ehe sie durch den wachenden Verstand geprüft worden sind.
'Unzählige Keime des geistigen Lebens erfüllen den Weltraum, aber nur in einzelnen, seltenen Geistern finden sie den Boden zu ihrer Entwicklung; in ihnen wird die Idee, von der Niemand weiss, von wo sie stammt, in der schaffenden That lebendig. '
[943] Ich habe Ihnen vorhin gesagt: zu gewissen Zeiten
liegen gewisse Ideen in der Luft. Wir hören jetzt von Liebig,
dass es die Keime von Ideen sind, die, ähnlich den Bacillenkeimen,
die Atmosphäre erfüllen. Warum fanden nun die vor 25 Jahren umherschwirrenden
Keime der Structur- und Benzol-Idee gerade in meinem Kopf den für
ihre Entwicklung geeigneten Nährboden? Ich muss Sie wieder mit Mittheilungen
aus meinem Leben belästigen.
Auf dem Gymnasium
meiner Vaterstadt hatte ich mich namentlich in Mathematik und in der Kunst
des Zeichnens hervorgethan. Mein Vater, mit berühmten Architecten
enge befreundet, bestimmte mich für das Studium der Architectur. Ueber
die Lebensrichtung der Söhne entscheiden ja meistens die Eltern. Ich
bezog also die Universität als studiosus architecturae und betrieb,
unter Ritgen's Leitung, mit anerkennenswerthem Fleiss Descriptivgeometrie,
Perspective, Schattenlehre, Steinschnitt und andere schöne Dinge.
Aber Liebig's Vorlesungen verführten mich zur Chemie und ich
beschloss umzusatteln. Da meine Verwandten mir Bedenkzeit auferlegten,
verbrachte ich ein Semester auf dem Polytechnikum in Darmstadt. So ist
auch die Legende entstanden, ich sei Realschüler, was ich übrigens
in keiner Weise für entehrend halten würde. Erst jetzt durfte
ich, unter Will's und Liebig's Leitung, mich mit meiner lieben
Chemie beschäftigen.
Schon meine Lehrjahre führten mich nach Paris.
Hier konnte ich eben noch den Vorlesungen des berühmten Dumas
beiwohnen, ich glaube, es waren die letzten. Ich verkehrte viel mit Wurtz,
mit dem mich später die Bande wahrer Freundschaft verknüpften.
Ich machte durch Zufall die Bekanntschaft und erwarb mir die Freundschaft
von Gerhardt, der in jener Zeit gerade die wasserfreien Säuren
entdeckte und das schon fertig vorliegende Manuscript seines berühmten
Lehrbuchs zum Druck vorbereitete. Ein anderthalbjähriger Aufenthalt
auf einem einsamen Schloss in der Schweiz gab mir reichlich Musse, das,
was ich durch Einblick in jenes noch nicht veröffentlichte Manuscript
gelernt hatte, selbstständig zu verarbeiten.
Meine Wanderjahre führten mich weiter nach
London. Hatte ich in Paris Gelegenheit gehabt, die noch nicht veröffentlichten
Ansichten Gerhardt's kennen zu lernen, so war mir jetzt das Glück
beschieden, in regem Freundesverkehr mit Williamson mich mit der
Denkweise dieses philosophischen Geistes vertraut zu machen.
Ursprünglich Schüler von Liebig,
war ich zum Schüler von [944] Dumas, Gerhardt und Williamson
geworden; ich gehörte keiner Schule mehr an.
Dieser Umstand und die Richtung, welche die früheren
architectonischen Studien meinem Geiste gegeben, ein unwiderstehliches Bedürfniss
nach Anschaulichkeit: sie sind offenbar die Ursache davon, dass jene vor
25 Jahren in der Luft umherschwirrenden chemischen Ideenkeime gerade in
meinem Kopf den für sie geeigneten Boden fanden. Der Mensch ist eben
ein Ausdruck der Verhältnisse, in denen er gross geworden; ein besonderes
Verdienst erwächst ihm daraus nicht.
Darf ich für jüngere Fachgenossen eine
Lehre anknüpfen? Machen Sie sich frei vom Geist der Schule, dann werden
Sie fähig sein, Eigenes zu leisten. Bedenken Sie dabei, dass es Mephisto
war, der dem Schüler den Rath gab:
Am besten ist's auch hier,
Wenn Ihr nur Einen hört
Und auf des Meisters Worte schwört.
Nur ein Verdienst glaube ich selbst mir zusprechen
zu können. Ich habe getreulich den Rath befolgt, den
Altmeister Liebig dem jungen Anfänger gab. 'Wenn Sie Chemiker
werden wollen, so sagte mir Liebig, als ich in seinem Laboratorium
arbeitete, so müssen Sie sich Ihre Gesundheit ruiniren; wer sich nicht
durch Studiren die Gesundheit ruinirt, bringt es heutzutage in der Chemie
zu nichts.' Das war vor 40 Jahren; ob es wohl heute noch gilt? Diesem Rath
bin ich getreulich nachgekommen. Während vieler Jahre waren mir 4
und selbst 3 Stunden Schlaf genug. Eine bei den Büchern durchwachte
Nacht wurde nicht gerechnet, nur wenn zwei oder drei aufeinander folgten,
glaubte ich mir ein Verdienst erworben zu haben. Damals hatte ich mir einen
Schatz von Kenntnissen erworben, der meine Freunde zu der Ansicht veranlasste:
ich sei zuverlässiger als der Jahresbericht.
Die schönen Tage sind längst vorüber.
Von den verschiedenen Fähigkeiten des Geistes erlischt die Phantasie
am ersten; ihr folgt bald, aber glücklicherweise langsam, das Gedächtniss;
am längsten erhält sich die Kritik; aber auch sie befähigt
zu werthvollen Leistungen, vorausgesetzt, dass sie auf der breiten Basis
solider, durch gründlichen Fleiss erworbener Kenntnisse beruht. Soll
ich auch hier eine Nutzanwendung machen? Ich könnte den jüngeren
Fachgenossen nur rathen, in der Jugend fleissig zu sein.
Mit Schnellzügen macht man keine Forschungsreisen
und durch das [945] Studium selbst der besten Lehrbücher wird man
nicht zum Entdecker. Wer sich damit begnügt, auf wohlangelegten Promenadewegen
einen viel besuchten Aussichtspunkt zu besteigen, der kann wohl im seitlichen
Gebüsch noch ein vergessenes Blümlein pflücken und, wenn
er sich mit Kryptogamen, mit Moosen und Flechten begnügt, sogar eine
gefüllte Botanisirtrommel nach Hause bringen; etwas wesentlich Neues
wird er nicht finden. Wer sich zum Forscher ausbilden will, muss die Originalwerke
der Reisenden studiren; so gründlich, dass er nicht nur zwischen den
Zeilen zu lesen, sondern die selbst da nicht zum Ausdruck gebrachten Gedanken
zu errathen vermag. Er muss den Pfaden der Pfadfinder folgen; auf jede
Fussspur, auf jeden geknickten Zweig, auf jedes gefallene Blatt muss er
achten. Dann wird es ihm ein Leichtes sein, an dem äussersten der
früher erreichten Punkte die Stelle zu erspähen, wo der weiter
fortschreitende Fuss festen Boden zu finden vermag.
Wenn ich alles überblicke, so finde ich keinen
Grund, der Sie hätte veranlassen können, eine Feier, wie die
heutige, zu veranstalten.
Und doch haben Sie diese Feier veranstaltet. Ich
glaube Ihnen sagen zu können, warum Sie es gethan haben.
Das strebsame Völkchen der Chemiker, stolz
auf seine Vergangenheit und voll Hoffnung für die Zukunft, hat, in
unserem jubiläumsüchtigen Jahrhundert, das Bedürfniss gefühlt,
auch seinerseits ein Jubiläum zu feiern; in unserer raschlebigen Zeit
durfte die Periode natürlich nicht länger als 25 Jahre sein,
und länger als 25 Jahre halten sich auch die meisten Theorien nicht.
Nun ist es, zu meinen Bedauern, unbestreitbar: so wie die Substitutions-
und Typentheorie dem vorigen Vierteljahrhundert den Stempel aufgedrückt
hat, so ist für das zuletzt verflossene, neben der Structurtheorie,
ihr Schlussstein, die Benzoltheorie, die am meisten charakteristische Signatur
gewesen. Es ist ja auch in anderen Gebieten der Chemie viel Wichtiges geleistet
worden; auch andere Zweige sind mächtig gewachsen, noch andere, denen
offenbar die Zukunft gehören wird, sind neu entstanden; in der Masse
aber war die Parole: aromatisch.
Für die Theorie der aromatischen Verbindungen
aber, also für die Benzoltheorie, werde ich allgemein und ohne Widerspruch
verantwortlich gemacht; ich habe auch selbst dagegen nie Einsprache erhoben,
werde also die Verantwortlichkeit auch weiter übernehmen und alle
Consequenzen tragen müssen, selbst wenn sie mir lästig sind.
Obgleich also meine geringen Verdienste nach meiner
Ueberzeugung [946] eine Huldigung, wie diejenige, welche Sie mir heute
bereitet haben, in keiner Weise verdienen, spreche ich doch dem Vorstand
der Deutschen chemischen Gesellschaft für die wohlwollende Beurtheilung
meiner geringen Leistungen und für die persönlich wohlthuende
Sympathie, welche er durch Veranstaltung dieser Feier mir hat bezeugen
wollen, meinen tiefgefühltesten Dank aus, und ich danke von Herzen
allen meinen zahlreichen Freunden von Nah und Fern für das Wohlwollen,
welches sie durch Betheiligung an dieser, wenn auch unberechtigten Feier
an den Tag gelegt haben.
Es erübrigt mir noch, dass ich mich an Sie
wende, verehrter Freund Glaser, der Sie so lange mein treuer Mitarbeiter
gewesen sind, und der Sie heute im Namen deutscher Anilinfarbenfabrikanten
geredet haben. Ihre Mittheilung war ganz eigner Art, bedarf also auch der
besonderen Beantwortung.
Dass mich Ihre heutige Mittheilung nicht überrascht
hat, werden Sie natürlich finden. Ein Portrait lässt sich nicht
heimlich herstellen. Auch der Anblick des Gemäldes, der uns für
nachher bevorsteht, wird für mich keine Ueberraschung sein, da das
Kunstwerk unter meinen Augen entstanden ist. Meine Ueberraschung geht auf
eine frühere Zeit zurück. Auf der Höhe des Rigi erreichte
mich während der Herbstferien Ihr Brief, der mir Ihre und Ihrer Freunde
Absicht mittheilte. Zwei Tage nachher erschien Freund Caro, um dem
schriftlich ausgesprochenen Wunsch mündlich mehr Nachdruck zu geben.
Damals war ich allerdings überrascht. Ich war bis dahin der Meinung
gewesen, nach Ansicht der Herren Fabrikanten, unter denen ich viele werthe
Freunde und frühere Schüler zähle, habe nur die Biene ein
Verdienst, die den Honig einheimst, nicht aber die Blume, die den Honig
führenden Nektar erzeugt. Sie thue es, so dachte ich, aus innerem
Trieb, um sich und ihren Freunden ein Vergnügen zu bereiten. Die Erkenntniss,
dass ich mich mit dieser Ansicht geirrt hatte, sie ist es, was mir am meisten
Vergnügen bereitet.
Dass manche meiner Arbeiten, und dass auch die Benzoltheorie
für die Technik der Theerfarben von Nutzen gewesen sind, kann ich
nicht in Abrede stellen; aber ich kann Sie versichern, ich habe niemals
für die Technik gearbeitet, immer nur für die Wissenschaft. Ich
habe immer für die Technik das grösste Interesse gehabt, aber
ich habe von ihr niemals Interessen bezogen. Gerade deshalb bin ich doppelt
erfreut darüber und doppelt dankbar dafür, dass die Vertreter
der Technik meine geringen Verdienste um die Technik anerkennen wollen.
[947] Die Art, wie sie diese Anerkennung zum Ausdruck
zu bringen beabsichtigen, könnte freilich vielleicht bekrittelt werden.
Sie beabsichtigen das Gemälde der Nationalgalerie anzubieten, aber
die Nationalgalerie ist doch nicht eigentlich ein Pantheon, eine Walhalla
oder eine Ruhmeshalle, sie ist eine Sammlung von Kunstwerken moderner Meister.
Dass das Gemälde, welches mich darstellt, dort eine Stelle verdient
und eben nur dort die seiner würdige Stelle finden kann, ist mir unzweifelhaft.
Aber es will mir scheinen, als solle ich unter dem Namen Angeli
dort eingeschmuggelt werden. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass
die Monumente, die wir auf öffentlichen Plätzen errichten, von
den Reisenden aufgesucht und von Baedeker besternt werden, nicht wegen
der Personen, die sie darstellen, sondern wegen ihres Kunstwerthes. Das
hindert nicht, dass sie die Namen und die Züge der Dargestellten der
Nachwelt überliefern. Sie haben dem Lebenden ein Monument setzen wollen
und haben mit Recht ein lebendiges Gemälde dem kalten Marmorbild vorgezogen.
— Ich danke Ihnen herzlichst für diese Absicht und für die meine
Verdienste so weit übersteigende Anerkennung, die Sie in dieser Weise
zum Ausdruck haben bringen wollen, und ich bitte Sie daher, meinen tiefgefühltesten
Dank entgegenzunehmen und diesen Dank auch allen denjenigen, in deren Namen
Sie geredet haben, zu übermitteln."