Dokumente zur Theorie und Praxis der Staatsverschuldung:
Grundsätze der Geld- und Staatsschuldenpolitik
Kapitel 5 Zusammenfassung
und Schlußbemerkungen, S. 119-123
von James Tobin (dt. 1978, engl. 1963).
mit freundlicher Genehmigung der Nomos-Verlagsgesellschaft,
Baden-Baden.
Schriften zur Monetären Ökonomie; Bd. 6
präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Vorbemerkung RS: Tobin veröffentlichte dieses
Werk bereits 1963. 15 Jahre später erschien die deutsche Übersetzung;
3 Jahre, bevor Tobin 1981
den Nobelpreis
für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Im
Jahre 1963 betrug die amerikanische Staatsverschuldung
unter L.B. Johnson 309 Milliarden (amerikanisch: Billionen) Dollar gegenüber
Juli 2004 unter Bush jun. 7,3 Billionen Dollar (amerikanisch: Trillionen
oder 7 300 000 000 000 Dollar).
Zur Beachtung: Man sollte US-Ökonomen - ähnlich wie Marxisten oder andere IdeologInnen - die im Dienste der amerikanischen Plutokratie stehen, grundsätzlich sehr kritisch lesen, ganz egal, um wen es geht, weil die Wirtschaftswissenschaft auch eine sehr starke ideologische Komponente enthält. |
"5. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
Geldpolitik und Schuldenmanagement befassen sich gemeinsam mit der Zusammensetzung der Netto Forderungen der Wirtschaft gegen den Staat. Die Gesamthöhe dieser Ansprüche gehört in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers und der Exekutive; die Staatsverschuldung nimmt bei Haushaltsdefiziten zu und bei Haushaltsüberschüssen ab. Die Zusammensetzung des Gesamtbetrages und der Veränderungen des Gesamtbetrages unterliegt den Entscheidungen der Zentralbank und der Schuldenverwaltung des Finanzministeriums.
Die monetäre Wirkung der Änderungen in der Staatsverschuldung muß von den fiskalischen Wirkungen unterschieden werden. Der monetäre Effekt ist dauerhaft und hängt von der Höhe der Staatsschuld ab. Der fiskalische Effekt ist vorübergehend und hängt von der Rate ab, mit der Defizite oder Überschüsse die Höhe der Staatsverschuldung verändern. Der monetäre Effekt kann am Angebotspreis des Kapitals gemessen werden, das ist diejenige Ertragsrate, bei der die Wirtschaft bereit ist, den vorhandenen Bestand an privatem, produktivem Sachkapital in die Portefeuilles und Vermögensbilanzen aufzunehmen. Ereignisse und wirtschaftspolitische Maßnahmen, die den Angebotspreis des Kapitals senken, sind expansiv; Ereignisse und Maßnahmen, die ihn erhöhen, sind deflationär.
Gemessen an diesem Kriterium ist eine Zunahme der Staatsverschuldung - sei es in der Form der auf Sicht fälligen Schuld oder in der Form zinstragender Schuld kürzerer oder längerer Fristen - expansiv. Desgleichen sind eine Substitution kurzfristiger oder langfristiger Schulden durch Sichtschulden und eine Substitution langfristiger Schulden durch kurzfristige Schulden expansiv. Veränderungen der Zusammensetzung der Staatsverschuldung auf eine dieser Arten oder in umgekehrter Richtung, sofern eine Dämpfung der Gesamtnachfrage erwünscht ist, bilden das hauptsächliche Instrument der monetären Steuerung. Zusätzlich steht es in der Wirkungsmacht der monetären Instanzen, den Diskontsatz und die Mindestreservesätze zu verändern. Der Umfang der stabilisierungspolitischen Aufgabe, die der monetären Politik und dem Schuldenmanagement zufällt, hängt davon ab, welche stabilisierungspolitische Last der Steuerpolitik und anderen fiskalischen Maßnahmen zugewiesen wird. Über die ausgewogene Auswahl der Instrumente der Stabilisierung muß entschieden werden, indem die Zusammensetzung des Outputs, das Wirtschaftswachstum, die Einkommens- und Vermögensverteilung und Effizienzkriterien berücksichtigt werden. Wenn der Anteil der monetären Maßnahmen an der Aufgabe der Steuerung der Gesamtnachfrage festgelegt ist, haben die staatlichen Instanzen eine große Auswahl an Mitteln und [<119] Wegen. Von welchem Auswahlkriterium sollen sie sich leiten lassen? Wenn es keine zwingenderen Kriterien gibt, ist die Minimierung der Zinskosten des Finanzministeriums auf lange Sicht ein vernünftiges Ziel. Das optimale Schuldenmanagement besteht dann darin, die Aufgabe der monetären Stabilisierung zu den geringstmöglichen Kosten für das Finanzministerium zu erfüllen. Einige der Implikationen dieses Kriteriums sind:
1. Wenn gegebene monetäre Effekte erzielt werden sollen, sollte die Zentralbank solchen Maßnahmen den Vorzug geben, welche die Banken zwingen oder veranlassen, ihre Bestände an nicht-zinstragenden Staatsschuldtiteln zu erhöhen [RS-FN1]. Der Staat spart Geld, wenn eine monetäre Restriktion dadurch erreicht werden kann, daß die Mindestreservesätze angehoben werden oder der Diskontsatz erhöht wird, statt daß Geldmarktpapiere am offenen Markt verkauft werden.
2. Die Kosten können gesenkt werden, ohne monetäre Wirkungen zu opfern, wenn die zwangsweise aufnahmefähigen Märkte für Staatsschuldtitel verbreitert werden, indem den Banken eine Sekundärreservepflicht und den Finanzintermediären eine Mindestreservepflicht auferlegt werden. Diese Verpflichtungen würden auch die Effizienz der monetären Politik verbessern. Dagegen müssen Überlegungen aufgewogen werden, ob dies gerecht und zumutbar für Eigentümer und Kunden der Banken und andere Finanzintermediäre ist.
3. Der Staat - hier sind beide, nämlich
Zentralbank und Finanzminsterium gemeint - sollte beständig die Fristigkeitsstruktur
seiner Verschuldung anpassen, so daß er seine Netto-Kosten minimiert
und gleichzeitig die erforderliche Kontrolle über die Gesamtnachfrage
ausübt. Zu diesem Zweck müssen als Netto-Kosten des Staates nicht
nur die Zinszahlungen betrachtet werden, sondern auch der Anstieg des Marktwertes
der umlaufenden Staatsschuldtitel. Wenn dieses Konzept als Richtschnur
dient, ist der relevante Zinssatz für jede Fristigkeit der notierte
Marktzins plus Kapitalwertgewinn (oder minus dem erwarteten Kapitalwertverlust),
der auf Zinsänderungen zurückzuführen ist, die in naher
Zukunft erwartet werden. Das Finanzministerium sollte keine langfristigen
Kredite aufnehmen, wenn die langfristigen Zinsen im Fallen begriffen sind.
Im Gegenteil, in solchen Zeiten sollte der Staat seine langfristigen Obligationen
zurückkaufen oder sie vorzeitig einlösen und sie durch kurzfristige
Schuldtitel ersetzen.
Soll der Grad der monetären Restriktion unverändert bleiben,
ist es generell notwendig, die Sichtschuld zu verringern, sobald die zinstragende
Schuld zum kurzen Ende verschoben wird, und die Sichtschuld auszuweiten,
sobald die zinstragende Schuld zum langen Ende verschoben wird. Das bedeutet,
eine Änderung - Zunahme oder Abnahme - einer Geldeinheit langfristiger
Schulden muß von einer Änderung in entgegengesetzter Richtung
um mehr als eine Geldeinheit kurzfristiger Schulden begleitet [<120]
werden. Diesem Erfordernis muß durch einen entsprechenden Aufschlag
Rechnung getragen werden, wenn die Vorteile einer Verkürzung oder
einer Verlängerung der Schuldtitel für den Staat kalkuliert werden.
4. Die gegenwärtige administrative Aufteilung der Verantwortung für das Schuldenmanagement ist der ökonomischen Unteilbarkeit des Problems nicht angemessen. Die Zentralbank kann keine rationalen Entscheidungen über die Geldpolitik treffen, ohne zu wissen, welche Arten an Schuldtiteln das Finanzministerium zu emittieren beabsichtigt. Das Finanzministerium kann nicht auf vernünftige Weise die Fristigkeitsstruktur der zinstragenden Staatsverschuldung bestimmen, ohne zu wissen, wieviele Schuldtitel die Zentralbank zu monetisieren beabsichtigt. Wollte man ernsthaft das Beste aus dem Schuldenmanagement machen, dann wäre es erforderlich, Käufe und Verkäufe von staatlichen Wertpapieren mehr zentral zu organisieren, als dies gegenwärtig der Fall ist. Der Vorschlag läuft darauf hinaus, die gesamte Aufgabe des Schuldenmanagements der Zentralbank mit dem Auftrag zuzuweisen, die Kosten soweit zu minimieren, wie dies mit stabilisierungspolitischen Zielsetzungen verträglich ist. Es gäbe dann keine Unterschiede mehr zwischen den Offenmarkt-Operationen der Zentralbank und den Emissionen und Einlösungen von Wertpapieren. Die Zentralbank wäre mit einem vielseitigen Bestand an Wertpapieren ausgestattet und würde diese verkaufen oder vom Publikum zurückkaufen, wie es ihr Auftrag erfordert. Das Finanzministerium würde die Zentralbank mit neuen Wertpapieren versorgen, wenn deren Interventionsbestände wegen Haushaltsdefiziten zunehmen müssen, oder würde mit Haushaltsüberschüssen Wertpapiere bei der Zentralbank »auslösen«. (Ein Grundbestand an Wertpapieren, der von der Zentralbank gehalten wird, stellt eine dauerhafte Monetisierung der Staatsverschuldung dar, und es wäre bequemer, diesen in ein besonderes innerstaatliches Schuldverhältnis mit einem Nullzins oder nur einem symbolischen Zins umzuwandeln.) Bei diesem Arrangement würde die Zentralbank die Emissionsgarantie für den Staat übernehmen.
5. Der Staat sollte fungible und nicht-fungible Anleihen mit Wertsicherungsklauseln ausgeben, bei denen Anleihebetrag und Zinssatz an den Preisindex der Lebenshaltung gekoppelt sind. Fungible Wertpapiere dieses Typs würden die Effizienz der monetären Politik wesentlich verbessern. Die Zentralbank würde, wenn sie solche Wertpapiere kauft oder verkauft, mit Vermögensanlagen handeln, die dem Sachkapitalbesitz sehr viel näher sind als die herkömmlichen Staatsschuldtitel. Die monetären Instanzen könnten dadurch eine viel größere Hebelwirkung auf den Angebotspreis des Kapitals gewinnen. Gleichzeitig würden kaufkraftgesicherte Anleihen, entweder direkt oder durch die Vermittlung von Lebensversicherungsgesellschaften und anderen Institutionen, eine etwas peinliche Lücke im verfüg- [<121] baren Angebot an Finanzanlagen schließen. Sparer mit begrenzten Mitteln und Kenntnissen sollten nicht gezwungen werden, um das Preisniveau oder um die Sachwertentwicklung zu pokern. Da die Geldanleger dem Staat einen Preis dafür bezahlen werden, daß sie diese Risiken vermeiden, werden kaufkraftgesicherte Anleihen den Steuerzahlern Zinskosten ersparen. Es werden im Abschnitt 4.3 verschiedene Einwände gegen Anleihen und Wertsicherungsklauseln betrachtet und widerlegt.
Selten und vielleicht nur unter der Belastung von offensichtlichen und ernsthaften Fehlentwicklungen nimmt die Gesellschaft die Mühe auf sich, wirklich unvoreingenommen die Logik und Nützlichkeit von Institutionen zu prüfen, die man gewöhnlich für selbstverständlich hält. Die völlig neue Betrachtungsweise des monetären und finanziellen Systems unserer Nation, die die Kommission für Geld und Kredit gewählt hat, ist eine Ausnahme, die sowohl eine Gelegenheit für ein konstruktives soziales »Engineering« darstellt als auch eine Versuchung gegenüber der Bestätigung des Status quo. Die existierenden institutionellen Arrangements sind nicht notwendigerweise unvermeidlich oder optimal oder einzigartig, nur mögen sie jenen Menschen als solche erscheinen, die intensiv mit ihnen befaßt sind.
Traditionen und Gebräuche und Verpflichtungen entstehen in bemerkenswert kurzer Zeit. Was als natürliche und selbstverständliche Handlungsweise heute angesehen wird, war ungewöhnlich und revolutionär vor fünfzig oder zwanzig oder zehn Jahren. Dementsprechend werden Veränderungen, die sich heute als radikal ausnehmen, morgen von den etablierten Verteidigern des Status quo in Schutz genommen werden. Die Kommission sollte den existierenden Institutionen gegenüber nicht zu weichherzig sein. Sie dürfen durchaus zur Disposition stehen, wenn sie ihre Funktionen nicht mehr erfüllen - die Funktionen, die sie heute übernehmen sollten, und die generell recht verschieden von jenen Funktionen sind, für deren Erfüllung sie ersonnen worden sind.
In vielfacher Hinsicht sind unsere gegenwärtigen Einrichtungen der monetären Steuerung und des Schuldenmanagements vernunftwidrig und anachronistisch. Sie sind nicht für eine Staatsschuld entworfen worden, die einen so großen Teil des privaten Vermögens ausmacht wie heute, und die eine solche strategische Stellung in der monetären Steuerung hat und eine solch gewichtige Belastung für den Staatshaushalt darstellt. Sie sind nicht auf eine Welt zugeschnitten worden, in der die ökonomische Stabilisierung eine solch hohe Priorität auf der Agenda des Staates hat und in der die monetäre Politik eine solch große Verantwortung für die Stabilisierung trägt. Sie sind noch nicht einmal für ein System entwickelt worden, in welchem die allgemeine ökonomische Stabilisierung - und nicht mehr die Verhinderung von Panik und Verständnis für die »Bedürfnisse des Handels« - das grundsätzliche Ziel der Zentralbank darstellt. Sie sind nicht für ein Zeitalter entwickelt worden, in wel-[<122] chem eine unvermeidbare Ungewißheit über das Preisniveau den Besitz von Vermögensanlagen mit fixiertem Geldwert zum Glücksspiel macht, also Anlagen, die herkömmlicherweise als vollkommen sicher betrachtet werden. Früher oder später, langsamer oder schneller werden sich unsere Institutionen dergestalt weiterentwickeln, daß sie zu den Erfordernissen der Gegenwart besser passen. Die Kommission für Geld und Kredit hat die Chance, diese Entwicklung zu beschleunigen, ihr den Weg zu ebnen und ihr Führung zu geben."
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Links zu James Tobin (1918–2002) und seinem Werk
Literatur
zu Leben und Werk von James Tobin
korrigiert: 18.07.04 irs