In memoriam Walter Toman 28.09.2024
Walter Tomans Definition der Psychologie
"2 Die Psychologie in näherer Betrachtung
Gegenstand der Psychologie ist das Verhalten des Menschen in elementaren
und komplexen Situationskontexten. Zum Gegenstand der Psychologie zählen
manche auch oder vor allem das Erleben des Menschen (zum Beispiel Külpe
1893; Karl Bühler 1927; Allport 1937; Elsenhans
1939; Rohracher 1971), jedoch muß vom wissenschaftstheoretischen
Standpunkt dagegen eingewandt werden, daß Erlebnisse nur dann Gegenstand
wissenschaftlicher Aussagen sein können, wenn sie »zu Protokoll
gebracht« sind, wenn über sie von der betreffenden Person selbst
Aussagen gemacht oder durch anderweitiges Verhalten von ihrer Existenz
Mitteilung gemacht wird (siehe auch Stevens 1939). Erst diese Protokollsätze
über Erlebnisse sind diskutierbare Primärdaten.
Die Psychologie ist eine empirische Wissenschaft. Sie kommt durch systematische
Beobachtungen des Verhaltens von Menschen oder durch Variation der Bedingungen,
unter denen Verhalten beobachtet wird, zu ihren Aussagen. Diese sollen
auf ihre Allgemeinheit und ihren Geltungsbereich geprüft sein. Wenn
keine Einschränkungen geäußert werden, dann sollten ihre
Sätze eigentlich allgemein und überall gelten. Ob dies wirklich
zutrifft, ist allerdings oft fraglich.
Wissenschaftliche Aussagen im allgemeinen, aber auch in der Psychologie,
haben den Charakter von Bedingungssätzen. Einfachere Aussagen
als solche Bedingungssätze oder Gleichungen sind in der Regel nur
Prämissen oder Vorbereitungen für die eigentlichen wissenschaftlichen
Aussagen. Solche Bedingungssätze einfachster Form wieder unterscheiden
mindestens zwei Zustände eines unabhängigen Merkmals und sagen
entweder den Eintritt oder Nichteintritt eines abhängigen Merkmals
voraus oder, anders gesagt, einen von ebenfalls mindestens zwei Zuständen
eines abhängigen Merkmals.
Nehmen wir als Beispiel die Aussage: »Im Zustand der Müdigkeit
nimmt die Aufmerksamkeit ab.« Wenn Müdigkeit, die unabhängige
Variable X, etwa durch die Zeit definiert ist, die jemand ohne Unterbrechung
wach gewesen ist, und Aufmerksamkeit, die abhängige Variable Y, etwa
durch die Fähigkeit einer Person, sich Zahlengruppen zu merken und
im Kopf zu addieren, dann könnte folgendes Experiment angestellt werden:
Eine Person wird am Morgen nach dem Frühstück und am späten
Abend nach einem arbeitsreichen Tag gebeten, sich die ihr vorgesprochenen
Zahlen 372, 4055 und 96 zu merken und innerhalb von 20 Sekunden zu addieren.
Damit kein spezifischer Vertrautheitseffekt als Fehler in das Experiment
gerät, sollte man beim zweiten Versuch eine andere Zahlengruppe, etwa
54, 2149 und 609, verwenden. Die Voraussage wäre, daß die Person
diese Aufgabe am Morgen in der vorgegebenen Zeit löst, am Abend nicht.
Geringe oder gar keine Müdigkeit ist mit für die Aufgabe ausreichender
Aufmerksamkeit gekoppelt, große Müdigkeit mit zu geringer Aufmerksamkeit.
Um sicher zu sein, daß man nicht ein Zufallsergebnis erhält,
würde man natürlich lieber 20 Personen unter jeder der beiden
Bedingungen testen, und damit ein Gedächtnis- und Übungseffekt
mit Sicherheit ausgeschaltet ist, würde man sogar 2mal 20 Versuchspersonen
entweder nach dem Zufall aus einer einzigen Population auswählen oder
sie durch Vortests ihrer Aufmerksamkeit in zwei Parallelgruppen von durchschnittlich
gleicher Leistungsfähigkeit aufteilen. Eine dieser Gruppen, die nicht
ermüdete, könnte man die Kontrollgruppe nennen, die andere die
experimentelle Gruppe. - Ferner würde man auch die Zahl der Aufmerksamkeitsproben
von einer einzigen komplexen Leistung auf mehrere und vielleicht jeweils
leichtere Aufgaben erhöhen (etwa fortlaufend je zwei vorgegebene einstellige
Zahlen addieren oder überhaupt nur bestimmte Zeichen aus einem vielfältigen
Zeicheninventar durch Abhaken selegieren). Die Zahl solcher erfolgreich
gelösten Aufgaben innerhalb eines gegebenen Zeitabschnittes sollte
von Versuchsperson zu Versuchsperson verschieden ausfallen. Die Zahl dieser
gelösten Aufgaben könnte als Maßzahl für die Aufmerksamkeit
der Versuchsperson fungieren."
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korrigiert: irs 27.09.2024