Das Schattensyndrom
Ratey, John J. & Johnson, Catherine (dt. 1999, orig. 1997). Das
Schattensyndrom. Neurobiologie und leichte Formen psychischer Stoerungen.
Stuttgart: Klett-Cotta.
ISBN 3-608-91889-2. DM 78.--, 444 Seiten
Ueberblick nach Kapiteln
Die
zentralen Annahmen und Kern-Thesen des Buches
aus der Einleitung: Die Biologie des Alltagslebens
Zu den einzelnen Kapiteln
Prolog der Autoren: Catherines Geschichte. Johns Geschichte.
Hier gehen die AutorInnen auf die Schatten in ihrem eigenen Leben ein: Dass WissenschaftlerInnen von sich freimuetig auf ihre eigenen "Schatten" eingehen ist ebenso ungewoehnlich wie mutig und innovativ - wenn es in der Bedeutung auch echt und nicht nur ein Marketingtrick ist.
John J. Ratey, Assistenzprofessor fuer Psychiatrie an der Harvard Medical School, leidet unter einem ADD-Schattensyndrom, das er auch dafuer verantwortlich macht, dass er nicht zum Psychoanalytiker taugte, er konnte einfach seine Aufmerksamkeit nicht frei schweben lassen und assoziieren: "Ich wollte Analytiker sein, und ich wollte ein guter Patient sein. Doch ich konnte nicht, weil mein Gehirn zu sehr getrieben, zu aktiv, zu besessen war. Im Grunde war mein Gehirn ein klassisches Beispiel fuer das Gehirn eines Erwachsenen, der an einer Aufmerksamkeitsstoerung (ADD) leidet". (S. 43f) Durch einen Zufall wurde er dann Spezialist fuer Aggressionsstoerungen. In der Zeit als er das Buch mit Hallowell ueber ADD im Erwachsenenalter schrieb "rief Catherine an und bat um ein Interview ueber das Thema 'Aufmerksamkeitsschwaeche und Liebe'." (S. 48). "Es ist unser Ziel, den Menschen und ihren Therapeuten zu helfen, ueber ihre Probleme auf eine neue Art nachzudenken: die Wirkungen zu entdecken, die ihre biologische Konstitution auf das Psychische haben koennen." (S. 49).
Catherine Johnson bekam nach der Geburt ihres Sohnes Jimmy (1987) - der sich spaeter als ein hochleistungsfaehiges autistisches Kind herausstellte - ein zunaechts nicht erkanntes atypisches depressives Syndrom. Durch eine Familienpsychiaterin wurde sie dann diagnostiziert und wurde innerhalb kurzer Zeit zu einer der Prozac (dt: Fluctin) Erfolgsgeschichten: "Das Medikament aenderte zwar nicht meine Lebensgeschichte, aber es veraenderte meine Biologie. Und wenn wir die Biologie eines Menschen veraendern, koennen wir auch sein Leben veraendern. Mit Sicherheit veraenderte das Medikament mein Leben."(S. 33). "(auch wenn ich der Ehrlichkeit halber sagen muss, dass Prozac (dt: Fluctin) sich letztlich nicht als ein ungetruebter Segen fuer unsere Sexualleben erwies)" (S. 32). "Je haeufiger man die Menschen durch die Brille des Schattensyndroms betrachtet, desto mehr sieht man. Die Menschen koennen - und John glaubt es von den meisten unter uns - leichte, nicht entdeckte Formen von psychischen Stoerungen haben, die unmissverstaendlich waeren, wenn sie schwerwiegend waeren. Wenn Stoerungen jedoch nur leicht sind, uebersehen die Menschen den Zusammenhang. Sie glauben nicht, dass sie depressiv sind; sie glauben, eine Liebe verloren zu haben. Sie glauben nicht, an einer leichten, intermittierenden Wutstoerung zu leiden; vielmehr glauben sie, ihre Ehefrauen und Kinder wuerden sie absichtlich in Wut versetzen. Sie glauben nicht, dass etwas in ihrem Gehirn passiert, sondern denken nur, dass etwas in ihrem Geist vor sich geht." (S. 38).
"Wenn wir uns fragen, welche kleineren Maengel in der Funktionsweise
des Gehirns uns selbst oder einen uns nahestehenden Menschen beeintraechtigen
koennen, dann ist eines der verwirrendsten Probleme das, wie viele Schattensyndrome
normale Menschen betreffen koennen. Machnmal depressiv zu sein, manchmal
impulsiv, manchmal manisch, manchmal zwanghaft: all diese Aspekte unserer
selbst, unserer Familien und unserer Freunde koennen wir in den Kapiteln
dieses Buches finden.
Deshalb beginnen wir hier mit dem Begriff noise: Laerm,
Geraeusch, Rauschen. Die einzige Eigenschaft, die allen Schattensyndromen
gemeinsam ist, ist das Rauschen: ein inneres, biologisch begruendetes,
mentales 'weisses' Rauschen. Wenn wir leicht depressiv oder leicht hyperaktiv
sind oder sonst eine leichte Stoerung aufweisen, hoert unser Gehirn auf,
als das ruhige, reflexive Zentrum einer geordneten Welt zu arbeiten. Wir
werden geraeuschvoll von innen. Alle Syndrome enden in einem Zustand des
geistigen Rauschens. Den Syndromen gemeinsam ist der Laerm, das Rauschen,
ganz unabhaengig von allen sonstigen Besonderheiten."(S. 52). "Was Selyes
Stress fuer den Koerper ist, ist das Rauschen fuer das Gehirn: Rauschen
ist die unspezifische Reaktion des Gehirns auf Anforderungen, die durch
schwierige Lebensumstaende oder durch eine schwierige (oder mangelhafte)
biologische Konstitution an es gerichtet werden." (S. 53).
Angewandt auf schwer psychische Stoerungen liest sich die Laerm-Metapher
der AutorInnen wie folgt:
"Der Laerm im Gehirn des schwer psychisch Kranken ist kein Laerm im
eigentlichen Sinn, ausser bei der Schizophrenie, wo der Patient tatsaechlich
Stimmen hoert. Es ist ein Laerm im uebertragenden Sinne, metaphorisch verwandt
mit dem sehr gering geringen Signal-Rausch-Abstand bei Grundrauschen eines
Radiokanals. Im laermenden Gehirn ist nichts klar. Das laermende Gehirn
kann weder ein- noch ausgehenden Gedanke oder Reize voneinander trennen;
alles geschieht gleichzeitig." "Wir moechten ihnen zu verstehen helfen,
welches ihre eigenen biologischen Staerken und Schwaechen sind - und was
die jener Menschen sein koennen, die Ihnen nahestehen. Wissen ist Macht:
wenn Sie wissen, wie Ihr Gehirn arbeitet, koennen Sie alle erforderlichen
Schritte unternehmen, um den Problemen zuvorzukommen und die Staerken auszuspielen.
Ausserdem hoffen wir, dass Sie bei der Lektuere dieses Buches zur Einsicht
kommen, dass Biologie nicht Schicksal ist. Wir koennen erstaunlich viel
tun, mit natuerlichen oder medizinischen Mitteln, um die Neurochemie unseres
Gehirns zu beeinflussen." (S.49f)
Die neue und anscheinend wichtige Vokabel "Laerm" bleibt eine unklare
Metapher - obwohl ein ganzes Kapitel mit 23 Seiten zur Verfuegung steht.
Den AutorInnen steht eine differenzierte psychologische Terminologie leider
nicht zur Verfuegung. Das im Selbstverstaendnis der AutorInnen wohl
als neuartig gesehene Konzept ist im Grunde altes traditionelles psychiatrisches
Gedankengut im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, das lange Zeit als ueberwunden
galt, nun aber wieder unter neuen Namen und Metaphern restauriert werden
soll: das alte Psychopathiekonzept der traditionellen ("klassischen") deutschen
Psychiatrie, das in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten
(ICD) und im Diagnostisch und Statistischen Manual Psychischer Stoerungen
(DSM) inzwischen unter die Persoenlichkeitsstoerungen (PS) eingereiht ist.
Die alte Psychiatrie hatte immer die Auffassung vertreten, dass die vormals
psychopathisch genannten Stoerungen eine starke biologische, d.h. genetische
Fundierung haben und psychotherapeutischen Methoden nur bedingt zugeaenglich
sind (die moderne Verhaltenstherapie ist anderer Meinung).
Aber es gibt doch einen wichtigen Unterschied zwischen der klassischen
deutschen Psychiatrie und dem Konzept der AutorInnen. Sie sprechen liebe-
und respektvoller von den Menschen mit ihren Schatten und sie beziehen
sich - und im Grunde fast alle - mit ein. Menschen mit einem Schattensyndrom
sind und bleiben ins erster Linie Menschen (wenn auch zuweilen fuerchterliche,
das wird gar nicht bestritten), waehrend der alte deutsche Psychopath oft
sehr entwertet und ausgegrenzt wurde.
Das Kapitel schliesst mit interessanten Ausfuehrungen zum psychologischen
Heilmittel Wuenschen: "Am Ende bedrohen alle Schattensyndrome die Zukunftsperspektive;
sie bedrohen unsere Wunschfaehigkeit fuer den Rest unseres Lebens. Wenn
wir mit einer chronisch lauten Biologie kaempfen muessen, ist es beinahe
unmoeglich, fokussiert oder zielorientiert zu bleiben, ist es beinahe unmoeglich,
sich einer echten und tiefempfundenen Ambition zu verschreiben. ...
Nur wenn wir den innerlichen Laerm zur Ruhe bringen, koennen wir das wahre
Beduerfnis, das wahre Wollen und den wahren Wunsch kennenlernen. Nur dann
koennen wir erkennen, dass dieser Ort und diese Menschen das sind, wo wir
bleiben wollen." (S. 74). Eine starke Aussage fuer Nicht-PsychotherapeutInnen,
erinnert ein bisschen
an das Plaedoyer einer Wahrheitstherapie des Psychoanalytikers
Robert Langs ("Die psychotherapeutische Verschwoerung").
Moeglicherweise bedeutet das Buch eine Markierung in einem neuen Paradigmenwechsel,
indem die biologischen und genetischen Rahmenbedingungen wieder staerkere
und auch angemessenere Beruecksichtigung finden und die Grenzen psychologischer,
psychotherapeutischer und paedagogischer Beineinflussung deutlicher gemacht
werden. Dies stellt die interessante Frage nach den Grenzen der psychotherapeutischen
und paedagogischen Methoden in den Raum und impliziert im Grunde ein neues
therapeutisches, das interdisziplinaere Paradigma. Die Frage nach
den richtigen Therapien ist keine Frage mehr von entweder - oder,
sondern muss im Lichte der modernen neuobiologischen Perspektive
mit sowohl - als auch betrachtet werden. Das soziale Umfeld,
natuerliche Methoden, wie Ernaehrung, Bewegung, Sport und Spiel, Aufgaben
und Hingabe, paedagogische Massnahmen, genetische und biologische Beratung,
medizinische Methoden, Medikamente und Psychotherapie gehoeren interdisziplinaer
integriert und kooperativ angewandt.
2. Die Biologie des "Schwierig"-Seins: Die larvierte Depression (S. 75 - 115)
"Ganz leichte depressive Personen sind haeufig gestresst, zermuerbt
und wuetend. Sie fuehlen sich ueberwaeltigt und erschoepft; sie sind die
Menschen, die 'an der Wand stehen'. Sie schreien ihre Kinder und giften
ihre Ehepartner an. Sie sind chronisch gereizt, und sie koennen sich ueber
nichts mehr freuen." (S. 75). Wie die AutorInnen auf die Bewertung "ganz
leicht" (depressiv) kommen, bleibt angesichts der Schwere der genannten
Symptome, ihr Geheimnis. Wer sich ueber nichts mehr freuen kann,
also vollstaendig anhedonisch ist, ist nicht 'ganz leicht', sondern ganz
sicher sehr schwer betroffen.
Auch gehoert die chronische Gereiztheit ueblicherweise nicht zur larvierten
Depression, sondern eher zum dysthymen oder dysphorischen Syndrom, das
wiederum zu verschiedenen Grundkrankheiten oder Stoerungen gehoeren kann.
Ueberhaupt ist aus deutscher Perspektive der Gebrauch der Vokabel
"larvierte Depression" unverstaendlich. Eine larvierte oder maskierte Depression
ist nach internationalem Gebrauch eine Depression, die sich quasi "verkleidet",
sie tritt sozusagen in einem "falschen", irrefuehrenden Gewand auf, weshalb
die davon betroffenen Menschen ja jahrelang diagnostisch un- oder fehlerkannt
durch die Arzt- und Facharztpraxen ziehen. Im deutschen Sprachgebrauch
- das haetten zumindest Lektor oder Uebersetzer kommentieren muessen -
wird der Ausdruck - in erster Linie fuer Depressionen verwandt, die hauptsaechlich
durch koerperliche Symptome "verkleidet" erscheinen. (Somatisierungs-Depression)
1)
. Hier wird offensichtlich ein neuer Depressionstyp kreiert, aber
mit einem alten Namen und andersartiger Bedeutung belegt - eine alte Unsitte
in der Psychiatrie, die schon Eugen Bleuler in seinem beruechtigten Buch
"Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Ueberwindung"
(1919ff) so trefflich geisselte.
Das Schattensyndrom der larvierten Depression soll im Gegensatz zur
"schweren Depression" oft nicht mit grosser Angst einhergehen, nur in etwa
1/3 der als "leicht" diagnostizierten Faelle (S. 76).
Das fehlende terminologische psychologisch-psychotherapeutische Grundwissen
der AutorInnen zeigt sich in folgender Ausfuehrung: "Im einfachsten Sinne
ist 'Angst' einfach ein Codewort fuer 'Furcht' - und Furcht ist in der
Tat ein zerstoererisches Gefuehl." (S. 76). Ein ebenso fragwuerdiger wie
modisch-abstruser Sprachgebrauch. Angst und Furcht bezeichnen das gleiche
gefuehlsmaessige oder emotionale Erlebnis und daher ist Angst kein weniger
zerstoerisches Gefuehl als Furcht, wenn man es denn so seltsam kennzeichnen
will. Man unterschied in der Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie
gelegentlich Angst und Furcht derart, dass Furcht fuer eine spezifizierbare,
obejektbezogene Angst (alle Phobien z. B.) verwendet wurde, aber natuerlich
nicht konsequent und allgemein anerkannt (siehe oben Bleuler).
Interessant ist die Darlegung des Unterschieds der depressiven und gesunden Wahrnehmung, Beurteilung und Bewertung des eigenen Selbst und Lebens nach der Psychologieprofessorin Shelley E. Taylor . (S. 77).
Die Bedeutung von Stress und Ueberforderung wird ausfuehrlich eroertert und hierbei das Medikament Prozac (Fluctin) wie in einer Werbebroschuere der Pharmaindustrie ueber alle Massen gelobt, obgleich die ROTE LISTE (1999) unter Nebenwirkungen und Wechselwirkungen fast eine ganze Spaltenseite ausweist. Aus psychotherapeutischer Sicht waere in dem Fallbeispiel einer Ueberforderung eine kognitive Therapie, die die Ueberforderung aufgeben lernt, richtig gewesen.
Es folgen Ausfuehrungen ueber die epidemiologisch angeblich gesicherte
Zunahme der Depressionen (S. 94) und neuere Forschungsergebnisse von Mark
George ueber die Glukose-Aktivitaet, gemessen mit dem Positronen Emissions
Spektrographen (PET) Verfahren, der feststellt: "Das Aktivitaetspegel im
linken praefrontalen Kortex korreliert damit, wie depressiv jemand ist.
Es handelt sich dabei um eine einfache lineare Beziehung: je weniger Aktivitaet,
desto depressiver." Sodann thematisieren die AutorInnen ein bekanntes Phaenomen
als raetselhaft und neu, naemlich dass Depressive alexityhm reagieren,
also mit sehr geringer Faehigkeit zu fuehlen. Dies eingedenk ist
es auch gar kein Problem, Depression und Trauer zu unterscheiden: Trauer
ist ein intensives Gefuehl, das der Bewaeltigung von Verlusten dient. Trauern
ist nichts anderes, als einen seelisch-geistigen Verlust durch eben das
Trauern zu verarbeiten. Traurig sein heisst Trauerarbeit verrichten.
"Dem" Depressiven fehlt aber die Faehigkeit zu intensivem Fuehlen
- als Ausdruck der Depression -, vermutlich deshalb, um nicht von negativen
Gefuehlen ueberflutet zu werden. Depression kann daher auch sinnvoll als
eine Notfallmassnahme der Natur aufgefasst werden. Eine psychologisch naheliegende
Erklaerung ist, dass Depressive nicht richtig lernen konnten, negative
Gefuehle, abzuarbeiten bzw. abzuleben, wodurch sich immer
mehr aufstauen und das Faesschen im Laufe der Zeit gefaehrlich voll wird,
so voll, dass eine Notfallfunktion emotionaler Sperre den Fluss aller Gefuehle
fast unterbindet. Dann sind wir beim Bild der schwersten Depression, einer
Art innerer Versteinerung. Dieses verstaendliche psychologische
Modell erwaehnen die AutorInnen mehr nebenbei am Ende des Kapitels, wenn
sie schreiben: "Der leicht Depressive reagiert auf einen Schmerz, indem
er die Schotten dicht macht, sich in sich selbst zurueckzieht und die Welt
samt ihren Stress ausschliesst." (S. 122) . Nun, warum sollte dies nur
fuer den "leicht" Depressiven gelten? Das voellige Versiegen aller Affektivitaet
gehoert ja gerade zur schwersten Form der Depression, jener ganz und gar
grauenvollen Nicht-Erlebensfaehigkeit, jener furchtbaren inneren
Versteinerung bei vollem Bewusstsein, eine Art "Erleben" des Todes: denn
das Fehlen aller Affektivitaet und der Gefuehle ist eine Art lebendes Totsein.
Der Wunsch, ein solch grauenvolles Un-Leben auch wirklich beenden zu wollen,
ist nur zu verstaendlich. Denn leben heisst fuehlen.
3. Die Pathologie der gehobenen Stimmung: Die hypomanische Persoenlichkeit (116-159)
Hypo, gr., bedeutet unter. Hypomanie bedeutet damit eine
milde Form von Manie. Eine hypomanische Persoenlichkeit euphorischen Typs
erscheint als eine beneidenswerte gesund-ideale Persoenlichkeit, die fast
jeder sein moechte und ziemlich perfekt der Definition der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) von Gesundheit entspricht: "Gesundheit ist der Zustand des vollkommenen
koerperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur
das Fehlen von Krankheit und Gebrechen." Nach dieser Definition
gaebe es nur ein paar Kranke, die gesund waeren ;-). Hypomanie, ein
idealer Zustand positiven, kreativen, erfuellten Erlebens. Wieso sollte
das eine Stoerung und gar noch moeglicherweise mit Krankheitswert sein?
Und weshalb stehen so definiert vollkommene Gesunde in den Internationalen
Klassifikationen der Krankheiten?
Die AutorInnen beginnen mit Informationen ueber die Manie und beschraenken
sich hierbei auf die vielfach bekannte Form euphorischen Typs, also
gehobene Stimmung mit charismatischer Austrahlung , voller Selbstvertrauen,
mit 1000 Ideen und gesteigerter Aktivitaet, Enthemmung, geringem Schlafbeduerfnis
und gesteigerter Leistungsfaehigkeit. Auf den weniger bekannten Typ der
dysphorischen
(gereizt-erregten-missmutigen) Manie gehen die AutorInnen gar nicht differentialdiagnostisch
ein, was aber auch am diesbezueglich unzulaenglichen - amerikanisch gepraegten
- DSM liegen mag. In der traditionellen Psychopathologie werden die dysphorischen
(gereizt, missmutig, uebellaunig, aggressiv, wuetend, unruhig, ungeduldig)
Syndrome ja thematisiert. Aber selbst die moderne Psychiatrie ist
seit Pinel nicht in der Lage, eine angemessene Terminologie und psychologisch-
psychopathologisch operationale Methodik zu entwickeln - trotz Jaspers,
trotz Bleuler, trotz des juengsten Lichtblicks Scharfetter: sie koennen
es einfach nicht, wie ICD und DSM eindrucksvoll belegen.
(kritisch hierzu: https://www.sgipt.org/doceval/diag_k.htm
)
"Hypomanische Personen duersten nach Reizen ..." (S. 125), nun das trifft in vollen Umfang auf viele Menschen zu. Der Reiz- und Erlebnishunger spielt eine grosse Rolle im Suchtbereich, bei Impulsneurosen, aber auch bei nicht wenigen AD-H-D Persoenlichkeiten, bei Anhedonischen (Freud- und Lustlosen) und Alexithymen (Verlust der Fuehlfaehigkeiten), die wie extrinsisch Orientierte ja sehr auf auessere Anregungen angewiesen sind. Es fehlen die differenzierenden Merkmale und eine klare Definition, ein ebenso alter wie anscheinend ewig jungbleibender "Schatten" der Psychopathologie selbst.
Ueber die Hypomanie im engeren Sinne erfahren wir wenig, aber doch einiges ueber den gesamten Krankheitskomplex affektiver Stoerungen: "Die biploare Stoerung ist genetisch bedingt." (S. 134). "Welche Gene genau bei der Uebertragung der manisch-depressiven Krankheit von einer Generation auf die naechste beteiligt sind, ist unbekannt, ... Vermutlich sind mehrere Gene beteiligt, wobei die Schwere der Krankheit bei einem Individuum wohl davon abhaengt, wie viele von den Genen es geerbt hat und mit welchen Mutationen." (S. 135). "Die elementare Biologie der manisch-depressiven Krankheit bleibt ein Geheimnis." (S. 136).
Dann berufen sie sich auf die Forschungen Mark Georges (1994-1996):
"Es gibt gewisse Belege fuer Strukturunterschiede in den Gehirnen bipolarer
Patienten: tomographische Aufnahmen zeigen die beruehmten unidentified
bright objects (UBOs), nichtidentifizierte helle Objekte, die auch
auf den MRT-Rasterbildern von Menschen mit Alzheimer und multipler Sklerose
zu sehen sind. UBOs sind leuchtende weisse Flecken auf dem Bildschirm,
deshalb der Name. Anatomisch gesprochen ist ein UBO eine Laesion oder Beschaedigung
der weissen Hirnstubstanz." (S. 137) ... "In der Regel wird die Manie mit
Laesionen der rechten Hirnhaelfte in Verbindung gebracht ... Das erscheint
plausibel: Die rechte Hirnhaelfte ist naemlich fuer die normale Negativitaet
verantwortlich. Eine Schaedigung der rechten Hirnhaelfte beeintraechtigt
die Faehigkeit des Gehirn, unangenehme Dinge zu empfinden und zu
verarbeiten und bringt eine Persoenlichkeit - ein Lebewesen - hervor, das
uebertrieben gluecklich ist." (S. 138).
Es wird dann noch auf die Arbeiten Ramachandrans verwiesen, der fand, das Schlaganfallpatienten, die an Anosognosie (= halbseitige Laehmung nicht erkennen koennen) litten, eine Schaedigung der rechten Hirnhaelfte aufwiesen. Er glaubt damit eine neurobiologische Basis fuer den Abwehrmechanismus der Verleugnung gefunden zu haben. Hier verkennen die Autoren das Wesen der Abwehrmechanismen gruendlich. Psychologische Abwehr ist motiviert und keine neuroanatomisch begruendbare, sondern wenn, dann eine Gehirn-"Software-Stoerung". Agnosien - jedenfalls schlagfallbedingte - beruhen auf tatsaechlichen nachweisbaren Stoerungen oder Ausfaellen der "Hardware" im Gehirn. Auch die Berufung auf den psychoanalytischen Manieforscher Lewin wirkt eher merkwuerdig, da der ja die kuriose psychoanalytische Theorie einer heiter-froehlichen Peniswunscherwartung in den beiden weiblichen Fallbezuegen zugrundelegte. Penisneid - warum nicht Vaginaneid? - ist ja nun wirklich kein wissenschaftlich serioeser Begriff, sondern bestenfalls eine abenteuerliche Hypothese, inzwischen aber wohl eher reine Esoterik mit Option auf ein Wahnsystem.
Gegen Ende des Kapitels gibt es einen ungewoehnlichen Schlenker
zur multiplen Persoenlichkeit:
"Die leichten Formen der der bipolaren Stoerung fuehren zu faszinierenden
Auspraegungen der Persoenlichkeit und Charakterbildung, weil jemand, der
auch nur leicht bipolar ist, gewohnt ist, als zwei Personen oder vielleicht
sogar als drei zu leben: als ein voll entwickeltes depressives Selbst,
als ein voll entwickeltes euphorisches und als ein ruhiges, ausgeglichenes
Selbst. Das ist wichtig, weil die meissten von uns sich als eine einzige
Person mit einer einzigen Identitaet erleben. Auch wenn wir alle voller
Widersprueche und Unstimmigkeiten sind, fuehlen wir uns doch
nicht so. Wir fuehlen uns durch sehr verschiedene Situationen hindurch
und mit sehr verschiedenen Menschen als ein und dieselbe Person. Bei bipolaren
Menschen ist dies weniger haeufig der Fall. Bipolare Menschen koennen sich
von einem Tag auf den anderen als eine voellig verschiedene Person fuehlen:
sie koennen ohne weiteres von einem Tag auf den anderen eine voellig verschiedene
Person sein. " (S. 157f)
Was mich besonders beeindruckt, sind die kreativen Einfaelle der AutorInnen in all den Schatten und Stoerungen noch etwas Positives zu sehen und damit die Doppelnatur und Relativitaet aller potentiellen Heilmittel (Reil 1803) und Stoerungen zu erkennen. Obwohl die AutorInnen weder in der systemischen noch in der Kommunikationstherapie Watzlawick et al. bewandert sein duerften (keine Hinweise im Register und im Literaturverzeichnis), erweisen sie sich doch als MeisterInnen der Umdeutung: "Menschen mit leichter Bipolaritaet geniessen gegenueber ihren eher eindimensionalen Zeitgenossen einen weiteren Vorteil: Wer von einem Tief in ein Hoch hinueber- und wieder zurueckwechselt, kann sowohl vom Realismus der Depression als auch vom hochfliegenden Selbstvertrauen der Hypomanie profitieren. ... Aufgrund dieser 'gespaltenen Persoenlichkeit' kann eine bipolare Persoenlichkeit am Ende viel gleucklicher sein als viele von uns mit anderen Schattensyndromen; sie kann sogar gluecklicher sein als die 'Normalen' unter uns." (S. 158).
Das Kapitel schliesst mit einer fuer HypomanikerInnen verblueffenden
Zukunftsperspektive: "Im mittleren Alter werden die Hypomanischen unter
uns zu den 'gluecklichen Kriegern' des Lebens, zu den gereiften Maennern
und Frauen, die eine Vision haben und sich den Weg dorthin bahnen." Verblueffend
meine ich deshalb, weil die - euphorische - Hypomanie im Grunde nur eine
psychopathologische Floskel fuer das ist, was man gewoehnlich mit gluecklich
sein bezeichnet. Wer positiv verliebt ist, ist gewoehnlich hypomanisch.
Darueber sagen die AutorInnen zu meiner Ueberraschung nichts. Bemueht man
das ganz
normale Leben als Interpretationsfundus, heisst Hypomanie kognitionspsychologisch
vielleicht nichts anderes als:
Und vielleicht ist fuer viele die staerkste Sehnsucht die Verliebtheit - wie sie in Ortega y Gassets Metapher "Triumpf des Augenblicks" alternativ zur Liebe, dem "Glanz der Dauer" so trefflich beschrieben wird.
Vielleicht gibt es auch einen self-fulfilling-prophecy-effect: weil
die Hypomane ihre Sehnsuechte erfuellt waehnt, erfuellen sie sich tatsaechlich
- leichter und oefter. Waehnen erwiese sich so als ein sich
selbst bestaetigendes Heilmittel und ein bisschen wuerde
auch die umstrittene Formel denk positiv - wenn
es denn wirklich gelingt und nicht nur aufgesetzt ist - dadurch fundiert.
Den AutorInnen nach ist Hypomanie klar biologisch-genetisch fundiert.
4. Erwachsene im Koller: Die intermittierende Wutstoerung
"Die haeufigste Gruende, die uns zu Ohren kommen, warum Leute zur Therapie gehen, sind folgende: sie fuehlen sich traurig, haben Angst, ihre Ehe bricht auseinander, oder sie haben ihren Arbeitsplatz verloren und brauchen einige Woche Ruhe. Doch nur selten vertraut uns ein Freund oder ein Familienangehoeriger an, dass er zur Therapie geht, weil er uebermaessig wuetend ist. ... Wenn also Leute in die Therapie kommen, um Hilfe wegen Wut zu suchen, geschieht dies haeufig deshalb, weil jemand anders in ihrem Leben, meist ein darunter leidender Partner, sie hingeschickt hat. Damit kommen wir gleich zum entscheidenden Punkt der Schwierigkeit, Wut als ein hirnbedingtes Problem zu beschreiben, das als solches Aufmerksamkeit verdient: zwar freut sich keiner von uns darueber, Objekt der Wut eines anderen zu sein, doch die meisten von uns moegen, ja schaetzen gar die eigenen Wutgedanken und Wutgefeuhle." (S. 160).
Der Begriff der Wutstoerung ist nicht gut, da Wut zunaechst einmal ein
Gefuehl ist und nichts macht.
Die Menschen bekommen keine Probleme, weil sie Wutgedanken haben oder
Wut fuehlen, sie bekommen Probleme, wenn sie ihre Wut ausleben,
und das heisst dann nicht mehr Wut, sondern aggressiv handeln, Aggression
ausleben, aggressiv agieren. Das ist etwas anderes als Wut. Sinnvollerweise
unterscheidet man Gefuehl, Gedanke, Motiv und Handlung. Entscheidend im
Sozialleben ist die Handlung und nicht das Gefuehl, der Gedanke oder das
Motiv. Daher lautet die entsprechende Bezeichnung im DSM-IV auch nicht
Intermittierende Wutstoerung, sondern trefflicher "Intermittierende Explosible
Stoerung". Im DSM-IV (312.34; ICD-10 Entsprechung F 63.8)
wird hierzu ausgefuehrt (dt. 1996; S. 694 ):
Das nun folgende sehe ich nicht so: "Wenn wir jedoch die Biologie der
Wut genauer betrachten, sehen wir, dass Wut und Depression eng verwandt
sind. Depressive Menschen sind allzu haeufig auch Menschen mit Wut: in
jedem Fall zumindest reizbar." (S. 162) Das mag fuer den dysthymen und
den maniform dysphorischen Typ stimmen, aber sicher nicht allgemein. "Eine
rasch wechselnde Stimmung kann ein Bestandteil von Stoerungen sein, die
so schwer sind wie die Depression oder so leicht wie Aufmerksamkeitsstoerungen.
Tatsaechlich ist grundlose und unbegruendete Wut ein Symptom vieler Syndrome,
die im DSM-IV aufgefuehrt sind." (S. 162). Die AutorInnen machen hier denselben
schweren Interpretationsfehler wie das DSM-IV, indem sie leichtfertig behaupten,
die Wut sei "grundlos und unbegruendet". Fuer den idiographisch-unkundigen
Aussen- und Nichtverstehenden ja.
Aber hier wird das Unverstaendnis eines Aussenstehenden zum Masstab
genommen. Und wieder stolpern wir ueber die so typische sprachliche
Undifferenziertheit der anglo-amerikanischen Psychologie und Psychopathologie,
die bereits im terminologisch Vorfeld fuer bestmoegliche Verwirrung sorgt.
"Nun ist jedoch die Zeit gekommen, um den Begriff der Wutstoerung wiederzubeleben. Wenn wir vom Zornigen jungen Mann, der einen Koller hat, sprechen wir vielleicht von dem Schattensyndrom einer Intermittierenden Wutstoerung. Diese Menschen leiden an subtilen Hirndifferenzen, die zu einer explosiblen affektiven Verfassung fuehren. Es sind Menschen, die 'explodieren' oder 'aus dem Haeuschen geraten' und wir erklaeren solches Verhalten gewoehnlich als Resultat von Selbstsucht, Narzissmus und Unreife oder von allem zusammen. In Wirklichkeit ist diese Person jedoch zumindest teilweise aufgrund von Hirndifferenzen so wie sie ist. ... An dieser Stelle wollen wir einfach festhalten, dass Probleme mit der Wut im Grunde Probleme mit der Impulskontrolle sind. 'Impulskontrolle' ist einer der grundlegenden Begriffe der Psychiatrie, von denen wir ein ganzes Leben lang nichts hoeren, bis zu dem Augenblick, da wir Eltern werden. Jeder, der sich bemueht hat, ein Kind grosszuziehen, das sich anstaendig verhaelt und mit dem man in die Oeffentlichkeit gehen kann, kennt die entscheidende Wichtigkeit der Impulskontrolle fuer das Leben eines Kindes, und die meisten Eltern haben auch die sehr unterschiedlichen Niveaus festgestellt, die die Kinder mit auf die Welt zu bringen scheinen. Einigen Kindern faellt ein angemessenes Verhalten offenbar viel leichter als anderen." (S. 162f).
An dieser Stelle kann man schoen erkennen, wie eine vernuenftige und praktisch nuetzliche Psychopathologie aufgebaut werden muesste: ueber die elementaren bio-psycho-sozialen Grundfunktionen, wie hier der Begriff der Impulskontrolle. Die Diagnostik wuerde die elementaren und hoeheren Funktionen abfragen und jede Stoerung liesse sich beliebig differenziert und nicht nebuloes verwaschen subsummiert oder klassifiziert durch eben die Kombination, die im Einzelfall gefunden wurde, beschreiben und definieren. Weitere elementare Funktionen waeren z. B. wuenschen, wahrnehmen, empfinden, fuehlen, denken, vorstellen, phantasieren, begehren, brauchen, wollen, entscheiden, planen, tun.
"Schliesslich wirft auch die epidemische Ausbreitung der Gewalt in Amerika, die wir in den letzten zwanzig Jahren erleben, ein neues Licht auf die Bedeutung der Wut. Ueberfaelle, Morde, Entfuehrungen und Vergewaltigungen: diese Verbrechen werden nicht von Menschen mit einer ruhigen und heiteren Gemuetsverfassung begangen. Wenn wir jeden Gefaengnisinsassen psychiatrisch untersuchen wuerden, dann begaenne die Kategorie der intermittierenden Wutstoerung sehr reale Zuege anzunehmen." (S. 164).
Die AutorInnen kommen dann auf Forschungen Maurizio Favas (1991,92,94) zu sprechen, der herausgefunden haben will, dass 48% der von ihm untersuchten Depressiven von Wutanfaellen berichteten; zum Vergleich Nichtdepressive 21%: "Einer von fuenf normalen Durchschnittsmenschen erlebt heftige Anfaelle von Wut, die er nicht zu kontrollieren vermag. " (S. 165). "Ein Wutanfall wird als etwas empfunden, das einem zustoesst, und nicht als etwas, das man den Menschen in seiner Umgebung zufuegt." Hier soll wohl ausgedrueckt werden, dass man nicht absichtlich zufuegt, wobei natuerlich zufuegen zufuegen ist. Fava untersuchte dann weiter, wie die Wutanfaelle medikamentoes beeinflusst werden koennen: "Er waehlte Prozac (dt. Fluctin) aufgrund von Daten, die zwischen Aggression und niedrigem Serotoninspiegel eine Korrelation nachweisen. In der Fachwelt sprechen die Psychiater vom 'Syndrom des niedrigen Serotonins', eine Theorie, die besagt: Je niedriger der Serotoninspiegel einer Person, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Person gewalttaetig ist - die Person mit dem niedrigsten Serotoninspiegel ist z. B. der Brandstifter. Da Prozac (dt. Fluctin) den Serotoninspiegel hebt, folgerte Fava, dass es Wutanfaelle daempfen koennte. Das tat es dann auch, und zwar auf dramatische Weise. Prozac (dt. Fluctin) reduzierte das Vorkommen von Wutanfaellen bei allen Patienten, und bei 71% verschwanden die Anfaelle voellig" (S. 166). Zwei Seiten spaeter werden einige sehr kritische Nebenwirkungen von Prozac erwaehnt: "Es ist allerdings moeglich, dass Prozac (dt. Fluctin) in einigen Faellen die von den Psychiatern so bezeichnete 'Akathisie' verursachen kann. Wer von Akathisie betroffen ist, leidet an einem inneren Gefuehl der Unruhe, an Bewegungsdrang und Handlungsdruck. Bei den meisten von ihnen wuerde dieses Handeln nicht die Form einer toedlichen Aktion annehmen, bei manchen koennte es aber so sein." (S. 168). Die AutorInnen berichten dann etwas sehr wichtiges: dass naemlich Medikamente paradox oder entgegengesetzt wirken koennen und mahnen: "Die Behandlung des Gehirns ist eine komplexe Kunst; deshalb brauchen wir zugelassene Aerzte, die das Medikament verschreiben und seine Wirkungen ueberwachen. " (S. 169).
Es folgen interessante Ausfuehrungen ueber das "falsche Selbst" und es wird hierbei auf die Arbeiten von Howard Wishnie (1977; Treating the Impulsive Person) zurueckgegriffen und mit einem Fallbeispiel illustriert. (S. 177-183). Danach folgt der Abschnitt "Biologie der Wut": "Der grosse russische Neuropsychologe von einst, Alexander Luria, beschrieb, wie ein schlecht funktionierender oder beschaedigter Frontallappen eine Person aggressiver oder impulsiver machen kann. Heute haben PET-Rasterbilder diese Beobachtung bestaetigt und ausserdem gezeigt, dass Moerder und gewalttaetige Gefaengnishaeftlinge einen Frontalkortex haben, der normalerweise unteraktiv ist: ein Zustand, den man Hypofrontalitaet nennt." (S. 184). In diesem Zusammenhang wird auch bemerkt, dass man durch Hypofrontalitaet auch wutsuechtig werden kann: "Wut kann jemand ein besseres Gefuehl verschaffen, weil sie das Hirn auf rein biologischer Ebene beeinflusst. Wut hat wohl weitgehend diesselbe Wirkung wie Stimulantien, etwa Ritalin oder Dexedrin.: Wut kann traege Hirnregionen beschleunigen. Wir werden diese Theorie in unserem Kapitel ueber Aufmerksamkeitsstoerungen ausfuehrlich eroertern." (S. 187). Das Kapitel wird abgeschlossen mit dem Abschnitt "Andere Formen der Wut" (189-191), etwa durch ganz normale Frustrationen, besonders natuerlich auch gehaeuften oder, paradox anmutend, bei passiven, schwach aktivierten Menschen oder alexithymen: "Gilligan fuehrt erschreckende Interviews mit Moerdern an, die den Vollzug ihrer Morde als etwas beschreiben, mit dem sie versuchten, ueberhaupt irgendwelche Gefuehle zu haben." (S. 190).
Dies zeigt abschliessend erneut und aus ganz anderer Perspektive die enorme Bedeutung des Heilmittels fuehlen.Wer nicht angemessen fuehlen kann, lebt gefaehrlich: aggressiv nach aussen oder autoaggressiv nach innen: wer nicht explodiert, der implodiert (depressiv).
Es sei aber einem Hauptanliegen der AutorInnen das Schlusswort zu diesem
interessanten und gesellschaftlich wie sozialpolitisch relevanten Kapitel
erteilt: "Auch wenn unsere Kultur Vorurteile gegen Psychopharmaka hegt,
haben wir den starken Eindruck, dass Menschen, deren Leben und Funktionieren
durch Medikamente entscheidend verbessert wird, ebenjene Behandlung bekommen
sollten, die sie brauchen ..." (S. 191).
5. Gefangene der Gegenwart: Die leichte Aufmerksamkeitsstoerung (192-233)
Vorbemerkung: Es handelt sich um ein sehr
wichtiges Kapitel, weil AD-H-D bei Erwachsenen erst in den letzten Jahren
staerker ins Bewusstsein rueckt. Vorreiter und Wegbereiter sind hier die
amerikanische Psychiatrie und als PionierInnen verdienen besonders die
Kinder- und JugendpsychiaterInnen und die KinderaerztInnen genannt zu werden.
Durch die Artikel im Nervenarzt 07/98 und im Aerzteblatt vom 14.5.99 koennte
auch Deutschland langsam aus dem Niveau eines ADD-Entwicklungslandes herauskommen.
Kritisch vorweggenommen sei, dass die enormen Probleme der Diagnose, Differentialdiagnose
und Komorbiditaet von den AutorInnen ebenso wenig eroertert werden
wie der Zusammenhang mit der Borderline-Stoerung, die im Sachregister noch
nicht einmal erwaehnt wird.
Zum Problem der Diagnose und Differentialdiagnose siehe bitte hier
"ADD haelt man fuer einen Makel im Aufmerksamkeitssystem,
der es einem Kind oder Erwachsenen erschwert, auf Kommando aufmerksam zu
sein. 'Auf Kommando' ist hier der entscheidende Ausdruck, weil ein Kind
mit ADD zu bestimmen Zeiten hyperfokussieren kann und dies auch tut: es
kann sich an einem Thema oder einer Aktivitaet festbeissen (zum Beispiel
an einem Videospiel) und unfaehig sein, sich davon zu loesen.
Weil ein Individuum von einem Aufmerksamkeitsextrem
zum anderen pendelt, von viel zu wenig Aufmerksamkeit zu viel zuviel, sind
einige Fachleute mit dem Etikett 'Aufmerksamkeitsdefizit' nicht zufrieden
und halten es zu Recht fuer eine Fehlbezeichnung. Das Problem ist eine
Unbestaendigkeit der Aufmerksamkeit und nicht ein absoluter Mangel
an Aufmerksamkeit.
Weniger bekannt ist allgemein, dass ADD-Kinder sich
in mindestens zwei separate Gruppen einteilen lassen: die einen haben ADHD
(attention deficit hyperactivity disorder; Aufmerksamkeitsdefizit- und
Hyperaktivitaetsstoerung), die anderen haben ADD ohne das H (fuer Hyperaktivitaet),
ADHD-Kinder sind die typischen kleinen Jungs, die man als "Wildfaenge"
bezeichnet (auch wenn natuerlich einige dieser Wildfaenge kleine Maedchen
sind): Kinder, die nicht stillsitzen koennen, die mit ihren Antworten in
der Klasse herausplatzen und sich vor den anderen Kindern aufspielen, auf
dem Spielplatz in Streit geraten und lauter schlechte Noten bekommen, obwohl
Eltern und Lehrer wissen, dass sie die besten Noten bekommen koennten.
... Es ist das klassisch hyperaktive Kind, das keiner uebersehen kann.
Uebersehen werden (mitunter) jedoch die Aufmerksamkeitsprobleme,
die das vertraeumte Ebenbild dieses Kindes plagen, das ADD-Kind ohne das
H wie Hyperaktivitaet. Es sind die Tagtraeumer, die Kinder, die man nicht
ans Fenster setzen darf. Sie schauen ruhig hinaus, gehen den Lehrern nicht
auf die Nerven und entziehen sich so der professionellen Wachsamkeit, die
fortwaehrend ueber dem Kopf des laermenden Jungen in der naechsten Reihe
lauert. ...
Es sind haeufig Maedchen, die vielleicht nicht entsprechend
diagnostiziert werden. Es gibt fuenfmal so viele ADD-Knaben wie wie
ADD-Maedchen, doch dies gilt nur fuer diagnostizierte Kinder; kleine Maedchen
koennen durch das Raster fallen. Belegt wird dies dadurch, dass kleine
Maedchen deutlich weniger auf Dyslexie [= Leseschwaeche, RS] diagnostiziert
werden, die oft mit ADD einhergeht. Einige ADD-Theoretiker glauben, dass
sich ADD bei Maedchen aufgrund von Gehirnunterschieden zwischen Knaben
und Maedchen nicht vor der Pubertaet zeigt. Das ruhige kleine Maedchen,
das in der Adoleszenz ploetzlich durchdreht - Essstoerungen, Promiskuitaet
oder ploetzlicher Widerstand gegen die Schule -, kann tatsaechlich ein
Kind sein, bei dem die ADD eben erst zum Durchbruch gekommen ist. ...
Um das Schattensyndrom der ADD zu verstehen, ist es hilfreich, die Stoerung in ihrer ausgepraegten, voll entwickelten Form zu betrachten. Bei einer voll entwickelten ADD leiden die Menschen an einem dreifachen Symptom:
I. Impulsivitaet. ... "Das ADD-Kind kann seine Impulse einfach nicht wie andere Kinder kontrollieren. ... Fuer das ADD-Kind geht es im Leben darum, erst zu schiessen und dann Fragen zu stellen. .... Der Erwachsene mit ungenuegender Selbstkontrolle hat vielleicht gelernt, sich umzusehen, bevor er ueber die Strasse geht, doch er leidet weiter unter uebermaessigem Redefluss. Wenn es ihm in den Sinn kommt, zu seinem Chef zu sagen, er sei ein mieser Typ, so sagt er es; wenn ihm bei einem Ehestreit die Worte 'Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen' durch den Kopf schiessen, so kommen sie heraus.
Voreilige, unueberlegte Handlungen finden ebenso schnell statt, wie seine impulsiven Aeusserungen erfolgen: der ADD-Erwachsene stuerzt sich in Beschaeftigungen, Beziehungen, Projekte und Verpflichtungen, die er ebenso schnell wieder aufgibt. Und natuerlich kann der Erwachsene, der an einem ausgepraegten Syndrom leidet, auch gewalttaetig werden. Bei der ADD-Person ist der ueberlegende, filternde und zensierende Mechanismus, den wir fuer das Funktionieren in der Welt brauchen, beeintraechtigt."
II. Zerstreutheit. ... "ADD-Kinder sind sehr leicht abzulenken; es faellt ihnen schwer, bei einer bestimmten Aufgabe zu bleiben, weil sie durch alles abgelenkt und aus der Bahn gebracht werden." (S. 195)
Nun diese Aussage steht in Widerspruch zu den ersten Ausfuehrungen (oben, zweiter Absatz). Und die gesamte ADD Literatur ist voll von diesen Widerspruechen. Es ist einfach falsch, zu sagen, dass diese Kinder oder Erwachsenen durch alles abgelenkt werden, das stimmt nur fuer den Fall, dass sie selbst kein eigenes Motiv (Lust, Interesse) an einer Sache haben. Und genau diese Betrachtung zeigt, dass es eben keine genuine Aufmerksamkeitsfilterschwaeche sein kann, sondern die beiden wichtigsten Hauptkomponenten dieser Stoerung 1.) in der Impulsivitaet und mangelnden Selbstkontrolle und 2.) in einer motivationalen, affektiven Basisstoerung ungenuegend kontinuierlicher Lust und Interesseproduktion liegen. Bevor sich ueberhaupt eine Befriedigungsreaktion entwickeln kann, ist die ADD-Persoenlichkeit schon wieder zum naechsten Reiz gehuscht, um auch dort nicht genuegend lange zu verweilen. Diese mangelhafte Verweilfaehigkeit wird in der gesamten Literatur viel zu wenig beachtet, nicht genuegend erforscht und deshalb werden auch keine entsprechenden psychotherapeutischen Programme entwickelt.
"Die grosse Zerstreutheit des Erwachsenen mit einer Aufmerksamkeitsstoerung ist vermutlich auch fuer die beiden anderen Kennzeichen des Syndroms verantwortlich: fuer die Muehe des ADD-Erwachsenen, sich zu organisieren, und fuer seine Neigung, alles zu vergessen, was er vor wenigen Augenblicken getan, gedacht oder gesagt hat. Der klassische ADD-Erwachsene lebt wahrscheinlich in einem Wirbel von vergessenen Besorgungen und Verpflichtungen, waehrend er von einer Taetigkeit, Person oder Gedankenreihe zur anderen springt, unfaehig, lange genug bei einer einzigen zu verweilen, um seine Anstrengungen zu einem richtigen Ende zu bringen." (S. 196)
III. "Koerperliche oder geistige Hyperaktivitaet. Koerperliche Hyperaktivitaet ist uns allen vertraut: zum Beispiel bei dem Erwachsenen, der dauernd auf und ab geht, mit einem Bein zuckt, staendig vor sich hinkritzelt oder Fingernaegel kaut. Geistige Hyperaktivitaet, das rauschende, vibrierende Gehirn, ist das innere Korrelat zum Zucken mit den Beinen. Eine hyperaktive Person unterbricht einen fortwaehrend, wechselt im Gespraech das Thema, bevor ein anderer ueberhaupt dazu bereit ist, und kann nachts nicht einschlafen, weil das Hirn immer weiter arbeitet.
Eine weitere Facette der ADD, die noch nicht richtig verstanden wird, zeigt sich schliesslich darin, dass einige der Betroffenen, wenn auch nicht alle, spezifische Maengel in den sozialen Fertigkeiten aufweisen. ... Es ist jedoch auch moeglich, dass die Maengel bei den sozialen Fertigkeiten der ADD-Person primaer und nicht sekundaer sind: dass ein Problem mit der 'sozialen Intelligenz' zum Syndrom hinzugehoert. " (S. 196)
"Die leichteren Faelle (S. 197-199). Im voll entwickelten Fall von ADD koennen die Kernsymptome ein ganzes Leben zersetzen. ... Hyperaktivitaet hat ihre Vorteile: hohe Energie, grosse Begeisterung und die Faehigkeit zur Hyperfokussierung: alles Eigenschaften, die eine Person in gewissen Bereichen in grosse Hoehen entfuehren koennen. Aerzte auf Notfallstationen, risikofreudige Warenterminhaendler, Filmmogule: alle diese Typen zeigen Symptome einer leichten Hyperaktivitaet und viele von ihnen haben vielleicht unterschwellige Formen der Stoerung."
"Die Geschichte einer Therapeutin" (S. 199-201) beschreibt, wie eine sehr begabte Therapeutin allmaehlich Opfer ihrer ADD wurde, weil sie vom Leben und den Stoerungen ihren PatientInnen zu sehr gefesselt wurde und darueber sich selbst und ihr Privatleben aus dem Griff verlor, passiv und depressiv wurde.
"Aufmerksam sein auf die Aufmerksamkeit (S. 201-207). ... Johns Diagnose auf ADD bot Debby eine ganz andere Erklaerung ihres Problemes. Wie die meisten Patienten in der Therapie nahm auch Debby einfach an, dass ihre Depression aus der Kindheit herruehrte. Sie.fuehrte ihre Probleme auf eine unzulaengliche Bziehung zur ihrer Mutter zurueck, einer strengen und kontrollierenden Frau, die sich ganz der Aufgabe verschrieben hatte, ihrer ungestuemen Tochter den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Erklaerung erschien ihr logisch genug; sicherlich hat eine schlechte Beziehung zur eigenen Mutter schon manche depressive erwachsene Tochter hervorgebracht." (S. 202). ... "Nach aussen hin wirkte sie wie jemand, der an einer stupuroesen Depression leidet. Innerlich war ihr Gehirn aber staendig am Mahlen, dauernd auf der Suche nach einem Fokus, einem Punkt der Aufmerksamkeit." (S. 203). ... "Eine ADD-bedingte Depression reagiert jedoch ueberaus empfindlich auf die Umwelt, und zwar so sehr, dass eine depressive Person mit ADD dann, wenn irgend etwas in der Umwelt ihre Aufmerksamkeit erregt, vergessen kann, dass sie noch vor wenigen Minuten depressiv war. Bei Aufmerksamkeitsschwaeche ist die Stimmung aeusserst wechselhaft." (S. 204). ... "Noch schlimmer war, dass die Hyperfokussierungstendenz der ADD-Person sie immer weiter nach unten brachte: sie hyperfokussierte auf ihre eigene Depression und wurde im woertlichen Sinne suechtig nach ihrer Verzweiflung. Besessen von ihrer Depression konnte sie an nichts anderes mehr denken - nicht nur wegen des Leidens, sondern weil eine starke Depression fuer die zersplitterte ADD-Seele ein einzigartig zentrierter Zustand sein kann. Fuer Debby war es so." (S. 205). Nach zwei Monaten mit der Behandlung von Cylert (dt. Tradon) wurde sie geheilt - auch von ihrer Depression. Leider erfahren wir nicht, mit welchen Methoden sie gelernt hatte, mit ADD fertig zu werden (S. 205 unten). Debby hatte 10 Jahre Psychoanalyse hinter sich, von der sie zwar profitieren konnte, aber nicht geheilt wurde (S. 206).
"Was wollen die Frauen (S. 207-210). Hier behandeln die AutorInnen die speziellen Probleme, die sich fuer Frauen mit ADD ergeben. Hier wird besonders auf die Gefahr hingewiesen, sich auf stimulierende, aber nicht tragfaehige Beziehungen zu stuerzen. An dieser Stelle sei hier noch auf ein spezielles Buch zu dem ganzen Komplex Frauen und ADD hingewiesen: Solden, Sari (dt. 1999, orig. 1995). Die Chaos-Prinzessin. Frauen zwischen Talent und Mißerfolg. Woman with Attention-Deficit-Disorder. Forchheim: Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/ Hyperaktivität.
"Die verrueckte Hausfrau (S. 210-213). Wenn wir uns von der Welt des Rendezvous zur Welt des Ehelebens hinwenden, kann sogar ein leichter Fall von ADD eine schwere Belastung fuer die Faehigkeit einer Frau bedeuten, mit der Rolle der Hausfrau und Mutter fertig zu werden ... Der Grund dafuer ist, dass die Frau mit leichter ADD, die mit den Kindern zu Hause bleibt, im Grunde ihre 'Medizin' der starken Stimulierung durch die Aussenwelt aufgegeben hat. Weil jemand mit unbehandelter ADD nicht gut fokussieren kann, entschwindet der ADD-Hausfrau der Fokus; es stellt sich Verwirrung ein, und darauf folgt unweigerlich die Angst. Die Verwirrung naehrt den Zweifel und dieser wiederum die Besorgnis. Ausserdem sind die Ablenkungen, welche die ganztaegige Mutterrolle mit sich bringt, selbst fuer eine Frau mit nur leichter ADD aeusserst schwer zu ertragen." (S. 210f).
Die Biologie des ADD: "Das traege Gehirn" (S. 213-215). ... "Bei der bis heute beruehmtesten neurobiologischen Untersuchung der ADD hat der Forscher Alan J. Zametkin (1990, R. S.) vom National Institute of Mental Health herausgefunden, dass das Problem der Aufmerksamkeitsstoerung im Gehirnstoffwechsel begruendet ist [siehe aber, R. S.]. Interessanterweise widersprechen seine Resultate den ueblichen Erwartungen: in den Frontallappen des Gehirns (derselben Region, die bei den Wutstoerungen beteiligt ist) ist der Gehirnstoffwechsel des Hyperaktiven nicht etwa schneller als bei anderen, sondern langsamer. So stellte man fest, dass bei vielen von den erwachsenen Hyperaktiven, die Zametkin untersuchte, jene Region des Gehirns, die die Aufmerksamkeit, die motorischen Impulse und die Faehigkeit zur Impulshemmung steuert, der Zuckerstoffwechsel um 10 - 12 % langsamer ablief als bei normalen Personen. Zucker ist fuer das Gehirn dasselbe wie das Benzin fuer das Auto. Das Gehirn braucht Energie, um Geist und Koerper konzentriert zu halten. Ohne diese Energie geraten Denken und Handeln ausser Kontrolle. Zametkins Entdeckung erklaert vielleicht, warum Stimulantien wie Ritalin darauf hinwirken, die Symptome der Aufmerksamkeitsstoerung unter Kontrolle zu bringen. Sehr wahrscheinlich sind Ritalin, Dexedrin (Amphetamin, R. S.) und Cylert (dt. Tradon, R. S.) deshalb wirksam, weil sie den Gehirnstoffwechsel beschleunigen. Dies geschieht, indem sie die Spiegel der Neurotransmitter Dopamin und Norepinephrenin hochtreiben - und das erklaert auch, warum sich mit gewissen Antidepressiva auch die ADD behandeln laesst. Norpramin (dt. Pertofran, R. S.), Effexor (dt. Trevilor, R. S.) und Wellbutrin (dt. -, R. S.) - alles Antidepressiva, die auch den Dopamin- und Norepinephreninspiegel beeinflussen - sind ebenfalls anerkannte Behandlungsmittel fuer die Aufmerksamkeitsstoerung. " (S. 214). Manchmal setzen (unerkannte) ADD-Betroffene auch Kokain ein, das bei ADD paradox beruhigend wirkt, was aber auf mittlere und laengere Sicht sehr schlecht, weil es suechtigmachend - aehnlich wie Nikotin - und nebenwirkungsgefaehrlich ist Der Anteil von RaucherInnen ist bei ADD drei mal so hoch wie sonst. "Im Gegensatz dazu hat Ritalin, obwohl es ein vom Gesundheitsministerium registriertes Medikament ist, praktisch keine Suchtwirkung." (S. 215).
"Maenner, Liebe und ADD" (S. 215-217). Dieser Abschnitt geht besonders auf das Problem Naehe und Distanz ein und erkennt besonders bei Maennern eine ADD-bedingte Folgeneigung, emotionale Naehe zu meiden, also ein schizoides Merkmal.
"Der Motorradfahrer mit dem goldenen Herzen" (S. 217-226). "Welchen Grad oder welche Form ein Schattensyndrom annehmen wird, haengt in gewissem Mass von der Erziehung und von der Herkunft einer Person ab. Beim Arbeiterjungen mit ADD, ob leicht oder schwer, wird dies tendenziell anders aussehen als beim Jungen mit der gleichen Hirndifferenz aus der Mittelschicht, weil ihre jeweiligen Kulturen die Probleme und Energien anders kanalisieren." Es folgt eine ausfuehrliche Fallstudie.
"Wall-Street-Cowboys" (S. 227-233). In diesem Abschnitt werden die positiven Auswirkungen der Spontaneitaet, Risikofreude, Begeisterungs-, Hingabe- und Leistungsfaehigkeit beschrieben, wie man mit leichter ADD Millionen machen kann. Die Abgrenzung zur Hypomanie faellt ausserordentlich schwer.
Das Kapitel schliesst: "Das Endstadium der Symptome, das die ADD-Erwachsenen
so gut kennen - die Impulsivitaet, die Zerstreutheit, die Ruhelosigkeit
-, ist ein Geisteszustand, den die meisten ADD-Erwachsenen bei sich selbst
gar nicht als solchen erkennen: sie sind Gefangene der Gegenwart.
..." (S. 232)
6. Autistische Echos (S. 234-302)
Vorbemerkung. Der Begriff "Autismus" stammt von Eugen Bleuler (1911) und galt ihm als ein typisches Symptom fuer die Schizophrenie. Beim Autismus werden - wenigstens - zwei Haupttypen unterschieden, zitiert nach dem schulen- und methodenuebergreifenden Kinder- und Jugendpsychiater Lempp, R. (1991). Vom Verlust der Faehigkeit, sich selbst zu betrachten. Eine entwicklungspsychologische Erklaerung der Schizophrenie und des Autismus. Bern: Huber, S. 95f. : (1) Das Kanner-Syndrom (1943) mit den Merkmalen: (1.1) hochgradige Abkapselung aus der Umwelt, (1.2) aengstlich-zwanghaftes Beduerfnis nach Gleicherhaltung der Umwelt, (1.3) Stoerungen der Intelligenzentwicklung, (1.4) Stoerungen der Sprachentwicklung. (2) Das Asperger-Syndrom (1944) mit den Merkmalen: (2.1) gute bis ueberdurchschnittliche Intelligenz, (2.2) eine weniger hochgradige Beziehungsstoerung, (2.3) fruehzeitige Sprachentwicklung, grosser Wortschatz und originelle Wortschoepfungen, (2.4) die Faehigkeit zu abstrahieren und logisch zu denken, (2.5) oft uebermaessige und intensive Sonderinteressen, (2.6) qualitativ andere Emotionalitaet und ein disharmonisches Gemuet, (2.7) Gefahr, durch absonderliches Verhalten, insbesondere durch ueberschiessende Aggressionen und unangemessenes Verhalten in Isolation zu geraten. Lempp (S. 96) sagt hierzu: "Die beiden zunaechst scheinbar unterschiedlich beschriebenen Krankheitsbilder, die aber unabhaengig voneinander unter dem Begriff des Autismus zusammengefasst wurden, lassen sich bei naeherer Pruefung durchaus parallelisieren. Es zeigte sich im Laufe der Zeit sehr bald, das Leo Kanner offenbar die schweren Formen mit einer niedrigen Intelligenz beschrieben hatte, wogegen Asperger die leichteren Formen mit einer normalen oder gar uebernormalen Intelligenz als autistische Psychopathie zusammengefasst hat." Andere Psychiater - wie z. B. Peters im Woerterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie - trennen wie das DSM oder der ICD klar zwischen Autismus (Kanner-) und Asperger-Syndrom (urspruenglich "autistische Psychopathie").
Heiratsfaehige Autisten: "In den achtziger Jahren fuehrten Ritvo und seine Kollegen Anne M. Brothers, B. J. Freeman und Carmen Pingree eine epidemiologische Untersuchung ueber alle autistischen Personen durch, die damals im Staat Utah lebten. Das Ziel der Untersuchung lag darin, nach Faktoren zu suchen, zum Beispiel vorgeburtlichen Einfluessen, einem Gehirntrauma usw., die als moegliche Ursachen fuer Autismus in Frage kamen, sowie das Risiko fuer Familien mit einem autistischen Kind im Hinblick auf ein zweites oder drittes Kind abzuschaetzen. Bei diesen Gespraechen mit den Eltern autistischer Kinder stiessen sie jedoch auf ein unerwartetes Ergebnis: einige dieser Eltern wirkten selber autistisch. Einige flatterten mit den Haenden, wiegten den Koerper hin und her oder gingen auf Zehenspitzen, andere waren sozial isoliert, und zwei von ihnen erklaerten offen heraus, sie seien genauso autistisch wie ihre Kinder. Wie sich herausstellte, waren sie es tatsaechlich. Unabhaengige Untersuchungen durch andere Diagnostiker bestaetigten die Diagnose des Autismus bei elf Elternteilen - bei neun Vaetern und zwei Muettern. Waehrend heute die Vorstellung eines autistischen Elternteils vielleicht nicht so aussergewoehnlich erscheint, war der Gedanke noch vor wenigen Jahren revolutionaer. Ritvo stellte danach fest: 'Wenn Sie mir vor 10 Jahren gesagt haetten, es gebe autistische Menschen, die verheiratet sind und Kinder haben, dann haette ich geantwortet: 'Sie sind verrueckt, die leben doch alle in Anstalten.' Nach der Untersuchung von Utah aenderte er jedoch seine Ansicht: 'Wie bei den meisten Krankheiten scheint es auch eine leichte Form des Autismus zu geben, die im Erwachsenenalter mit Ehe, Elternschaft, befriedigender Heterosexualitaet und beruflicher Leistung vertraeglich ist.'" (S. 238) Damit ist das Schattensyndrom des Autismus eingefuehrt, das allerdings im Grunde schon durch Asperger (1944) angelegt wurde, aber im engeren Sinne auch wiederum nicht zum Autismus gezaehlt wird. Wie schon mehrfach kritisiert, zieht sich das babylonische Begriffschaos wie ein roter Faden durch die nun gut 200 Jahre alte moderne Psychiatrie.
"Zur Zeit herrscht das klassische Schattensyndrom
des Autismus unbestreitbar bei Maennern vor." Sie sind eigenwillige, unkonventionelle,
unangepasste, beziehungsarme Aussenseiter. "Technikertypen haben
diese Eigenschaft laengst bei sich entdeckt. ... Auch die Verbindung zwischen
dem Autismus und der Computerwelt ist nicht unbeachtet geblieben. Das Magazin
Time
brachte einmal einen Artikel, in dem Bill Gates [der Gruender der Firma
Microsoft] mit der beruehmten autistischen Gelehrten Temple Grandlin verglichen
wurde (zu den autistischen Eigenschaften, die ueber Gates mitgeteilt wurden,
gehoerten das Wiegen des Oberkoerpers, ein staendiges Wippen, die Vermeidung
des Blickkontaktes und die mangelnde soziale Faehigkeit, sich an einem
Gruppengespraech zu beteiligen)." (S. 239).
Menschen mit jedem Grad von Autismus seien ueberempfindlich
fuer Reize und ertragen Veraenderung oder Spontaneitaet nur schlecht. (S.
240).
"Autistische Echos" (S. 241-254). "Aaron, der mit 34 Jahren noch mit keiner Frau geschlafen hat, ist jemand, den kein ueblicher Diagnostiker fuer autistisch halten wuerde. Zum einen ist er viel zu erfolgreich, um irgendwie als kognitiv beeintraechtigt zu gelten. ... Er ist ein angenehmer Gespraechspartner, und der Ausdruck in Tonfall und Stimme ist korrekt." Das einzige Symptom, das bei ihm auffiel, ist seine Kontaktlosigkeit, die aber ebenso gut zu vielen anderen Syndromen gehoeren kann. Es ergab sich dann noch, dass Aaron nicht tanzen konnte und sich hier nur einiges ueber das gefuehrte Bewegungslernen aneignen konnte. Ratey entwickelte hieraus die Hypothese, dass Autisten grundlegende Probleme mit der Bewegungskoordination haetten, also muesste diese Stoerung im Kleinhirn nachweisbar sein (wird im naechsten Abschnitt noch ausfuehrlicher dargestellt). Nachahmen, beruehren, einfuehlen, erleben und bewerten wie andere werden als naechste autistische Merkmale genannt. Es folgt die Postulierung eines Hanges zur Woertlichkeit und konkreter Interpretation. Autisten koennten nicht luegen und andere taeuschen und deshalb - eine seltsame Behauptung - koennten sie sich auch nicht verlieben. (S. 252). "Was Aaron jedoch letztlich nur zu einem autistischen 'Echo' macht statt zu einer wirklich autistischen Person, die in extremem Masse hochfunktional ist, ist wohl der Umstand, dass er sein Verhalten weitgehend korrigieren kann. Er besitzt tatsaechlich eine gewisse Faehigkeit, sich selbst so zu sehen, wie andere ihn sehen." (S. 254). Mir wird in diesem Abschnitt nicht klar, weshalb Aaron nicht "einfach" eine schizoide Persoenlichkeit sein kann und ein Bespiel fuer ein autistisches Schattensyndrom sein soll. Zu den differentialdiagnostischen Problemen mit den Schizoiden siehe bitte unten "Scheue Gorrilas".
"Die Kleinhirnverbindung" (S. 254-261; siehe
auch unten "Nochmals ..."). "Obwohl die neurologischen Zusammenhaenge bisher
noch nicht ganz verstanden werden, haben unabhaengige wissenschaftliche
Untersuchungen von Margaret Bauman (Massachusetts General Hospital und
Harvard Medical School) und Eric Courchesne (UCLA San Diego) zwei fuer
den Autismus ueberaus wichtige Hirnregionen ausfindig gemacht: den Hippocampus
und das Kleinhirn. Ueberraschend ist dabei der Anteil des Kleinhirns, weil
man es bisher als die Region ansah, die fuer die physische Koordination
zustaendig ist. (Der Hippocampus, ein Bestandteil des limbischen Systems
oder des 'Riechhirns', verarbeitet bestimmte Formen des Gedaechtnisses,
eine Faehigkeit, die offensichtlich vom Autismus betroffen ist. Auf Magnetresonanzbildern
des Gehirns von austistischen Menschen hat Courchesne entdeckt, dass 88
% seiner Patienten eine Hypoplasie des Kleinhirns aufwiesen: das
heisst, das der autistischen Person ist deutlich kleiner als das Kleinhirn
einer normalen Person. Bei den uebrigen 12 % fand er eine Hyperplasie des
Kleinhirns: das Kleinhirn war zu gross." (S. 254). Courchesne (1994) erklaert
hierzu: "Fuenfzig Jahre lang hielt man den kindlichen Autismus fuer eine
Stoerung der hoechsten Formen der mentalen Funktion des Menschen. Die merkwuerdigste
unter allen Theorien der letzten fuenfzig Jahre ueber den kindlichen Autismus
ist vielleicht jene, die zwischen Kleinhirn und Autismus eine Verbindung
annimmt." (S. 255).
"Die Frage lautet: Wie bringt ein Mangel in dem
Teil des Gehirns, der die physische Koordination steuert, die unglaublich
vielfaeltigen und komplizierten Maengel in der Sozialisation, Kommunikation
und Imagination (die Wingsche Trias nach Lorna Wing, der britischen Autoritaet
in Sachen Autismus) hervor, die wir bei autistischen Menschen beobachten?"
(S. 255). Courchesne fand, dass es Autisten schwer faellt, ihre Aufmerksamkeit
rasch von einem Gegenstand auf einen anderen ueberzuleiten. Dies koennte
die Schwaeche autistischer Menschen erklaeren, eine Ganzheit oder Wahrnehmungsgestalt
zu bilden. "Das durch ein traeges Kleinhirn behinderte autistische Kleinkind
ist dazu nicht in der Lage ... Wenn die Gegenstaende nur bruchstueckhaft
in seinen Kopf gelangen, kann es nicht lernen, was es ueber sie eigentlich
lernen muesste. Ebenso wenig kann es das Notwendige ueber die Menschen
lernen, die ja ebenfalls nur bruchstueckhaft seinen Geist erreichen. Und
natuerlich kann sich dieselbe schaedigende Sequenz auf alle Formen der
Aufmerksamkeit auswirken: die auditive, taktile und visuelle. Auf diesem
Defizit beruhen Courchesne zufolge viele typische Eigenschaften des Autismus:
das Beduerfnis nach Selbigkeit und immer gleichem Ablauf, das stark eingeschraenkte
Interesse, die repetitiven Verhaltensweisen. Sie alle koennten Strategien
sein, um die Welt so lange anzuhalten, bis die autistische Person ein kohaerentes
(zusammenhaengendes, R. S.) Bild von ihr formen kann. Fuer das autistische
Kleinkind finden die Entwicklungsvorteile, die sich aus einem intakten
Aufmerksamkeitsapparat ergeben - die Faehigkeit, andere nachzuahmen, Rollen
zu uebernehmen, Phantasiegebilde zu schaffen und sie mit anderen zu teilen
- nicht statt. Das Kleinkind, das mit 15 Monaten die Aufmerksamkeit nicht
teilen kann, wird schliesslich zu einem Vierjaehrigen heranwachsen, der
die Absichten, welche dem Spielgefaehrten ins Gesicht geschrieben sind,
nicht deuten kann." (S. 258).
Bewegungsunbeholfenheiten, Takt- und Rhythmus- und
Gleichgewichtsprobleme, die von PatientInnen mit schizoider Anmutung geaeussert
werden, sollten auf die Frage Autismus aufmerksam machen.
Es folgt eine Fallbeschreibung: "Der Mann mit dem Geheimnis" (S. 262-265) und, als Partnerschaftsfallbeschreibung ergaenzt "Eine Ehe mit dem Segen der Kirche" (S. 265-268) was im Abschnitt "Liebe und Ehe" (S. 272-281) fortgesetzt wird. Dan und Susan erfahren nach 29 Jahren Ehe, dass Dan autistisch sein soll. "Heute gibt es voll ausgepraegte Autisten, die ihre Diagnose zum ersten Mal im mittleren Alter erfahren. Auf viele kann es wie ein fuchtbarer Schock wirken." (S. 262). Und weil das so ist, weil Menschen und ihre Naechsten durch eine solche Diagnose entwurzelt und aus der Bahn geworfen werden koennen, meine ich, sollte hier ein besonders solides Fundament, eine besonders solide Diagnostik und Differentialdiagnostik zur Verfuegung stehen, - die ich allerdings nicht sehen kann: ein berufsethisch schwieriges Gebiet.
"Geistesblindheit" (S. 269-272). "Ein Grundsatz der Paarberatung besagt, dass Ehepartner nicht lesen koennen, was im Kopf des anderen vor sich geht. Gewoehnlich sind die Ehefrauen das Ziel dieser Moralpredigt: es sind die Ehemaenner (seien wir ehrlich), die in der Abteilung Empathie anscheinend so oft versagen. Die Frauen moechten, dass ihre Maenner intuitiv erfassen, was sie brauchen, dass die Maenner erkennen, was die Frauen fuehlen und denken, ohne dass sie nachfragen muessen oder dass man es ihnen sagt." (S. 269). Die Faehigkeit, in anderen zu "lesen", soziale Situationen zu erfassen, ist beim Autismus empfindlich geschwaecht. "Ein extrem funktionaler Autist ... berichtet uns, dass er bis heute nicht sagen kann, wann er in einem Gespraech an der Reihe ist. Intelligent genug, um an einer der wichtigen Hochschulen einen Abschluss im Hauptfach Mathematik zu machen, erkennt er nicht, wann der andere bereit ist, das Feld zu raeumen. Er ist 'geistesblind'; er kann die Gedanken der anderen nicht lesen." (S. 269). "Das Down-Kind, das 'normale' zurueckgebliebene Kind, kann sich zurecht legen, was eine andere Person denkt. Das autistische Kind kann es nicht." (S. 271).
"Nochmals zur Kleinhirnverbindung: Ham Nash" (S. 281-289). "Ham Nash suchte als sechzigjaehriger Mann, der seit vierzig Jahren depressiv war, John auf. Wegen seiner Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit hatte man bei ihm vor zwei Jahren die Diagnose einer Aufmerksamkeitsstoerung (ADD) gestellt ... Allerdings hatte die Diagnose und die anschliessende Selbsterziehung nicht so viel geholfen, wie er sich erhofft hatte. Er war nach wie vor depressiv, konnte sich nicht konzentrieren und stritt mit seiner Frau ... Er hasste gesellschaftliche Konversation, und ohne Alkhol (mit dem er einige Jahre zuvor aufgehoert hatte) war er dazu auch nicht in der Lage. Hams Therapeuten, von denen es schon viele gegeben hatte, hielten ihn fuer einen unverbesserlichen Narzissten. ... Der Augenblick der Erleuchtung trat ein, als Ham von sich aus auf das Thema 'Gleichgewicht' zu sprechen kam" (S. 282) ... "Die Moeglichkeit, dass Hams Vestibularsystem ein Problem darstellen koennte, brachte John auf eine neue Idee : er verschrieb das Medikament Antivert (dt. Peremesin, R. S.), um zu sehen, was passierte. Fuer seinen Patienten waren die Ergebnisse voellig verblueffend. Mit Antivert, einem Medikament gegen Gleichgewichtsstoerungen (zum Beispiel bei Patienten mit Mittelohrentzuendungen oder bei aelteren Menschen mit chronischen Gleichgewichtsstoerungen angewandt), verschwand Hams seit vierzig Jahren andauernde Depression auf einmal praktisch ueber Nacht." (S. 383f). Ham hatte keine Freunde, war sehr geraeuschempfindlich, wiegte den Oberkoerper, kruemmte die Finger, sang leise vor sich hin, flatterte manchmal mit den Haenden. "Er tat dies, um die Spannungen zu loesen, ...". "'Was kann man bei einem Schattensyndrom des Autismus tun?' Nach der herkoemmlichen Auffassung ueber den Umgang mit dem klassischen Autismus gab es keine Medikation fuer den Autismus als solchen. Die Kliniker konnten zwar einzelne Symptome medikamentoes behandeln: Hyperaktivitaet, Stimmungsprobleme, Stimmungsausbrueche. Fuer den Autismus als durchgaengiges Syndrom gab es jedoch nichts. Im allgemeinen gilt diese Meinung auch heute noch, selbst wenn inzwischen die Ansicht aufkommt, dass unter allen dem Arzt verfuegbaren Medikamente die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI: Prozak [dt. Fluctin, R.S.], Paxil [dt. Tagonis, R. S.] , Zoloft und Luvox [dt. Fevarin, R. S.] ) plus Anafranil (ein trizyklisches Antidepressivum, hochwirksam bei Zwangskrankheiten) fuer die Behandlung autistischer Patienten in Frage kommen. Prozak beseitigt den Autismus zwar nicht so, wie es Depressionen beseitigen kann, aber es ist oft eine Hilfe. Eine leicht autistische Person, die einen SSRI einnimmt, kann dann viel weniger zwanghaft, aengstlich und depressiv sein. weniger 'geraeuschvoll' (Wir sollten hinzufuegen: seit seiner Einfuehrung in den USA ist das atypische Neuroleptikum Risperidone [dt. Risperdal, R. S.] auch bei der Behandlung von schweren Autismusfaellen beliebt, besonders bei Schlaf- und Aggressionsproblemen ...)". (S. 287f). "Leider hat noch niemand eine 'intelligente Pille' entwickelt, die Pille, auf die so viele warten: die Pille, welche die Kognitions- und Wahrnehmungsdefizite bei leichtem oder schweren Autismus behandelt." (S. 288).
Schizoidie und Autismus: "Scheue Gorillas" (S. 289-297).
"Den Autismus hielt man lange Zeit fuer eine seltene Stoerung, doch heute
waechst die Ueberzeugung, das er keineswegs selten ist. Relativ selten
ist zum Glueck die klassische schwere Form des Autismus, welche die Betroffenen
zu einem Leben der Abhaengigkeit in Anstalten und Heimen verurteilt. Leichtere
Formen von Autismus finden sich unter uns wohl in betraechtlicher Zahl.
Sicherlich ist Silicon Valley voll von moeglichen Kandidaten fuer eine
solche Diagnose ... Doch abgesehen von den Microsoftsklaven gibt es auch
eine formale psychiatrische Kategorie, die aller Wahrscheinlichkeit nach
eine Untergruppe des Autismus darstellt: die sogenannte schizoide Persoenlichkeit.
Fuer den Kliniker kann das, was tatsaechlich Autismus ist, vielleicht wie
eine schiozoide Persoenlichkeitsstoerung aussehen und als solche
diagnostiziert werden. So wie bei autistischen Kindern viele Jahre lang
'Kindheitsschizophrenie' diagnostiziert wurde, werden heutzutage
wohl hochfunktionale autistische Erwachsene irrtuemlicherweise als 'schizioide
Persoenlichkeit' diagnostiziert. Psychiater halten einen Menschen mit schizoider
Persoenlichkeitsstruktur fuer jemanden, der auf halbem Weg zur Schizophrenie
ist." (S. 289f). Diese Auffassung ist mir neu, ich kenne diese Meinung
- im Grunde ein Fehlurteil - nur von psychopathologischen Laien. Nach meinen
eigenen Forschungen entwickeln sich Schizophrenien auf allen Charakter-
oder Persoenlichkeitsstrukturen. Empirisch ist daher Schizoidie keine praemorbide
Bahnungskomponente fuer eine Schizophrenie.
Die Gleichheit heischenden Namen schizophren und schizoid
oder
auch schizothym sind ein terminologischer Kunstfehler und stiften
nur Verwirrung.
Schizoidie und Fuehlen. Nach meinen Erfahrungen und Untersuchungen zur schizoiden Persoenlichkeit (ich habe einen Test nach den Fritz Riemann Kategorien 1981 konstruiert und einige tausend Erhebungen gemacht) ist der schizoide Mensch keineswegs gefuehlskalt oder gefuehllos. Im Gegenteil, erstens: Schizoide koennen extrem erlebnis- und gefuehlsintensiv sein (wie unsere schizoiden KuenstlerInnen und DichterInnen ja eindrucksvoll belegen). Was sie von anderen Menschen in diesem Merkmalsbereich unterscheidet, ist, dass ihre innere Gefuehlsintensitaet nicht nach aussen sichtbar wird. Schizoide, zumindest im Riemann'schen Sinne, koennen innerlich regelrechte emotionale Feste feiern und wirken aeusserlich voellig unberuehrt. Ergo: man darf - beim Schizoiden - nicht von aussen nach innen schliessen. Das macht Therapie mit Schizoiden oft sehr schwer, weil man extrem viele Moeglichkeiten hat, ins Fettnaepchen zu treten, weil das Ausdrucksfeedback fehlt oder nur sehr distinguiert erscheint. Hier ist eine gute Theorie und Erfahrung neben gesteigerter empathischer Wachsamkeit sehr nuetzlich. Das zweite wichtige Merkmal der Emotionalitaet Schizoider ist m. E. - und das ist eine formal-strukturelle Analogie zur Aufmerksamkeitsschwankung bei ADD - dass Schizoide ihre Gefuehle sehr stark herunterfahren und beherrschen koennen. Runterfahren und beherrschen ist aber etwas ganz anderes als gefuehlskalt oder gefuehllos. Wie die ADD-Persoenlichkeit SEHR und lange aufmerksam sein kann, wenn sie Lust und Interesse hat, so kann die schizoide Persoenlichkeit SEHR intensiv fuehlen, wenn ihr danach ist. Und wie die ADD-Persoenlichkeit ganz ploetzlich aufhoeren kann, aufmerksam zu sein, so kann die schizoide Personelichkeit ganz ploetzlich ihren Gefuehlsstrom herunterfahren und unterbrechen.
"Scheue Gorillas und die Theorie der 'Zentralkohaerenz'" (S. 297-302). "Scheue Gorrilas sind brillante Individuen; ihre IQs sind aussergewoehnlich hoch. Haeufig haben sie einen Erfolg, der weit ueber dem liegt, was Eltern und Lehrer angesichts ihrer Isolation und Aengstlichkeit vorhergesagt hatten. ... Die Kollegen akzeptieren den scheuen Gorilla deshalb, weil er uns anderen etwas Entscheidendes voraus hat: er ist von seinem selbstgewaehlten Interesse besessen. In dieser wie in so mancher Hinsicht ist der scheue Gorilla doch eher autistisch: alle diese Menschen (Mathematiker, Professoren, NASA-Ingenieure, Microsoft-Knechte ...) demonstrieren auf ihre Art die beschraenkten Interessen ihrer im klassischen Sinne autistischen Verwandten." (S. 297). "Vor kurzem haben britische Theoretiker eine Erklaerung entwickelt, warum dies so ist: ihrer Ansicht nach leidet ein Autist an der mangelnden Faehigkeit, die Wahrnehmungswelt zu vereinheitlichen. Statt die Welt als Welt zu sehen, das Zimmer als Zimmer oder den Teppich als Teppich, sieht er die Welt in Stuecken. Ein normaler Menschen fuegt seine Wahrnehmungswelt automatisch und unbewusst zu Ganzheiten zusammen. Wir sehen ein Gesicht und nicht Nase, Mund und zwei Augen. Wir lesen eine Geschichte und keine Ansammlung von Saetzen. Wir erleben eine Gestalt. Wir koennen nicht anders." (S. 298). "Die neuropsychologische Arbeit der britischen Forscher zur Zentralkohaerenz (die Theorie wurde zuerst von Uta Frith vorgetragen) ist aufregend, weil sie sehr genau mit der neurologischen Forschungsarbeit von Eric Courchesne korreliert. ... Die Langsamkeit der Aufmerksamkeitsverschiebung bei Autisten fuehrt dazu, dass der Autist das Leben als eine Reihe von Standbildern erlebt ... . Die aufgenommenen Sinnesdaten fuegen sich bei ihm im Gedaechtnis nicht zu einem einheitlichen Ganzen zusammen." (S. 299). "...auch wenn ein Autist Ganzheit viel schlechter erfasst als ein normaler Mensch, ist er oft viel besser, wenn es darum geht, die Bestandteile zu erkennen. Bei Tests mit versteckten Figuren, wo von einem Kind verlangt wird, auf einem Bild eine verborgene Figur zu finden, schneiden autistische Kinder weitaus besser ab als normale Kinder; haeufig uebertreffen sie sogar die Versuchsleiter." (S. 300).
Nun, die AutorInnen teilen einige interessante Ideen
und Forschungsergebnisse mit. Man sieht auch bei diesem Kapitel recht eindrucksvoll,
dass die Psychopathologie immer noch mit elementaren terminologischen,
methodologisch-operationalen Grundproblemen zu kaempfen hat. Unveraendert
gilt das Statement des - inzwischen emeritierten - Kinder- und Jugendpsychiaters
G. Nissen von 1976, S. 381: "Seitdem Asperger und Kanner in den Jahren
1943/44 unabhaengig voneinander ihre Beobachtungen ... mitteilten
... ist eine fast unuebersehbare Literatur und Kasuistik ueber autistische
Kinder entstanden und ihrem Gefolge eine babylonische Sprachverwirrung."
7. Die verborgene
Epidemie: (S. 303-367)
Stoerungen durch Aufmerksamkeits-"Ueberschuss"
Schattenformen der Zwangskrankheit, der Sucht und der Angst
"Waehrend manche in den bisherigen Kapiteln beschriebenen Schattensyndrome durch einen Mangel an Aufmerksamkeit in dieser oder jener Form gekennzeichnet sind, ist es auch durchaus moeglich, dass man einem Gegenstand zu viel Aufmerksamkeit schenken kann: Man kann von einem Gedankengang oder Verhaltensmuster so gefesselt sein, das man nicht mehr davon loskomt. Genau dies geschieht bei den klassischen Formen der Zwangskrankheit [obsessive-compulsive disorder]." (S. 303). Der Ausdruck "gefesselt" passt nicht so recht. "Die zugrundeliegende Empfindung ist bei diesen Stoerungen, die natuerlich in ihrem Erscheinungsbild, als Verhaltensmanifestationen, recht verschieden sind, sehr aehnlich, ob man nun an einer Zwangskrankheit leidet, an einer Sucht oder an einer Angststoerung: Die Aufmerksamkeit ist von einer toedlichen Umklammerung gepackt und gefesselt. Wer an einer solchen Stoerung leidet, kann das Gefuehl haben, dass es keinen Ausweg mehr gibt." (S. 304). Nun ja, ganz so dramatisch ist es - vor allem bei den milderen Schattensyndromen - nicht. Dies bestaetigt auch der auf S. 308 mitgeteilte Befund von Eric Hollander (1992): "Eine statistische Untersuchung von Mitgliedern der OCD Foundation ergab, dass sie vom Beginn der Symptome bis zur Verschreibung einer wirksamen Behandlung im Durchschnitt 17 Jahre warten mussten." Voellig falsch ist auch die These, dass Judith Rapoport "zum ersten Mal in ihrem Buch von 1989, Der Junge, der sich immer waschen musste, weltweit auf die Zwangskrankheit aufmerksam" machte. Zur Zwangskrankheit gibt es seit ueber 100 Jahren eine vielfaeltige und unuebersehbare Literatur. So war der Psychotherapeutenkongress 1930 in Baden-Baden ausschliesslich dem Thema der Zwangsprobleme gewidmet. Auch die Problematik der Unterscheidung zwischen Phobie und Zwang und die gemeinsame Wurzel der Angst ist uraltes psychiatrisches Gedankengut und wurde schon von Kraepelin verkuendet (zitiert nach H. F. Hoffmann 1934, S. 2). Ein bisschen aergerlich ist auch, dass kein differenzierender Hinweis auf den Unterschied zwischen Zwangskrankheit (Zwangsneurose) und zwanghafter Persoenlichkeitsstoerung erfolgt, wodurch leider ein wenig - wenn auch sicher unbeabsichtigt - die veralteten psychoanalytischen Irrlehren zu den Zwangsstoerungen unterstuetzt werden (z. B. Hoffmann & Hochapfel 1995). Dafuer raeumen die AutorInnen mit einigen ueberholten epidemiologischen Vorurteilen auf, wenn sie mitteilen, dass die Zwangskrankheit 3,6 % der Gesamtbevoelkerung (USA) betreffe (S. 307) und damit haeufiger vorkomme als Asthma oder Diabetes.
"Die klassische Form der Zwangskrankheit" (S. 307-310). "Die
Zwangskrankheit kann ernsthaft behindern, und sie tut es auch: Menschen,
die daran leiden, koennen jede Faehigkeit verlieren, eine Berufslaufbahn
einzuschlagen oder auch nur eine anspruchslose und untergeordnete Beschaeftigung
zu uebernehmen sowie wichtige persoenliche Beziehungen herzustellen und
aufrechtzuerhalten. Der Grund, weshalb eine so haeufige und so behindernde
Krankheit so lange Zeit unerkannt bleiben konnte, haengt, wie wir noch
sehen werden, mit der Eigenart der Zwangskrankheit zusammen. An dieser
Stelle muss der Hinweis genuegen, dass Menschen mit einer Zwangskrankheit
fast nie den generellen Eindruck vermeiden koennen, dass ihre Zwangshandlungen
und Zwangsgedanken irrational, falsch oder 'verrueckt' sind. Oft schaemen
sich die Betroffenen ueber ihr Verhalten. Deshalb verheimlichen sie ihren
Aerzten auch die Symptome und klagen statt dessen ueber Depression oder
Angst." (S. 308).
"Die Zwangskrankheit ist keine Krankheit, die sich durch Einfuehlung
leicht begreifen laesst. Dennoch gibt es bei uns allen denselben Schaltkreis,
der bei der Zwangskrankheit versagt, und dies ist auch der Ausgangspunkt.
Was bei der Zwangskrankheit geschieht - was fortwaehrend geschieht, immer
und immer wieder, ohne ein absehbares Ende - , ist genau das, was geschieht,
wenn wir das Gefuehl haben, einen Fehler begangen zu haben. Die Schaltung
in unserem Gehirn ist darauf eingerichtet, Fehler zu entdecken; wir koennten
in der Welt nicht funktionieren, wenn wir diese Faehigkeit nicht besaessen.
... Fuer die meissten von uns ist dieses 'Fehlergefuehl' - wie die Biologie
des Gehirns zeigt, ist es in der Tat ein Gefuehl - aeusserst unbehaglich."
... "Der Schluessel zur Erfassung der Zwangskrankheit liegt darin, zu verstehen,
dass das Gehirn so strukturiert ist, dass es uns den Zwang fuehlen
laesst, unsere Fehler zu korrigieren." (S. 309f) ... "Die Fehlerkorrektur
hat keinerlei Wirkung auf das Fehlergefuehl. Im Grunde macht die Fehlerkorrektur
das Fehlergefuehl nur noch staerker."
"Die Person mit Anfluegen von Zwangskrankheit" (S. 311-314). "Bei jemandem, der an einer Zwangskrankheit im klassischen Sinne leidet, sagt ein Teil seines Gehirns noch in der Umklammerung durch die schlimmsten Zwangsgedanken weiterhin: 'Das ist nicht real. Ich will das gar nicht tun'." (S. 311). An dieser Stelle muss kritisch gefragt werden, ob die Bewusstheit eines Motivs, das gewoehnlich als ichfremd erlebt wird, "Zwangsgedanke" heissen soll. Diese begriffliche Schlamperei ist allerdings nicht den AutorInnen, sondern der gesamten Psychiatrie anzulasten, die im Kontext Zwang schon immer solche irrefuehrenden und ungenauen Bezeichnungen verwendet. Das ist im Alltag und in der psychotherapeutischen Praxis in Ordnung, dort muss man sprechen, wie den PatientInnen der Schnabel gewachsen ist oder so, dass sie einen verstehen, aber in der Wissenschaft sind solche Schlampereien und Ungenauigkeiten fatal und untragbar. Die AutorInnen fuehren dann den nuetzlichen Begriff des "Beobachterselbst - jener Teil des Patienten, der unter der Zwangskrankheit alles Uebrige an ihm betrachtet" (S. 311) ein und schlagen damit ein sinniges Heilungskriterium vor: "Sobald jemand die Trennung zwischen dem Beobachterselbst und seiner Krankheit verliert, leidet er definitionsgemaess nicht mehr unter Zwangskrankheit." (S. 312)
"Scanner" (S. 315-322). Scanner suchen unablaessig nach Anzeichen einer Stoerung. Im Grunde sind damit Hypochonder gemeint. Der Abschnitt bringt ein Fallbeispiel.
"Gesellschaftliche 'Scanner': Das Unbehagen in der Kultur" (S. 322-329). "Soziale Scanner" gruebeln nach und reagieren auf soziale Gefahren und soziale Verstoesse. Im Grunde wird hier die Sozialphobie nur mit einem neuen Ausdruck belegt.
"Angstsyndrome und Schatten-Zwangskrankheit" (S. 330-333). "Heute ist Lou fuenfzig Jahre alt, und seine Angst, sich in der Offentlichkeit zu beschmutzen, hat ihn 37 Jahre fest im Griff." (Ein Idiot von Lehrer hatte ihn in eine traumatisch-blamable Situation gebracht). Hier wird der Zusammenhang zwischen Zwang und Phobie mit einem eindrucksvollen Fallbeispiel sehr anschaulich dargelegt.
"Zusammenschluss des Gehirns" (S. 333-339) "Die Biologie der
Zwangskrankheit ist inzwischen gut erforscht." ... "Auch wenn bei
der Zwangskrankheit immer drei Hauptregionen des Gehirnschaltkreises beteiligt
sind, scheint der primaere Kausalfaktor doch in einer einzigen Region zu
liegen: im Nucleus caudatus [Schweifkern]. Jede Beschaedigung dieses Nucleus
caudatus, sei es aufgrund 'schlechter Gene', einer Kopfverletzung oder
gar einer Auto-Immunattacke gegen die Region, kann zur Zwangskrankheit
fuehren. Eine Beschaedigung der beiden anderen Regionen, die bei der Zwangskrankheit
beteiligt sind, des Gyrus cinguli und des Oribitalkortex, wird zwar Probleme
verursachen, aber nicht per se zur Zwangskrankheit fuehren.
Der Nucleus caudatus ist nach der Analogie von Schwartz im Grunde die
automatische Uebertragung der Denkprozesse im Gehirn: er ist jener Teil
des Gehirns , der den glatten leichten und 'natuerlichen' Fluss des Denkens
ermoeglicht. Wie dies genau vor sich geht, ist nicht klar, doch kann eine
Analogie mit der Chorea Huntington helfen, um anschaulich zu machen, was
im Gehirn des Zwangskranken geschieht. Bei der Chorea Huntington ist der
'Zwilling' des Nucleus caudatus, das Putamen, das fuer die Koerperbewegung
dasselbe leistet wie der Nucleus caudatus fuer das Denken: das Putamen
ermoeglicht uns, den Koerper automatisch und zweckmaessig zu bewegen, ohne
Denken oder Aufmerksamkeit. Nucleus caudatus und Putamen liegen im Gehirn
zusammen und bilden zusammen das Striatum. Bei der Chorea Huntington ist
das Putamen zerstoert, aehnlich wie bei der Zwangskrankheit der Nucleus
caudatus irgendeinen Schaden davongetragen hat." (S. 334) Es folgt eine
zweifelhafte Theorie von Schwartz, wonach die Signalauswertung (Pfoertnerfunktion)
bei der Zwangskrankheit auf der Ebene des Denkens verloren gegangen
sein soll. Man erinnere unsere Kritik oben, dass es sich oft um gar
keine Zwangsgedanken, sondern um die Bewusstheit von Zwangsmotiven
handelt. Ich habe vergessen abzuschliessen, ist ein Zwangsgedanke.
Aber: Ich spuere den Wunsch [Impuls], meine [heiss geliebte] Katze zu
erwuergen, ist kein Zwangsgedanke, sondern ein Zwangsimpuls.
Im Grunde kann jede psychische Elementarfunktion zum Objekt einer Zwangserscheinung
werden. Es ist aber auf der wissenschaftlichen Ebene wichtig, dies genau
zu differenzieren. Es folgen Ausfuehrungen zur Funktion des Orbitalkortex
und des gyrus cinguli. Schwartz (dt. 1997) fasst zusammen: "Wir wissen,
dass das Fehlererkennungssystem im System des Orbitalkortex eng verbunden
ist mit dem Nucleus caudatus, der das System moduliert und auch ausschalten
kann. (...) Aus einer Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen liegen
inzwischen hervorragende Belege vor, dass eine Beschaedigung der Basalganglien
(zu denen der Nucleus caudatus gehoert) Zwangskrankheiten verursachen
kann."
(S. 337).
"Kinder und PANDAS" (S. 339-342). "Die Zwangskrankheit scheint in hohem Masse genetisch bedingt zu sein. Man kann an Familienstammbaeumen verfolgen, wie sie in der Generationenfolge von lange verstorbenen Urgrosseltern, Grosstanten oder Grossonkeln auf deren Kinder und Kindeskinder uebergeht. Die genetische Eigenart der Zwangskrankheit laest sich auch daran erkennen. dass psychodynamische Wurzeln anscheinend fehlen." ... "Die pharmakologische Forschung hat eine weitere Bestaetigung fuer die hochgradig biologische Bedingtheit des Zustandes geliefert: lediglich 10 % von zwangskranken Patienten reagieren auf Placebos, eine Zahl, die noch niedriger ist als bei der Schizophrenie." (S. 339). ... "Es war deshalb fuer die Fachwelt ein Schock - ein Schock mit der Bedeutung eines Paradigmenwechsels -, als Forscher der National Instituts of Health zum erstenmal erklaerten, eine Gruppe von Kindern entdeckt zu haben - man versah sie mit dem Kosenamen PANDAS (fuer 'pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infection...; paediatrische autoimmun-neuropsychiatrische oder einfacher: psychoimmunologische Stoerungen im Zusammenhang mit einer Streptokokkeninfektion') -, die als direkte Folge einer Streptokokken-Angina Symptome der Zwangskrankheit entwickelt hatten. In vielen Faellen waren diese Kinder vor der Infektion voellig normal gewesen, bei anderen Faellen hatten die Kinder Formen von Zwangskrankheit, die sich gut unter Kontrolle halten liessen, die sich aber nach der Infektion sofort verschlechterten." (S. 340). ... "Im Grunde holten sich diese Kinder eine Zwangskrankheit (oder Tics - viele endeten bei einer Diagnose des Tourette- Syndroms), wie sich jemand eine Erkaeltung holt. Nichts daran war gesellschaftlicher Natur. Die Forschung dokumentierte anschliessend, dass es auch fast genauso war. In gewisser Weise hatte sich das Gehirn eine Erkaeltung geholt. Die Magnetresonanz-Computertomographie ergab, dass bei diesen Kindern der Nucleus caudatus, eben jener Bereich, der bei der Zwangskrankheit betroffen ist, um etwa 24 % ueber die normale Groesse angeschwollen war.; ausserdem korrelierte der Grad der Schwellung direkt mit dem Schweregrad der Zwangssymptome." (S. 341)
"Zwangskrankheit und Sucht: Der genetische Zusammenhang" (S. 343-345). "Zur gleichen Zeit, als Aerzte wie Eric Hollander die Wirksamkeit von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern bei Krankheiten entdeckten, die man zuvor nicht zum Spektrum der Zwangskrankheiten gezaehlt hatte, verfolgten die Genetiker bei ihren Bemuehungen, ein am Alkoholismus beteiligtes Gen zu finden, einen parallelen Weg. Ihre Arbeit hatte sie auf D2R2-Rezeptor-Gen gebracht, das den Dopamin-2-Rezeptor kodiert und auf dem 11. Chromosom liegt. Dopamin ist ebenso wie sein besser bekannter Verwandter , das Serotonin, ein Neurotransmitter im Gehirn. Zur Zeit kennen wir vier verschiedene Dopamin-Rezeptoren. Das D2R2-Gen besitzt ein gemeinsames Allel, das bei 20-25 % der Bevoelkerung auftritt: ein Allel ist die Variante eines Gens, haeufig eine Variante, die durch eine 'genetische Wiederholung' innerhalb des Gens hervorgerufen wird, in dem ein Gen-Segment mehrfach wiederholt wird. Manche Genetiker bezeichnen dieses Phaenomen als 'genetisches Stottern'. 1970 veroeffentlichen die beiden Forscher Kenneth Blum und Ernest Noble einen Aufsatz, in dem gezeigt wurde, dass das D2R2-Allel zu 70 % bei schweren Alkoholikern zu finden war." (S.343) ... "Die beiden Forscher wurden von vielen Seiten angegriffen ... Die anschliessende Forschung hat ihnen recht gegeben." (S. 343f). "Nun begannen weitere Forscher, die sich mit anderen Formen der Sucht befassen, nach dem D2R2-Allel zu suchen. Sie fanden es bald. 51 % der Kokainsuechtigen wiesen das Allel auf. Als die Forscher Kokainabhaengige untersuchten, die noch weitere Substanzen konsumierten, stieg der Prozentsatz auf 80 %. ... je schlimmer der Zustand des Patienten, desto hoeher die Wahrscheinlichkeit, dass das Allel vorhanden war. Das D2R2-Allel steht in einem Zusammenhang mit schweren Formen des Suchtverhaltens. Es war der Forscher David Comings, der den Schritt von der Sucht zu den Zwangskrankheiten in der Genetik machen sollte." (S. 344) ... "Comings Forschungsarbeit beschaeftigte sich zwar nicht mit Alkoholismus, aber er entdeckte auch bei seinen Tourette-Patienten das D2R2-Allel. Dies erscheint schluessig, weil Tourette-Patienten neben ihren Tics ein breites Spektrum an Impuls-, Zwangs- und Suchtverhalten zeigen. ... Man hatte auf genetischer Ebene die Verbindung zwischen 'Zwangs'-Krankheiten und 'Sucht'-Krankheiten hergestellt." (S. 345).
"Das Syndrom des Belohnungsmangels" (S. 345-349). "Am einfachsten gesagt, ist das Belohnungsmangel-Syndrom genau das, was die Worte besagen: ein Mangel oder Defizit bei der Faehigkeit des Gehirns, sich durch die Dinge belohnt zu fuehlen, die andere Menschen belohnen: Liebe, Sexualitaet, Essen, Trinken, das Lachen von Kindern. Die belohnungsdefiziente Person kann zwar den Ertrag des Lebens in gewissem Masse geniessen, hat aber nicht genuegend Freude am Leben. Im Grunde ist es so, dass ein Mangel des D-2-Rezeptors die Faehigkeit eines Menschen beeintraechtigt, sich einfach zufrieden zu fuehlen." (S. 346) ... "Die von dem Syndrom Betroffenen finden es beinahe unmoeglich, sich auf irgendeinem Niveau 'erfuellt' zu fuehlen: emotional, intellektuell, koerperlich, ... Belohnungsmangel ist nicht Depression, obwohl er sicherlich mit der Zeit zur Depression fuehren kann. (Manche sehen die Depression als die Krankheit auf elementarer Stufe an, als die psychische Erkrankung, bei der laut DSM jeder Diagnostizierte frueher oder spaeter enden wird. Schizophrene, Zwangskranke, Borderline-Persoenlichkeiten: die meisten werden schliesslich auch einer Diagnose der Depression entsprechen. Alle Wege fuehren nach Rom). Wie wir gesehen haben, leiden Depressive haeufig an Anhedonie, an der Unfaehigkeit, ueberhaupt Lust zu empfinden. Die belohnungsdefiziente Person leidet jedoch an einem anderen Problem mit der Lust: sie kann zwar Lust empfinden, aber nicht genug davon. " (S. 347f). Ich sehe hier einen starken Zusammenhang zum AD-H-D-Syndrom. Auch das Therapie-Ziel ist klar: intensiver und andauernder geniessen zu lernen.
"Dopaminmangel und Belohnungsmangel" (S. 349-351). "Der unmittelbare Effekt des D2R2-Allels ist ziemlich leicht zu verstehen: D2R2 fuehrt zu einem subnormalen Dopamin-Aktivitaetspegel im Gehirn. ... Das D2R2-Gehirn besitzt bis zu 30 % weniger Dopamin-Rezeptoren im postsynaptischen Rezeptorenbereich. Das heisst: es gibt einfach nicht genuegend Rezeptoren auf der postsynaptischen Seite, um alles auf der praesynaptischen Seite produzierte Dopamin aufzunehmen. ... Durch den Dopaminverlust werden drei wichtige Hirnregionen betroffen: alle liegen auf dem Spektrum von der Sucht ueber ADD und Zwangskrankheit bis zur generalisierten Angststoerung. Das Aufmerksamkeitssystem: Dopamin ist der wichtigste Neurotransmitter fuer das Aufmerksamkeitssystem. Deutlich ist dies bei der Aufmerksamkeitsstoerung zu sehen, die wir mit dopaminfoerdernden Medikamenten behandeln. Ritalin, Cylert, Amphetamine generell: sie alle erhoehen den Dopaminpegel im Gehirn. Das System Belohnung/ Saettigung: Dopamin ist das Schluesselelement in dem fuer Belohnung/ Saettigung zustaendigen Gehirnzentrum. Eine Person mit chronischem Dopaminmangel hat Schwierigkeiten, ein Gefuehl der Belohnung, der Fuelle oder Saettigung auf jedweder Stufe zu erreichen, sei es emotional oder physisch. Das Stress/-Flexibilitaetssystem: Zusammen mit Serotonin und den Opiaten ist Dopamin einer der Haupttransmitter, die auf Stress reagieren. Immer, wenn wir gestresst sind oder uns gestresst fuehlen, erhoeht sich der Dopaminpegel, um uns beim Stressausgleich zu helfen. ... Bei allen biologischen und genetischen Aehnlichkeiten zwischen diesen scheinbar ungleichen Zustaenden bleibt natuerlich die Frage: Warum wird der eine suechtig, waehrend der andere eine Zwangskrankheit entwickelt? Wir wissen es nicht. " (S. 350) "Die besonderen Symptome des Spektrums 'Zwangskrankheit-Sucht-Angst' scheinen nicht so starr durch Vererbung festgelegt zu sein wie die elementare Tatsache, einfach eine oder mehrere dieser Stoerungen zu haben. Wenn wir mit dem Allel auf die Welt gekommen sind, dann werden wir auch auf dem Spektrum landen. Welche Form aber unsere Probleme genau annehmen werden, ob wir Suechtige, Zwangskranke, neurotisch Bekuemmerte werden oder Menschen, die ihre Naegel bis zum Ansatz abkauen: vielleicht entscheidet darueber das Leben." (S. 351). Die deterministische Behauptung, dass wir mit dem Allel zwangslaeufig auf dem psychopathologischen Spektrum landen muessen, erscheint allerdings reichlich labeling-vermessen. Die Natur und der Mensch funktionieren nach meiner Ueberzeugung viel komplex-chaotischer als dieses etwas deterministisch-schlichte Weltbild suggeriert.
Es folgt eine Falldarstellung: "Die Kaufsuechtige" (S. 351-358).
"Den Geist gebrauchen, um das Gehirn zu aendern" (S. 359-364). In diesem Abschnitt taucht eine sehr interessante Frage auf: kann man wollen wollen? und es wird belegt, dass der Einfluss kognitiver Verhaltenstherapie sich mit Hilfe der Gehirntomographie objektiv nachweisen laesst. (S. 359). Entscheidend ist aber die Heilmittelklasse TUN bzw. HANDELN. (S. 360) Damit ist die Frage nach der Henne und dem Ei, das Leib-Seele-Problem, die Beziehung zwischen der Hard- und Software-Metapher fuer das Gehirn wieder voll im Mittelpunkt. Psychotherapie veraendert das Gehirn und seine Biochemie, das ist die Botschaft dieses Abschnitts: "Diese Daten sind revolutionaer. Sie sind revolutionaer in ihrer physischen Demonstration der Kraft des Denkens und des Verhaltens zur Veraenderung der elementaren Hirnfunktion - revolutionaer auch darin, dass sie all jenen Hoffnung bieten, die gegen eine widerstaendige Biologie ankaempfen: eine Kategorie, unter welche alle Menschen nicht die ganze Zeit ueber, aber wohl zu einer bestimmten Zeit fallen." (S. 361). ... "Welche Interventionen jeder einzelne braucht, um die Person zu werden, die er sein muss und sein will, haengt immer davon ab, an welcher Herausforderung er sich messen will. Wenn ein einzelner etwas zu tun versucht, das fuer seine biologische Konstitution zu 'schwierig' ist - etwas, wozu er auf tieferer Ebene einfach nicht die Voraussetzungen mitbringt (...) -, dann wird die Verhaltenstherapie wohl niemals ausreichen." (S. 364).
"Der gute Buerger" (S. 364-367). Hier werden die positiven Aspekte der in diesem Kapitel behandelten Schattensyndrome Zwang, Sucht, Angst besprochen: "Zweifellos legen grosse Denker und Gelehrte in der gesamten Geschichte eine suchtfoermige Abhaengigkeit von ihrer Arbeit an den Tag, so dass ihre Frauen vielleicht von 'workoholics' gesprochen haetten, wenn ihnen der Ausdruck bekannt gewesen waere. Philosophen, Historiker, Schriftsteller aller Richtungen: diese Menschen koennten ihre Arbeit nicht leisten, wenn sie nicht besessen waeren, wenn sie nicht suechtig waeren nach dem, was sie tun. Diesen Menschen sitzt tatsaechlich ein 'Affe im Nacken', der jedoch eine ueberaus geschaetzte Kreatur ist, ohne die sie gar nicht leben wollen." (S. 367)
Nach diesem Kapitel kann ich nur sagen: Psychotherapie wird schwieriger,
verantwortungsvoller, interdisziplinaerer und integrativer werden und die
SchuldogmatikerInnen, Nur-SprecherInnen und ausschliesslich Psycho-Fixierten
haben wohl wenig Zukunft. Und besonders schwer werden es wohl die PsychoanalytikerInnen
haben, die neuerdings die LIZENZ ZUM NICHTWISSEN sogar zu einem Kongressthema
machen - diese Lizenz wird wohl entzogen werden muessen.
8. Pflege und Ernaehrung des Gehirns (S. 368-398)
Fragen. Diese Kapitel ist nach seinem Titel besonders spannend, weil es wichtige Fragen beantworten sollte: Wie pflegt man sein Gehirn? Wann muss man es pflegen? Unter welchen Bedingungen muss man es wie pflegen? Wie lange muss man es auf diese oder jene Weise pflegen? An welchen Kriterien kann man sich orientieren? Auf welche Komplikationen und unerwuenschte Nebenwirkungen muss man sich einstellen? Wie haengt die Biologie mit der Umwelt, dem Sozialen, dem Verhalten, der Psyche zusammen? Wo und wie kann die Biologie beeinflusst und geformt werden? Wo setzt die Biologie Grenzen? Wann braucht das Gehirn Pharmaka? Wie lange braucht das Gehirn Pharmaka? Kann man sein Gehirn biologisch von Pharmaka abhaengig machen?
Einfuehrung. "Schattensyndrome konfrontieren uns mit der Biologie des Alltagslebens. ... Die alltaeglichen emotionalen Probleme, auf die wir bei uns selbst und bei anderen stossen - Gereiztheit, Gemeinheit, Traegheit, Pessimismus, chronische Besorgnis, uebermaessiges Essen oder Trinken -, finden ihre Wurzeln in der Biologie, die wir auf die Welt mitbringen, und in der Biologie, die die Umwelt von uns abverlangt, wenn wir unser Leben leben. Dass ein schwieriges Verhalten seine Wurzeln vielleicht in einer 'schwierigen' Biologie hat, ist jedoch keine Entschuldigung, ganz im Gegenteil. Dass das Verhalten sich durch Biologie beeinflussen laesst, buerdet unserem Schicksal eine zusaetzliche Verantwortung auf: die Verantwortung naemlich, unser biologisches Leben ebenso zu pflegen, wie unser gesellschaftliches und emotionales Leben. Wenn eine biologische Differenz im Gehirn uns dazu bewegt, destruktiv oder verletzend zu handeln - in der saekularen Terminologie unserer Zeit: dysfunktional zu handeln -, dann liegt es an uns, diese Differenz anzugehen. Es ist unsere Aufgabe, fuer unsere Gehirne ebenso zu sorgen, wie fuer unsere Seelen. Der erste Schritt ist das Verstehen. Je mehr die Entdeckungen der Neuropsychiatrie klar werden, desto besser koennen die Menschen sich allmaehlich in einer noch dagewesenen Weise 'kennenlernen': wir koennen unser biologisches Selbst ebenso kennenlernen wie unser psychisches Selbst. Eine Frau, die sich bisher immer fuer 'abhaengig von anderen' hielt, koennte sich nun als 'umweltabhaengig' sehen, ein moeglicherweise tiefgreifender und lebensveraendernder Unterschied. Ein Mann, der haeufig 'schlecht gelaunt' ist, kann sich nun als eine Person mit zu niedrigem Serotoninspiegel erkennen - auch hier wieder ein Unterschied in der Wahrnehmung, die ihm den Weg zu neuen Loesungen zeigen kann. In beiden Faellen verschiebt sich die Schuldzuweisung. Eine Frau, die zu dem Schluss gelangt, dass sie unter dem biologischen Zwang steht, sich zu sehr auf die Probleme anderen Menschen einzulassen, hoert vielleicht auf, ihrer alkoholkranken Mutter die Schuld fuer diese Charaktereigenschaften zu geben; vielleicht hoert sie auch auf, sich selbst zu beschuldigen. Der Mann, der seine Kinder schilt und den Hund verpruegelt, beginnt einzusehen, dass es weder der Fehler der Kinder noch des Hundes ist, wenn sein Leben so erbaermlich ist; das Problem liegt bei ihm selbst. Seine Wut ist das Ergebnis seiner Chemie. " (S. 368f).
"Komplexitaeten und Kipp-Punkte" (S. 369-378). "Das erste Prinzip, das wir uns aneignen muessen, wenn wir den Verlauf unserer Biologie zu beeinflussen beginnen, lautet: das Gehirn ist unendlich komplex. ... Das Gehirn, ein guter Kubikdezimeter Gewebe, enthaelt ungefaehr 100 Milliarden Neuronen, und von diesen 100 Milliarden Neuronen besitzt jedes einzelne im Durchschnitt 10 000 Verbindungen zu anderen Neuronen. ... Wenn es also um die Aenderung der Hirnfunktion geht, bedeutet dies, dass es keine simple Schnelltherapie gibt - zumindest nicht fuer die meisten von uns. Wenn wir in diesem Buch zum Beispiel oft von 'niedrigem Serotoninspiegel' gesprochen haben , so ist der Begriff des Serotoninspiegels ausserordentlich komplex. Es gibt dreizehn verschiedene Serotoninrezeptoren bei Tieren (mithin dreizehn verschiedene Zaehlweisen), und es ist noch immer nicht bekannt, wie viele Serotoninrezeptoren der Mensch besitzt. Jeder dieser Rezeptoren ist in jeder Synapse vorhanden - und wenn ein serotoninfoerderndes Medikament wie Prozac (dt. Fluctin, R. S.) auf die Synapse trifft, wird jeder einzelne Serotoninrezeptor jeweils auf eine andere Weise beeinflusst. Manche Rezeptoren aendern als Reaktion auf dieses Medikament die elektrische Uebertragung, andere Rezeptoren aendern die chemische Uebertragung, usw. Die eigentliche Geschichte der Serotoninspiegel wird aber noch einmal von den einzelnen Synapsen erzaehlt, die betroffen sind, weil jede von ihnen wieder von den Neuronen beeinflusst wird, die 'stromabwaerts' liegen ... Das stromabwaerts liegende Neuron kann eine Rueckwirkung auf das stromaufwaerts liegende Neuron haben und die Serotoninausschuettung in Wirklichkeit vermindern, oder die Rueckwirkung des stromwabwaerts liegenden Neurons kann die Serotoninausschuettung erhoehen - wir wissen es einfach nicht , zumindest bisher noch nicht. Gott hat uns nicht einfach geschaffen. ... Die Wissenschaftler von Eli Lilly, dem Hersteller von Prozac (dt. Fluctin, R.S.) wissen ganz einfach nicht, was Prozac im Gehirn stromabwaerts bewirkt. Sie wissen, was es in der Synapse macht, aber sie wissen nicht, welche Kaskade von Rueckkopplungsschleifen und genetische Mechanismen diese synaptische Veraenderung in Gang bringt." (S.369f)
Nun das sind endlich mal kritische Worte, aus denen im Grunde klar folgt: Jede Therapie ist ein heuristisches Einzelfallexperiment, was Heinroth (Literatur - Portraet und Wahntheorie) schon 1818 vertrat. Und daraus folgt therapie-methodisch, dass der schrittweisen operationalen Evaluation von therapeutischen Interventionen die groesste Bedeutung zu kommt. Das ist auch im wesentlichen das Ergebnis der systemischen Therapieforschung unter chaostheoretischen Gesichtspunkten nonlinearer und komplex vernetzter Systeme jenseits allzu schlicht-dogmatischer Richtlinienverfahren.
"Weil jedes einzelne Gehirn unter allen menschlichen Gehirnen voellig selbstaendig und einmalig ist - einschliesslich der Gehirne von eineiigen Zwillingen -, hat jede Behandlung, gleich welcher Art, Wirkungen, die einmalig fuer dieses Individuum sind. Kein Arzt und kein Psychotherapeut kann vorhersagen, welche Wirkung diese Pille oder diese 'Redekur' auf die Biologie dieser bestimmten Person haben wird. Der Kliniker kann sich nur auf klinische Durchschnittsswerte stuetzen: wie viele Patienten mit dieser Problemlage sprechen in der Regel auf eine bestimmte Behandlung an? Danach ist es eine Frage des Ausprobierens dieser Behandlung, um zu sehen, was passiert." (S.371)
"Innerhalb des Gehirns haengt naemlich alles mit allem zusammen. ... Das Gehirn 'vorherzusagen' - die Wirkungen positiver Verhaltensweisen auf unser Gehirn vorauszusagen - ist wohl eher mit der Wettervorhersage zu vergleichen, die bekanntlich fast unmoeglich ist. ... Wie wir sehen werden, sind die Prinzipien der Komplexitaetstheorie - und ihrer Verwandten, der Theorie des 'Kipp-Punktes' - aeusserst nuetzlich, wenn es um die Anregung und Steuerung positiver Massnahmen fuer das Gehirn geht. ... Wir alle sind mit nichtlinearen Vorgaengen im wirklichen Leben vertraut ... Komplexe Systeme sind wie das Wetter, die Familie oder das Gehirn. " (S. 372f) "Kleine Probleme koennen sich kaskadenartig zu grossen auswachsen: das ist das oberste Prinzip." (S. 374).
Die AutorInnen raeumen der Idee instabiler Prozesse grosse Bedeutung ein, d.h.: kleinste Veraenderungen koennen groesste Wirkungen hervorrufen. Der Punkt, an dem ein System umkippt, heisst bei den AutorInnen Kipp-Punkt. So kann z. B. eine winzige Veraenderung im Datensatz einer Korrelationsmatrix, etwa durch ein paar wenige missing data, dazu fuehren, dass die Matrix "psychotisch" entgleist und negative Eigenwerte produziert, was gewoehnlich zu raunen und murmeln bei den ForscherInnen fuehrt, ohne dass sie es sich erklaeren koennten, warum ihre Faktorenalayen, auf die sie ja so soft so stolz sind, mit Kommunalitaeten groesser 1 im wahrsten Sinne des Wortes "verrueckt" spielen (Sponsel & Hain 1994). Die Analogie mit den Schattensyndromen kann ich allerdings nicht nachvollziehen, da ein Schattensyndrom ja keine winzige Groesse ist, sondern im allgemeinen ein ganzes Leben oder einen Abschnitt daraus ueberschattet. Den Kipp-Punkt im eigenen Leben erkennen, wie dies die AutorInnen S. 376 unten vorschlagen, erscheint mir ebenfalls nicht sehr realistisch und erfolgversprechend. Hier kann eine neutrale aussenstehende Heilkundige sehr viel mehr erkennen und wahrscheinlich auch bewirken.
"Die gute Nachricht" (S. 378-380) "Die gute Nachricht ist aber, dass beide Theorien (Komplexitaets- und Kipp-Punkt, R. S.) auch die Moeglichkeit festhalten, dass ein System sowohl nach oben als auch nach unten kippen kann." (S. 378). Die AutorInnen fuehren hier als Beispiel den Zusammenbruch der Mordquoten aufgrund einiger kleiner Veraenderungen der Polizei in New York an. Die Moral von der Geschicht ist, dass auch kleinste Veraenderungen ein krankes System in Gesundheit und Wohlbefinden katapultieren koennen. Diesen inzwischen wissenschaftlich gut begruendeten Ansatz pflegen vor allem die systemische und die Hypnotherapie: sie stossen an und bringen etwas auf den Weg. Beide sollten daher zum Standardrepertoire einer modernen Psychotherapieausbildung gehoeren. Der Abschnitt schliesst mit einer systemisch-poetischen Vision: "Wir halten Ausschau nach dem Aufwaertskippen; wir hoffen, jenen magischen Augenblick zu erreichen, in dem Liebe und Leben sich zu etwas Glanzvollem 'selbstorganisieren'." (S. 379f)
"Pflege und Ernaehrung des Gehirns" (S. 380-383) "Wenn es darum geht, kleine Veraenderungen in unserem Leben und in unserem Gehirn herbeizufuehren, lautet das Motto: Alles ist wichtig. Sport, Ernaehrung, Schlaf, welchen Menschen wir heiraten, was wir arbeiten - alles zaehlt, alles hat Einfluss auf unser Gehirn. ... Die Volksweisheit unserer Vorfahren war intuitiv richtig. Den Kleinigkeiten des taeglichen Lebens Aufmerksamkeit schenken und gute Entscheidungen treffen: das ist der Weg zur mentalen Fitness."(S. 380). "Insgesamt hat die Forschung ergeben, dass die meisten positiven neurologischen Veraenderungen im Gehirn das Ergebnis eines langfristigen und regelmaessigen sportlichen Trainings sind." ... "Koerpertraining steigert die Emission von Alphawellen in der rechten (oder 'depressiven') Hemisphaere, dies wirkt sich wohltuened aus, weil eine Zunahme von Alphawellen mit einer Abnahme der Aktivitaet in diesem Hirnbereich insgesamt zu korrelieren scheint (weil Alphawellen langsamer sind als die Betawellen, die produziert werden, wenn wir uns konzentrieren). Kurz gesagt: Koerpertraining scheint die Aktivitaet der rechten Hirnseite in einem gewissen Masse zu verlangsamen und die linke Seite zu stimulieren. ... Deshalb sind auch eine gewisse Minderung der Angst nach intensiver koerperlicher Betaetigung so gut wie sicher" (S. 381). "Koerpertraining erhoeht die Neurotrophinspiegel und haelt Gedaechtnis und Aufmerksamkeitsspanne bis ins hohe Alter intakt." (S. 382)
"Intelligente Maschinen" (S. 383-386) "Der persoenlich Trainingsraum der Zukunft wird vielleicht so aussehen: eine Hochtechnologie-Trainingsmaschine, um sowohl das Gehirn als auch den Koerper zu trainieren - geplant und gebaut, um das Gehirn im Gleichklang mit dem Koerper zu trainieren. Es werden intelligente Maschinen sein, ausgeruestet mit Computern, die aus dem taeglichen Trainingsreaktionen des Benutzers lernen koennen." (S. 383). "Die intelligenten Maschinen der Zukunft werden uns begleiten und helfen, unser Gehirn ohne Medikamente oder langwierige Psychotherapie auf Trab zu bringen -." (S. 384). "Tatsache ist, dass es so etwas wie eine Eins-zu-eins-Korrelation zwischen spezifischen Hirnfunktionen und spezifischen Verhaltensweisen wohl nicht gibt. Hirn-Rasterbilder haben gezeigt, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Gehirnteile einsetzen koennen, um dieselben Funktionen zu erfuellen (vgl. GIPT Leib-Seele-Axiom IV, R. S.). Es ueberrascht nicht, dass die inzwischen beruehmt gewordenen Rasterbilder, die Alan J. Zametkin von den Gehirnen von Erwachsenen mit Aufmerksamkeitsstoerungen aufgenommen hat, sich signifikant mit den Rasterbildern von Gehirnen anderer Erwachsener ueberschnitten, die keinerlei Anzeichen einer Aufmerksamkeitsstoerung zeigten: das Gehirn ist grundlegend verschieden. Genau dasselbe Rasterbild koennte bei der einen Person eine Aufmerksamkeitsstoerung signalisieren und bei einer anderen mit voellig normaler Aufmerksamkeit und normalem Impuls korelieren." (S. 385).
Hier ist auf das Entschiedenste zu widersprechen. Mich ueberrascht es sehr wohl, dass Zametkins Resultate, die angeblich Aufmerksamkeitsgestoerte kennzeichnen sollen, nunmehr bei "Normalen" gefunden wurden. Und diese Information haette auch korrekterweise im Kapitel ueber die Aufmerksamkeitsstoerungen plaziert gehoert und dort kritisch eroertert. Es bedeutet naemlich schlicht und einfach, dass Zametkins Resultate keinerlei Aussagekraft haben. Seine "beruehmten" Rasterbilder sind damit zu 'beruechtigten' mutiert. Und das erzwingt ein voellig neues Forschungs-Paradigma fuer die Zukunft der Gehirn-Forschung: neben den Gruppenstudien auch eine strenge, vergleichende Einzelfallforschung und Vorsicht bei einfachen Korrelationen. Es ist an dieser Stelle sehr zu wuenschen, das sich unsere vermeintlich exakten NaturwissenschaftlerInnen elementare Kenntnisse in Wissenschaftstheorie, Methodologie und Forschungsdesign aneignen, um ihre oberflaechlichen Analogien und Korrelationen einen kritischen Pruefung unterziehen zu koennen.
"Tai Chi und die Kunst des Wohlbefindens" (S. 386-393) Hier wird ueber den ausserordentlichen Wert und Therapietransfer berichtet, den das Erlernen von asiatischen Kampfsportarten und Bewegungsmeditation mit sich bringen kann. Ausserdem: "Wir koennen die Hirnfunktion auch durch viele andere 'natuerliche' Mittel beeinflussen. Ernaehrung, Licht, Schlaf - sie alle koennen die Chemie des Gehirns zum Besseren veraendern." (S. 390) Die AutorInnnen betonen nun die Bedeutung der Heilmittelklassen Hingabe und Leidenschaft: "Abgesehen von Gesichtspunkten wie Essen, Koerpertraining und einer zufaelligen Dimetapp-Behandlung besteht die wichtigste einzelne Massnahme, die jeder Mensch im Hinblick auf eine posiitve Veraenderung der Hirnfunktion und des Charakters ergreifen kann, darin, seine eigene Aufgabe im Leben zu finden. Leidenschaft heilt; die entschlossene Hingabe an eine Berufung, eine berufliche Laufbahn oder an eine Beschaeftigung konzenrtiert Geist und Seele.
"Pflege und Ernaehrung der Seele" (S. 393-398). "Es ist das Selbst oder die Seele, die die Macht zur Entscheidung hat, ob es nach dem Zwangsgedanken handeln soll: das Glas Wein trinken, das Schokoladeneis essen, die Kinder anschreien. Es ist nicht das Gehirn. Die Entscheidung des Selbst hat wiederum eine Rueckwirkung auf die Biologie. Wenn wir die Entscheidung treffen, nicht auf den Impuls hin zu handeln, den die Biologie gesendet hat, schwaechen wir naemlich das Netzwerk, das die Botschaft aussendet, ein ganz klein wenig, und staerken gleichzeitig das lebenswichtige Netzwerk des Widerstandes. Genau durch diesen biologischen Mechanismus veraendert die kognitive Verhaltenstherapie das Gehirn." (S. 394f)
"Es ist unsere Hoffnung, dass dieses Buch den Menschen einige Erkenntnisse
liefert, die sie brauchen, um das Gute zu akzeptieren, das aus Gehirndifferenzen
hervorgeht, und das Schlechte aufrichtig zu bekaempfen. Wir moechten ganz
unzweideutig feststellen: Wenn jemand dieses Buch beiseite legt und zu
sich selbst oder zu seinen Angehoerigen sagt: 'Ich kann nichts dagegen
tun, so bin ich nun mal', dann hat er unsere Absicht missverstanden." (S.
396).
Kritische
Schlussdiskussion
und Epilog zum Archetyp Schatten
Psychotherapie wird schwieriger, interdisziplinaer
und integrativ
Es ist ein interessantes Buch, das auf einige sehr wichtige und bislang recht vernachlaessigte biologische Sachverhalte aufmerksam macht. Es ist ein wichtiges Pladoyer fuer die Bedeutung der Biologie in Psychologie, Psychopathologie, Therapie und Psychotherapie. Zu bejahen ist das Konzept, dass Geist, Koerper, Seele sich wechselseitig und nachweisbar beeinflussen. Mentale, psychologische, soziale und koerperliche Aktioen beeinflussen das Gehirn, seine Biochemie und Physik wie umgekehrt, Verletztungen, Pharmaka und physikalische Methoden auf Geist und Seele Einfluss nehmen.
Dass WissenschaftlerInnen von sich freimuetig auf ihre eigenen "Schatten" eingehen ist ebenso ungewoehnlich wie mutig und innovativ - wenn es kein Marketingtrick ist. Waehrend der Begriff des Schattensyndroms gut erklaert wird, bleibt die wichtige neu kreierte Metapher "Laerm" , "Laerm im Gehirn" noch sehr im Dunkeln. Die These, dass alle Menschen einen mehr oder minder ausgepraegten "Schatten" haben, macht die AutorInnen fuer ausgepraegtere Schatten- oder VollsyndromtraegerInnen besonders sympathisch. Das Oben Unten-Gefaelle verschwindet und alle sind irgendwie gleich. Damit einher geht dann eine ziemliche Unverbindlichkeit. Grenzen verschwimmen, Klarheit verschwindet, alles ist irgendwie, annaehernd gleich und doch wiederum nicht oder nicht ganz so. Psychopathologie mutiert zum grossen grauen Irgendwiesumpf. Mag es auch sehr sympathisch und menschlich wirken, so ist es doch nicht so und sicher ist der Irgendwieeinheitsbrei auch nicht so gut.
Damit haengt auch der besonders kritisch zu bemerkende Mangel einer grundlegenden und elementaren Erlebens-Terminologie zusammen, d.h. man merkt dem Buch deutlich an, dass die AutorInnen keine Grundlagenausbildung in Psychologie haben. Das ist insofern bedeutungsvoll und problematisch, weil die AutorInnen staendig ueber Erleben, Verhalten und psychische Phaenomene sprechen. Es ist einfach wichtig, dass die elementaren erlebnis-psychologischen Termini klar operational definiert werden.
Zu den wichtigsten gehoeren: wahrnehmen, empfinden,
fuehlen, denken, erinnern, merken (behalten), lernen, vorstellen, phantasieren,
wuenschen, beduerfen, brauchen, koennen, begabt sein, entscheiden,
entschliessen, wollen, lenken, (sich steuern), Impuls und Impulskontrolle,
bewusst und unbewusst, abwehren, aufmerksam, konzentrieren, entspannen,
Antrieb und Energie, Haben, Sein und Gelten, tun und
handeln, verhalten.
Diese Termini muessen sitzen und muessen international eindeutig und operational normiert werden. Die moderne Psychopathologie und Psychiatrie ist, wenn wir ihre Geburtsstunde mit Pinels Befreiung des Geisteskranken von ihren Ketten, also im Jahre 1793 ansetzen, 206 Jahre alt. Und sie hat es immer noch nicht geschafft, ICD und DSM sind keine Loesung. Das ist im Grunde ein einzigartiger wissenschaftlicher Skandal und mit Recht gehoeren Psychopathologie, Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie zu den unterentwickelten Wissenschaften, die in der Hierarchie der Wissenschaften nicht so gut angesehen sind. Wie lange noch muessen wir dieses praegalileiische "Niveau" aushalten ? Noch 206 Jahre?
Im terminologisch-methodologischen Bereich weist das Buch erhebliche Schwaechen auf. Die dysphorische (Hypo-) Manie wird nicht diskriminiert. Modische Neubenennungen wie "Scanner" fuer Hypochonder oder "soziale Scanner" fuer SozialphobikerInnen sind ebenfalls kein Gewinn, sondern stiften nur Verwirrung, an der es in den Wissenschaften und Praxeologien der Seele nun wirklich nicht fehlt.
Sehr schoen werden dagegen nicht alltaegliche Heilmittelklassen in ihrer Bedeutung aufgezeigt, z. B. fuehlen, tun, Hingabe und Leidenschaft.
So manches wird als neue Erkenntnis verkauft, was zum traditionellen Wissensfundus der Psychopathologie gehoert. Geradezu peinlich ist es, wenn behauptet wird, auf die Zwangskrankheit sei man erst 1989 aufmerksam geworden, wo doch schon 1930 der Psychotherapeutenkongress in Baden-Baden nur diesem Thema verpflichtet war.
Sehr ueberzeugend ist aber der Ansatz einer potentiell unendlich funktionalen Psychodiagnostik, der die grossen internationalen Diagnosesysteme ICD und DSM weit hinter sich laessst und fuer ein individuelles, einzelfallbezogenes und realistisches Konzept steht, dem Konzept der Zukunft, wie ich meine. Jedes Gehirn ist ein individuell-einmaliges Gehirn, lautet das Credo der AutorInnen. Umso unverstaendlicher ist dann allerdings, mit welcher Leichtfertigkeit und Naivitaet ziemlich allgemeine Veraenderungen auf bestimmte klinische Kriterien zurueckgefuehrt werden. Es erstaunt mich immer wieder, wie unkritisch, obverflaechlich und naiv gerade scheinbar exakte NaturwissenschaftlerInnen in der Deutung ihrer Befunde vorgehen. Besonders aergerlich wurde dies an den sog. Rasterbildern von Zametkin deutlich, die einmal dafuer herhalten muesssen, die Aufmerksamkeitsstoerung (ADD) zu kennzeichnen, und drei Kapitel weiter ploetzlich als auch Normalbefunde praesentiert werden. Damit machen sich die AutorInnen selbst sehr fragwuerdig. Wir erfahren viele interessante neue Forschungsergebnisse der 90-iger Jahre, aber was bedeuten sie, und duerfen wir ihnen trauen? Zweifel und Unsicherheit bleiben zurueck angesichts solcher an methodisch fragwuerdige Taschenspielertricks gemahnende Kapriolen.
Sehr kritisch bleibt auch anzumerken, dass das zentrale Leib-Seele-Problem und seine vielfaeltige dialektische Verflechtungen nicht angemessen behandelt werden. Ohne Zweifel gibt es biologische Hintergrund- und Rahmenparameter. Ohne Zweifel sind natuerliche, soziale, koerperlich-physikalische und biochemisch-pharmakologische Methoden sehr wichtig fuer die Besserung, Linderung, Heilung oder Bewaeltigung von Stoerungen mit Krankheitswert. Hier rennen die AutorInnen beim Rezensenten offene Tueren ein. Unklar bleibt, wann, unter welchen Bedingungen und wie lange jemand, bei dem eine Medikation bei einem biologisch bedingten Schattensyndrom erforderlich wurde, diese nehmen muss: ein Leben lang? Wie kontrolliert man, ob man sich auf dem richtigen Weg befindet? Teilweise liest sich das Buch wie eine Werbe- bzw. Verteidigungsschrift fuer Prozac (Fluctin). Der Begriff der Nebenwirkung wird im Sachregister nicht erwaehnt. Die Problematik jahre- bzw. sogar lebenslanger Medikamenteneinnahmen bleibt weitgehend uneroertert. In diesem Punkt ist das Buch schlecht und ausgesprochen unkritisch.
Sehr positiv beruehrt beruehrt hat mich das Verstaendnis und die Toleranz, die die AutorInnen Menschen mit "Schatten" entgegenbringen. Es ist auch ein Buch der Toleranz fuer das Andere und Fremde, eine Aufforderung, den eigenen narzisstischen Nabel zu verlassen, um die Vielfalt des wirklichen Lebens tolerant zur Kenntnis zu nehmen.
Wieso die Borderline-Persoenlichkeit nicht in die Schattensyndrome aufgenommen wurde, bleibt fraglich. Auch im Sachregister wird "Borderline" nicht erfasst, als ob die Stoerung praktisch und faktisch keine Rolle spielte, was mit den Erfahrungen des Rezensenten nicht uebereinstimmt. Es fehlt auch jegliche Eroerterung im Zusammenhang mit der Wut- und Aufmerksamkeitsstoerung.
Insgesamt hat mich die gruendliche Lektuere und Auseinandersetzung mit diesem Buch bereichert; ich denke, ich habe dazu gelernt, vor allem auch, daß Psychotherapie schwieriger, interdisziplinaerer und integrativer werden wird und werden musss.
Epilog zum Archetyp Schatten
Wichtig: Der Begriff des Schattens beinhaltet bei den AutorInnen auch Positives bzw. positive bewertbare Moeglichkeiten, waehrend die Jung'sche Tradition damit eindeutig und ausschliesslich Negatives verbindet.
C. G. Jung fuehrt in seinem 1951 veroeffentlichten Buch "Aion - Untersuchungen zur Symbolgeschichte" [Zuerich: Rascher] in einem Kapitel aus:
"
Der Schatten
Die Inhalte des persoenlichen Unbewussten sind Erwerbungen des
individuellen Lebens, die des kollektiven Unbewussten dagegen stets
und a pirori vorhandene Archetypen. ... Unter den Archetypen sind
diejenigen empirisch am deutlichsten charakterisiert, welche am haeufigsten
und intensivsten das Ich beeinflussen resp. stoeren. Es sind diese der
Schatten,
Anima
und Animus. Die der Erfahrung am leichtesten zugaengliche Figur
ist der Schatten, denn seine Natur laesst sich in hohem Masse aus den Inhalten
des persoenlichen Unbewussten schliessen. Eine Ausnahme von dieser Regel
bilden nur jene selteneren Faelle, wo die positiven Qualitaeten der
Persoenlichkeit verdraengt sind, und das Ich infolgedessen eine wesentlich
negative, d.h. unguenstige Rolle spielt." (S. 22)
Im Woerterbuch Jung'scher Psychologie wird ausgefuehrt: "1945 definierte Jung den Schatten direkt und klar als das, was ein Mensch 'nicht sein moechte' (GW 16, § 470). Diese einfache Formulierung fasst die vielfaeltigen und und wiederholten anderen Bedeutungen des Schattens zusammen: negative Seite der Persoenlichkeit, Summe aller unangenehmen Eigenschaften, die man verbergen moechte, die inferiore, wertlose und primitive Seite der menschlichen Natur; die eigene 'zweite Persoenlichkeit'; die eigene dunkle Seite. Jung war sich der Wirklichkeit des Boesen im menschlichen Leben sehr bewusst. Immer wieder betont er, dass wir alle einen Schatten haben, dass alles Stoffliche eine Schatten wirft, dass das Ich sich zum Schatten verhaelt wie Licht zum Schatten, und dass gerade der Schatten uns menschlich macht. Jedermann ist gefolgt von einem Schatten, und je weniger dieser im bewussten Leben des Individuums verkoerpert ist, um so schwaerzer und dichter ist er. Wenn eine Minderwertigkeit bewusst ist, hat man immer die Chance, sie zu korrigieren." (S. 191f).
Ausgewaehlte Literatur zum Archetyp Schatten und seiner Behandlung
*** Ende ***