Ordnung und Außer-Ordnung
Zwischen Erhalt und tödlicher Bürde
präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Bibliographie * Verlagsinfo * Inhaltsverzeichnis * Leseprobe * Ergebnisse * Bewertung * Links * Literatur * Querverweise *
Bibliographie: Boothe, Brigitte (2008, Hrsg.). Ordnung und Außer-Ordnung. Zwischen Erhalt und tödlicher Bürde. Bern: Huber. [Verlags-Info] ISBN: 978-3-456-84474-9. E-Book-ISBN: 978-3-456-94474-6. EURO 39.95 / CHF 68.00
Verlagsinfo: "Ordnung kann eine tödliche
Bürde sein und Ordnungsverlust eine vitale Attacke. Interdisziplinäre
Beiträge zu Erhaltungsressourcen und tödlichen Bürden sind
in diesem Band zusammengetragen.
Ordnung ist eine Stärke und eine Bürde,
zugleich kann ein Verlust von Ordnung eine vitale Attacke sein: Die Herausforderungen
des Sozialisationsprozesses und der Kulturbildung schaffen Frieden und
Ressentiment zugleich, sie schützen Vielfalt und reduzieren Vitalität,
sie schaffen Legitimation und Verführung.
Ordnung und Unordnung, Einbruch einer Katastrophe
oder eines Traumas, Verstörung und Gewalt sind Themen, die beunruhigen
und zugleich faszinieren. Und es sind Themen, die den Ordnungs- und Vertrauensverlust,
den Bruch im Leben beschwören. Der Einbruch des Ausser-Ordentlichen
zeigt im Kontroll- und Strukturverlust das Fragile der Personalität.
Im vorliegenden Band sind interdisziplinäre Beiträge zu den Erhaltungsressourcen
und tödlichen Bürden zusammengetragen.
Mit Beiträgen von: Wolfgang Mertens, Hermann
Lang, Georg Kohler, Francis Cheneval, David Lätsch, Philipp Stoellger,
Ursula Renz, Dirk Fabricius, Karl Wagner, Reinhard Fatke, Helmut Holzhey,
Brigitte Boothe, Ingolf Dalferth, Elisabeth Bronfen, Michael Hampe, Hanspeter
Mathys, Gisela Thoma, Hermann Lübbe."
Inhaltsverzeichnis der Kapitel [nach Quelle]
Inhalt 5
Vorwort 13
Einleitung (Boothe) 15
Ordnung und Todestrieb 31
Ordnung und Kontrolle 109
Schicksal, Herausforderung und Verantwortung 181
Das Leben der Nacht und die Bedrohung durch das Erinnern
235
Autorinnen und Autoren 307
Hermann Lang
"Die Idee des Todestriebes und das Desaströse in der Kultur (S. 54-55)
Freuds Begriff des Todestriebes ist wohl der umstrittenste seiner Begriffe. Viele seiner Schüler lehnten ihn ab, hielten ihn für einen unentschuldbaren Ausflug in Poesie und Metaphysik oder parlierten unter der Hand, dass es sich bei diesem Konzept um die Erfindung eines alternden Mannes handle, der an einem schweren Krebs erkrankt sei und sich selbst dabei recht autodestruktiv verhalte: obwohl er wisse, dass die Erkrankung mit seinem täglichen Verbrauch von 20 Zigarren zu tun habe, sei er nicht in der Lage, diese Sucht abzustellen.
In seinem ersten Triebmodell hatte Freud bekanntlich zwischen libidinösen Arterhaltungstrieben (Sexualtrieb) einerseits und Selbsterhaltungs- bzw. Ich-Trieben andererseits unterschieden. Letzteren ordnete er alles zu, was mit der Erhaltung, Behauptung und «Vergrößerung» der Person zu tun hatte. «Aggression » – diesen Begriff müssen wir zunächst in den Mittelpunkt unserer Überlegungen rücken – erschien dabei als «Mittel zur Durchsetzung» (Mentzos 1993) von Ansprüchen und verweigerten Befriedigungen, als wichtiger Affekt, aber nicht als ein spontaner selbstständiger Trieb.
Zur Auffassung nun, Aggression bzw. Destruktivität jetzt als einen angeborenen Trieb zu sehen, gelangte Freud wohl erst unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges mit seinem Freiwerden eines ungeheuren Vernichtungspotenzials und durch die Suche nach der Erklärung für eine Vielzahl destruktiver Neigungen des Menschen, seinesgleichen sadistisch zu drangsalieren, unverständliche Hassgefühle entgegenzubringen, sich für Kriege zu begeistern. So entschied sich der späte Freud (1920, 1930) für ein Konzept zweier antagonistischer Grundtriebe beim Menschen: Dem Lebenstrieb (Eros) steht jetzt ein Todestrieb (Thanatos) entgegen, der sowohl auf Selbstvernichtung des Individuums zielt als auch, nach außen gewendet, destruktiv gegen die Umwelt wirkt. In seinem berühmten Brief vom September 1932 an Albert Einstein, erschienen unter dem Titel «Warum Krieg?», heißt es entsprechend:
«Mit etwas Aufwand von Spekulationen sind wir … zu der Auffassung gelangt, dass dieser Destruktionstrieb innerhalb jedes lebenden Wesens arbeitet und dann das Bestreben hat, es zum Zerfall zu bringen, das Leben zum Zustand der unbelebten Materie zurückzuführen. Er verdient in allem Ernst den Namen eines Todestriebes. Der Todestrieb wird zu einem Destruktionstrieb, indem er … nach außen gegen die Objekte gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, dass es fremdes zerstört» (Freud 1932, S. 22). Nach Freud wird die Energie für den Todestrieb, von ihm auch Destrudo genannt, stetig im Körper generiert. Sie sammelt sich wie Wasser in einem Tank. Wird sie nicht in kleinen Mengen und auf sozial akzeptierte Weise abgegeben, wird sie so lange anwachsen, bis sie auf extreme und sozial nicht akzeptable Weise «überläuft». So wird verständlich, wenn er im «Abriss der Psychoanalyse» von 1938 schreibt: «Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend (Kränkung)» (Freud 1938, S. 72). Eine Möglichkeit der Ableitung dieser Energie sei die so genannte Katharsis, ein Begriff, den Freund bekanntlich schon zusammen mit Breuer in seinem ersten Therapiekonzept entwickelt hatte (griechisch: Reinigung, Läuterung). Katharsis, das bedeutet jetzt, dass Emotionen intensiv ausgedrückt, ausgelebt werden, sei es im Weinen, in Worten, in symbolischen Darstellungen oder auch in direkten Handlungen. Es wird dabei die Auffassung vertreten, dass dieses emotionale «Rauslassen» aggressiver Gefühle das Auftreten nachfolgender Aggressionen zu senken vermöchte.
Das Freud’sche «Dampfkesselmodell» – der Triebdruck steigt
so lange an, bis er sich an einer bestimmten Stelle explosionsartig entlädt
– begegnet wieder in der ethologischen Aggressionstheorie (vor allem
durch Konrad Lorenz 1963 vertreten, vgl. auch Eibl-Eibesfeldt 1986). Analog
zur Auffassung Freuds geht man hier davon aus, dass aus einer inneren Triebquelle
aggressive Impulse entstehen, die im Lebenskampf, im «Kampf ums Dasein»
(Darwin), eingesetzt werden oder periodisch der Entladung zur Spannungsreduktion
bedürfen. Ziel sei eine adäquate Aggressionsabfuhr: z. B. über
ein «Ersatzobjekt»: «Wenn ich …damals im Gefangenenlager
trotz schwerster Polarkrankheit nicht meinen Freund geschlagen, sondern
einen leeren Karbidkanister zerstampft habe, so war dies ganz sicher meinem
Wissen um die Symptome der Instinkt-Stauung zu danken» (Lorenz 1963).
Es entspricht einer sozialen Norm, eher Sachen als Menschen zu beschädigen.
..."
Ergebnisse.
Nach der Information zu dem Buch
sollten wird als Ergebnisse vorfinden können: 1) wie werden
die Menschen mit dem Außer-Ordenlichen, dem Verlust von Ordnung fertig?
2) Welche Ressourcen stehen ihnen hierzu zur Verfügung und 3) welche
Bürden sind tödlich oder könnten tödlich sein?
Bewertung:
Psychoanalytisch orientierte Arbeiten sind manchmal gesellschaftspolitisch
progresssiv (z.B. Fabricius),
interessant, geistreich und anregend, so schien mir auch das Thema "Ordnung
und Außer-Ordnung" in diese Richtung zu gehen, zumal eine interdisziplinäre
Bearbeitung der Thematik ausgewiesen wurde. Überwiegend handelt es
sich aber um eine Nabelschau Freuds oder sein Erbe, die ziemlich genau
der Kritik Bornsteins entspricht, die Mertens zitiert (S. 33f): "Er [Bornstein]
benennt sieben Todsünden, die von Psychoanalytikern in klinischer
und konzeptueller Hinsicht begangen worden sind und weiterhin werden. So
hätten sich Psychoanalytiker viel zu sehr mit ihren Theorie-Vätern
und -Müttern beschäftigt, anstatt sich mit der Gegenwart zu befassen;
sie wären überwiegend unter sich geblieben, anstatt sich mit
anderen Disziplinen auseinanderzusetzen; bei den grundlegenden Konzepten
hätten wenig konzeptuelle und empirische Weiterentwicklungen stattgefunden
(so habe z. B. ein Genetiker aus dem Jahr 1900 keine Chance, ein Gespräch
mit einem Genetiker [>34] aus dem Jahr 2000 zu führen, Freud hingegen
hätte kein Problem, einen Zeitschriftenaufsatz aus der Gegenwart zu
verstehen). In der Psychoanalyse finde ein «groupthink» statt,
d. h. aufgrund der Abschottung gegenüber anderen Wissenschaften eine
gefährliche Überschätzung der eigenen Theorien und Befunde.
Trotz vieler widersprechender Befunde aus sorgfältig durchgeführten
empirischen Untersuchungen anderer Disziplinen würden Psychoanalytiker
an den ursprünglich Freud'schen Konzepten festhalten und damit die
Vagheit und mangelhafte Elaboriertheit der ursprünglich durchaus revolutionären,
aber mittlerweile veralteten Konzepte angesichts des ringsum entstandenen
Wissensfortschritts verleugnen. Diese konzeptuelle Vagheit werde unterstützt
durch hoch spezialisierte psychoanalytische Zeitschriften, in denen die
Autoren gleichsam unter sich blieben und nur von den Anhängern der
jeweiligen sektenartigen Schule rezipiert würden. Aufgrund dieser
sektenartigen Zusammenschlüsse sei die Psychoanalyse für die
Psychologie größtenteils irrelevant geworden. Psychologische
Hochschullehrer wüssten nicht, welche neueren psychoanalytischen Inhalte
sie den Studierenden vortragen sollten, außer denjenigen Freuds.
Gefährlich sei dabei vor allem die Unfähigkeit, die eigene Irrelevanz
wahrzunehmen angesichts dieser nicht länger zu verleugnenden Evidenz.
Eine weitere Todsünde sei die weitschweifige Theoriesprache, egal
ob von Ich-Psychologen, Objektbeziehungstheoretikern oder Selbstpsychologen,
die viele überflüssige Theoriebestandteile in ihrem Gepäck
mit sich herumschleppe, die entweder längst überholt oder viel
sparsamer ausgedrückt werden könnten. Des Weiteren sei auch der
Mangel an Operationalisierung nicht hinnehmbar, der zu einem Defizit an
konsensueller Klarheit und vor allem auch Überprüfbarkeit führe;
schlussendlich habe der dogmatische und arrogante Gestus vieler Psychoanalytiker
auch zu einer quasi-religiösen Haltung und nicht zu einer Bescheidenheit
geführt, wie dies für eine wissenschaftliche Einstellung notwendig
sei. [FN2]"
So erkennt Mertens (S. 39f) richtig, dass die berüchtigte
Junktim-Hypothese
mit den allgemeinen Vorstellungen empirischer Wissenschaft nicht in Einklang
zu bringen sind. Sie ist bestenfalls ein Teil, aber längst kein hinreichender.
Um es in der Sprache des Buches zu formulieren: Die psychoanalytische Weltsicht
ist in den Augen der empirischen Wissenschaften nicht in Ordnung,
sondern ein Beispiel der Außer-Ordnung. So gesehen kann man
aber zu der paradox anmutenden Erkenntnis gelangen, dass die sieben "Todsünden"
Bornsteins auch als ein Ressource-Arsenal für das Überleben der
Psychoanalyse angesehen werden können.
Zu sehr progressiven
Forderungen gelangt Fabricius, wenn er kurz und bündig am Ende erkennt:
"Mit Strafe ist Staat zu machen, aber kein Recht zu schaffen. Durch Schuldzuweisung
findet Beschämung statt. Strafgesetze ermöglichen die Verbrechensmaschinerie,
schaffen, stützen, erhalten Hierarchie, Herrschaft, Ungleichheit.
Das Menschenbild der europäischen Verfassungen
und der EMRK ist - im Ausgangspunkt - auf das Individuum fokussiert, ein
Individuum in der Sozietät. Das schließt Privatautonomie, individuelle,
gerade auch moralische Autonomie und Gewissensfreiheit ein. Der Staat ist
nicht das Ursprüngliche. Seine zentrale Funktion ist das Recht der
Bürger zu wahren und zu schützen, die tatsächlichen Bedingungen
für die Wahrnehmung der Rechte zu schaffen und aufrechtzuerhalten.
Aus der rechtlichen Perspektive verlangt das von ihm, die Bürger nicht
ohne einen triftigen «präventiven» oder restitutiven Grund
zu schädigen: Jenseits von Schadensersatz im weitesten Sinne und Gefahrenabwehr
ist der Staat zu Eingriffen nicht befugt. Zu diesen Zwecken bedarf es jedoch
der Strafe nicht. Und in diesem Sinne basieren alle Strafgesetze auf falschen
Annahmen und sind damit Unrecht."
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korrigiert: irs 17.08.2010