Erleben und Erlebnis in Wilhelm Wundt Schriften
mit einem Exkurs
zur inneren Wahrnehmung
und einem Hinweis: Stubbe, H. (1992).
Wilhelm Wundt und die Herero.
Recherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Inhalt
Zusammenfassung der ausgewerteten Werke
von Wundt (1888, 1896a, 1896b, 1920)
Erläuterung zu den Signierungen der Erlebensbegriffe
Wundt, Wilhelm (1888) Selbstbeobachtung
und innere Wahrnehmung. Philosophische Studien 4: 292-309
Exkurs
zur inneren Wahrnehmung
Wundt, Wilhelm (1896a) Über die Definition
der Psychologie. Philosophische Studien 12: 1-66 [Online]
Wundt, Wilhelm (1896b) Grundriß der Psychologie.
Leipzig: Engelmann
Wundt, Wilhelm (1920) Erlebtes und Erkanntes.
[Online]
[Sehr interessantes Autobiographisches]
Die innere Wahrnehmung ist die Grundlage der Psychologie (299). Erlebnisse entstehen aus Erleben mit inneren Wahrnehmungen. Eine direkte Beobachtung der inneren Wahrnehmung ist nach Wundt nicht möglich (301). Man muss sich mit der möglichst genauen Erinnerung an das wahrgenommene Erlebniss begnügen (302). Im Grundriß kommt "erleben" gar nicht vor, wobei aber natürlich klar ist, dass Erlebnisse (21 Erwähnungen) aus Erleben gewonnen werden. Aus S.17 geht hervor: Erlebnis wird von Wundt im Grundriß 1896 als ein Grundbegriff der Psychologie angesehen, ohne das ausdrücklich so zu benennen. Die psychischen Tatsachen oder Erfahrungen resultieren aus unmittelbaren Erlebnissen, die durch keine "Abstraktion und Reflexion" verändert wurden." Das kommt dem phänomenologischen Ziel sehr nahe, dürfte aber kaum kommunikativ zu realisieren sein (>Reines Erleben). S. 18: "2) Diese unmittelbare Erfahrung ist kein ruhender Inhalt sondern ein Zusammenhang von Vorgängen; sie besteht nicht aus Objecten, sondern aus Processen, nämlich aus den allgemeingültigen menschlichen W962E2Erlebnissen und ihren gesetzmäßigen Beziehungen." Was "allgemeingültige menschliche Erlebnisse" sein sollen, erklärt Wundt nicht. S. 259: "Dieses Gefühl des Zusammenhangs aller individuellen psychischen W962E7Erlebnisse bezeichnen wir als das »Ich«. Es ist ein Gefühl, nicht eine Vorstellung, wie es häufig genannt wird. ...". S.291: "1. Die Associationen in allen ihren Formen werden von uns, ebenso wie die mit ihnen nahe zusammenhängenden Verschmelzungsprocesse, die der Entstehung der psychischen Gebilde zu Grunde liegen, als passive W962E11Erlebnisse aufgefasst, ..."
Vor-Index "E" steht für Erlebnis bzw. Wortbindung mit Erlebnis
EErlebnis(se,sen)
EErlebnis(se,sen) + zusätzliche Kennzeichnung oder
Spezifikation, z.B. EErlebnisbeschreibung.
Erläuterungen zur Indizierung der Erlebensbegriffe bei Wundt
Zusammenfassung-Wundt-1888:
Fundstellen: erleben 1, Erlebnis 3, innere Wahrnehmung 7, Introspektion
0. Erleben und Erlebnis werden zwar erwähnt, aber nicht definiert
oder näher erläutert, auch nicht durch Querverweis, Anmerkung,
Fußnote oder Literaturhinweis, so dass davon auszugehen ist, dass
Wundt erleben und Erlebnis für allgemeinverständlich und nicht
weiter erklärungs- oder begründungspflichtig hält.
301: "... So ist bekanntlich eines der Haupthindernisse, welches einer
genauen Untersuchung der Traumvorstellungen in Bezug mit ihre
Entstehungsbedingungen wie ihre Erscheinungsformen im Wege steht,
das rasche Vergessen der Träume. In der Zeit, als ich mich mit
dieser
Frage näher beschäftigte, hatte ich mich nun derart darauf
eingeübt,
mitten im Traum zu erwachen, um sofort das Wahrgenommene aufzu-
zeichnen, dass ich in wenigen Wochen mehr Beobachtungen über
Träume zu sammeln vermochte, ah wahrscheinlich mein ganzes übriges
Leben hindurch. Jetzt ist diese willkürlich erweckte Disposition
wie-
der völlig geschwunden. Aber man kann auch in solchen Fällen
deutlich wahrnehmen, dass eine directe Beobachtung des Vorganges
nicht möglich ist. Vielmehr wird das innere
Erlebniss, um dessen
Untersuchung es sich handelt, regelmäßig in dem Momente
unter-
brochen, wo der Gedanke entsteht: dies willst du festhalten. Jetzt
tritt die Reproduction ein, bei der man sich eben auf die Treue des
Gedächtnisses verlassen muss und überdies, wie oben bemerkt,
immer
nur die Wahrnehmung in einer ihrer ursprünglichen Beschaffenheit
einigermaßen nahekommenden Gestalt wiedererneuern kann. Sollte
dieser Vorgang dem der wirklichen Beobachtung gleichkommen, so
müsste statt der bloßen Reproduction eine willkürliche
Erneuerung
des Vorgangs selbst möglich sein. Es müsste also z. B. möglich
sein, den Traum, den man sich zurückrufen will, selbst noch einmal
zu träumen.
Jedermann wird zugestehen, dass dies unmöglich ist,
und dass die
subjective Methode überhaupt kein Mittel besitzt, um es möglich
zu
machen. ..."
302: "... Wenn der rein subjectiven d. h. aller objectiven Hülfsmittel
entbeh-
renden Selbstbeobachtung je einmal ein ebenmerklicher Unterschied
zufällig begegnen sollte, so würde sie damit gar nichts anfangen
kön-
nen, ja sie würde nicht einmal im Stande sein, ihn mit Sicherheit
als
solchen nachzuweisen, viel weniger ihn mit anderen ähnlichen Unter-
schieden zu vergleichen. Auch der schnellsten Reproduction würde
hier
gerade das, worauf es ankommt, nämlich das Ebenmerkliche des Unter-
schieds entschwunden sein: sie würde entweder den Unterschied
völlig
verschwinden lassen oder dem Bewusstsein größer vorführen,
als er gewe-
sen ist. Wodurch vermag das Experiment diese Irrungen zu vermeiden?
Dadurch, dass es nicht bloß das Erinnerungsbild des entschwundenen
Vorganges, sondern den Vorgang selbst mit allen den Bedingungen
zurückruft, unter denen er vorher stattgefunden hat. Ebenso verhielt
es sich in allen anderen Fällen. Es ist wohl gelegentlich vorgekommen,
dass man zufällig bemerkte, mehrere Eindrücke, die gleichzeitig,
statt-
fanden, seien nicht gleichzeitig, sondern in irgend einer Reihenfolge
appercipirt worden. Aber mit dieser singulären Beobachtung ist
wenig
anzufangen, so lange man warten muss, bis der Zufall ähnliche
Beob-
achtungen wieder darbietet, oder so lange man sich mit der möglichst
genauen Erinnerung an das wahrgenommene Erlebniss
begnügen muss.
Das Experiment erst setzt uns in den Stand, die Bedingungen solcher
Zeitverschiebung beliebig hervorzubringen und so ihren Eintritt und
ihre Verschiedenheiten je nach begleitenden Umständen zu erforschen.
Ja noch mehr, dasselbe macht es möglich, die subjectiven Empfin-
dungen und Gefühle, welche den Vorgang begleiten, nicht bloß
an
schwachen Erinnerungsbildern der zufällig wahrgenommenen Erleb-
nisse zu studiren, sondern sie mit
diesen selbst so oft zu wiederholen,
als es uns belieben mag."
309: "... So hoffe ich es denn, ehe ich meine akademische Lauf-
bahn abschließe, auch noch zu erleben1,
dass es keine Universität im
deutschen Reiche gibt, die nicht über ein psychologisches Laboratorium
und über einen Psychologen verfügt, der damit umzugehen weiß."
Exkurs innere Wahrnehmung
7 Wahrnehmung, davon zwei in Titeln, also 5 im inhaltlichen Text:
Die innere Wahrnehmung ist das Fundament der ganzen Psychologie (299) |
295: "Unerheblich ist schließlich unsere
Differenz [R. S.: mit Volkelt] bezüglich des Wortes
»planmäßig«. Indem ich sagte, die innere
Wahrnehmung könne »für
sich allein niemals zur Beobachtung werden, insofern wir unter der
letzteren die planmäßige Richtung der Aufmerksamkeit auf
die Erscheinungen
verstehen« (Logik Il. S. 482), ist in diesen Worten schon
angedeutet, dass ich hier die Beobachtung in dem engeren Sinn der
wissenschaftlichen Beobachtung
im Auge habe. Die wissen-
schaftliche Beobachtung ist insofern stets planmäßig, als
sie von dem
Zweck einer möglichst genauen Auffassung der zu beobachtenden
Er-
scheinung geleitet wird und nach diesem Zweck ihr Verfahren ein-
richtet, sei es, dass sie sich künstlicher Hülfsmittel bedient,
oder sei
es, dass sie wenigstens die Bedingungen für die Richtung der Auf-
merksamkeit auf die Erscheinungen möglichst günstig gestaltet.
Zu
beidem ist im allgemeinen vorausgehende Ueberlegung, d.h. Plan
er-
forderlich. ..."
299: "... Wenn daher unsere Kunstausdrücke
einmal die Bestimmung haben, Verschiedenes auch in der Bezeichnung
zu trennen, so sollte man, wie ich meine, einen Process wie den hier
geschilderten nicht mit dem sonst wesentlich anders beschaffenen Vorgang
der eigentlichen Beobachtung zusammenwerfen. Es braucht ja
die innere Wahrnehmung darum, weil
man ihr die wesentlichen Eigen-
thümlichkeiten der Beobachtung abspricht, deshalb noch nicht niedrig
gestellt oder verächtlich behandelt zu werden. Letzteres wäre
gewiss
um so weniger gerechtfertigt, weil, vor allem in der vorhin beschriebenen
Verbindung mit der Reproduction, die innere Wahrnehmung
nicht
nur ein unerlässliches Hülfsmittel, sondern sogar das Fundament
der
ganzen Psychologie ist."
303: "Ich hoffe, Volkelt
selbst wird hieraus ersehen, dass es irrig oder
wenigstens leicht irreführend ist, wenn er mich die »objective«
psycho-
logische Erkenntnis, schlechthin in einen Gegensatz bringen lässt
zu
der »unzulänglichen und trügerischen Selbstbeobachtung«.
An der
Stelle meiner Logik, auf die er sich bezieht, habe ich von den Be-
schränkungen, denen die innere Wahrnehmung,
so lange sie bloß auf
sich selbst gestellt sei, ungefähr in demselben Sinne geredet,
wie dies
oben geschehen ist, dann aber bemerkt: »Alle diese Beschränkungen
gelten nicht mehr, wenn die innere Wahrnehmung
nicht für sich allein
zu bestehen sucht, sondern sich mit anderen Hülfsmitteln von objekti-
ver Beschaffenheit zur Ausbildung bestimmter Methoden verbindet.
Solche Hülfsmittel sind das psychophysische Experiment, die ver-
gleichend- und die historisch-psychologische Untersuchung« (Logik
II,
S. 483). Wenn daher Volkelt anscheinend
gegen mich bemerkt,
das Experiment überhebe uns keineswegs der Selbstbeobachtung,
son-
dern es stelle vielmehr an Jeden, dessen Bewusstseinsvorgänge
unter
die Bedingungen eines Experimentes gesetzt werden, die unerlässliche
Aufforderung, mit aller denkbaren Schärfe sein Inneres zu beobach-
ten, so kann ich mich durch diesen Einwand nicht getroffen fühlen.
Ich unterschreibe vollständig den Volkelt'schen
Satz und würde
nur noch hinzufügen: das Experiment stellt nicht nur die Anforde-
rung, sein eigenes Innere zu beobachten,
sondern es ist auch im
Grunde allein geeignet, eine solche Beobachtung in exacter Weise
möglich zu machen, weil es uns gestattet, nicht bloß mehr
oder we-
niger veränderte Erinnerungsbilder psychischer Vorgänge,
sondern
nach Belieben diese Vorgänge selbst
zu wiederholen. ..."
Zusammenfasung-Wundt-Definition-der-Psychologie
Der 66 Seiten Text ent hält 19 Fundstellen zu "erleb", davon erleben
7, erlebt 2; Erlebnis 10. Erleben oder Erlebnis wird in dieser Arbeit nicht
definiert, erklärt oder näher erläutert, auch nicht durch
Querverweis, Fußnote, Anmerkung oder Literaturhinweis, so dass davon
auszugehen ist, dass Wundt erleben und Erlebnis für allgemeinverständlich
und nicht für näher erläuterungs- oder begründungsbedürftig
hält.
Seine Kritische Analyse der beiden Definitionen
der Psychologie habe ich aus historischen Gründen mit aufgenommen.
10f: "Gleichwohl scheint es angesichts der innerhalb der experimentellen
Psychologie der Gegenwart bestehenden Divergenz der
Anschauungen, als sei mit der in den obigen Worten enthaltenen
Anerkennung, dass nur der Standpunkt der Betrachtung die Psychologie
kennzeichnet, die Stellung dieser zu anderen Gebieten, namentlich
zur Naturwissenschaft, noch nicht zureichend definirt. In der
That lässt sich jene Divergenz auf zwei Modificationen der soeben
gegebenen allgemeinen Begriffsbestimmung zurückführen, Modificationen,
aus denen merkwürdiger Weise zwei total verschiedene[>11]
Definitionen der Psychologie entspringen. Diese Definitionen,
die den Inhalt der folgenden Betrachtung bilden sollen, lassen sich
nebst ihren hauptsächlichsten Motiven in die folgenden Sätze
zusammenfassen.
Erste Definition. Die Thatsachen, mit denen
sich alle
Wissenschaften zu beschäftigen haben, sind »Erfahrungen«
oder,
sofern Erfahrungen von einem sie erlebenden Subjecte gemacht
werden müssen, »Erlebnisse:
Solche Erlebnisse können entweder
in Bezug auf die ihnen objectiv zukommende wirkliche
Beschaffenheit untersucht werden, — dies ist die Aufgabe der
Naturwissenschaft. Oder sie können in ihrer Abhängigkeit
von
erlebenden Subjecten untersucht
werden, — dies ist die Aufgabe
der Psychologie. Nun weist die Naturwissenschaft nach, dass ein
erlebendes Subject nach der ihm
objectiv zukommenden wirklichen
Beschaffenheit stets ein körperliches Individuum ist. Folglich
hat die Psychologie die Erlebnisse
in ihrer Abhängigkeit
vom körperlichen Individuum zu untersuchen, und die Theorie
der psychischen Vorgänge besteht in der Nachweisung ihrer Abhängigkeit
von bestimmten körperlichen Vorgängen. Sondert man
die Probleme der Psychologie in zwei Aufgaben: in die Zerlegung
der Bewusstseinsinhalte in ihre Empfindungselemente und in die
Untersuchung des causalen Zusammenhangs dieser Elemente, so ist
demnach nur die erste, vorbereitende dieser Aufgaben eine relativ
selbständige, ihre zweite, endgültige Aufgabe aber macht
die Psychologie
ganz und gar zu einem Anwendungsgebiet der Physio-.
logie 9.
Zweite Definition. Alle Erfahrung ist eine
einheitliche, in
sich zusammenhängende. Jede Erfahrung enthält nun zwei in
Wirklichkeit untrennbar verbundene Factoren: die Erfahrungsobjecte
und das erfahrende Subject. Die Naturwissenschaft sucht
die Eigenschaften und wechselseitigen Beziehungen der Objecte
zu bestimmen. Sie abstrahirt daher durchgängig, so weit dies vermöge
der allgemeinen Erkenntnissbedingungen möglich ist, von dem [>12]
Subject. Hierdurch ist ihre Erkenntnissweise eine mittelbare
und, da die Abstraction von dem Subject hypothetische Hiilfsbegriffe
erforderlich macht, denen die Anschauung niemals vollkommen
adäquat gedacht werden kann, zugleich eine abstract
begriffliche. Die Psychologie hebt diese von der Naturwissenschaft
ausgeführte Abstraction wieder auf, um die Erfahrung in ihrer
unmittelbaren Wirklichkeit zu untersuchen. Sie gibt daher über
die Wechselbeziehungen der subjectiven und objectiven Factoren
der unmittelbaren Erfahrung und über die Entstehung der einzelnen
Inhalte der letzteren und ihres Zus.ammenhangs Rechenschaft. Die
Erkenntnissweise der Psychologie ist demnach im Gegensatze zu
derjenigen der Naturwissenschaft eine unmittelbare und, insofern
die conerete Wirklichkeit selbst, ohne Anwendung abstracter Hülfsbegriffe,
das Substrat ihrer Erklärungen ist, eine anschauliche.
Hieraus folgt, dass die Psychologie eine der Naturwissenschaft
coordinirte Erfahrungswissenschaft ist, und dass sich die Betrachtungsweisen
beider in dem Sinne ergänzen, dass sie zusammen
erst die uns mögliche Erfahrungserkenntniss erschöpfen1).
—
Ich will es versuchen, im Folgenden den Nachweis zu führen,
dass die erste dieser Definitionen unhaltbar ist, und dass dagegen
die zweite derjenigen Aufgabe wirklich entspricht, die gegenwärtig
der Psychologie gestellt werden muss"
WD11.FN1) Vergl. Hugo Münsterber g, Aufgaben und.
Methoden der psychologischen
Forschung, 8. 21 ff. 0 s w. K. ü lp e, Grundriss
der Psychologie, 8. 4, 6.
Einleitung in die Philosophie, 8. 59, 66. Ich halte mich
im Folgenden hauptsächlich
an die präciseren Ausführungen des letzteren
Autors.
14: "Diese fehlerhafte Schlussfolge, die überaus durchsichtig ist,
wenn man die Dinge bei ihren üblichen Namen nennt, pflegt nun
durch die gewählten Bezeichnungen einigermaßen verhüllt
zu werden.
Statt des Wortes »Erfahrung« bedient man sich des schwankenderen
und dabei doch gewisse Nebenbedeutungen einschließenden:
»Erlebniss«. An und
für sich hat dieses Wort zwei Nebenbedeutungen.
Die erste weist darauf hin, dass die psychische Erfahrung
nicht ein ruhendes Sein, sondern dass es Ereigniss, Geschehen,
Vorgang sei. In diesem Sinne, in welchem das Erlebniss
mit dem zusammentrifft, was man in der Auffassung der Bewusstseinsvorgänge
die »Actualitätstheorie« genannt hat1), acceptire
ich
den Ausdruck gern. Aber gerade diese nicht wohl missverständliche
Bedeutung bleibt im vorliegenden Falle ganz außer Betracht.
Dafür tritt hier eine zweite Nebenbedeutung in den Vordergrund
:
die nämlich, dass jedes Erlebniss
auf ein erlebendes Subject [>15]
hinweist. Wenn man die Aufgabe der Naturwissenschaft als Erkenntniss
der objectiven Beschaffenheit der »Erlebnisse«
bestimmt,
so hat das demnach einen andern Sinn, als wenn man ihr bloß
den objectiven Inhalt der »Erfahrung« oder gar bloß
diesen Inhalt
nach Abstraction von dem Subject zuweist. Da es Erlebnisse
ohne ein
erlebendes Subject nicht gibt, so
scheint es nämlich selbstverständlich
zu sein, dass die Naturwissenschaft mit der objectiven Wirklichkeit
der Erlebnisse nun auch die objective,
d. h. nach der Verallgemeinerung,
die man unter der Hand mit diesem Prädicat vorgenommen,
die wirkliche Beschaffenheit des Subjektes festzustellen
hat. So kommt hier das merkwürdige und doch sehr begreifliche
Resultat zum Vorschein, dass ein Begriff, der an sich die Tendenz
hat, auf den subjectiven Ursprung der Erfahrung hinzuweisen,
dazu dient, des eigentlichen Subjectes, nämlich desjenigen,
das
die Erfahrungen macht, des erkennenden und handelnden, los zu
werden, damit ein Object, das sogenannte »körperliche
Individuum«,
an dessen Stelle trete.
Dass sich schließlich diese Begriffsbestimmung
der Psychologie
in ein Dilemma verwickelt, welches nur zwischen der Nichtexistenz
der definirten Wissenschaft und dem Zugeständniss der principiellen
Fehlerhaftigkeit der Definition die Wahl lässt, ist einleuchtend.
Fällt
der Naturwissenschaft die Erkenntniss der gesamm ten Wirklichkeit
zu, und ist darum insbesondere alles, was den sogenannten
»Bewusstseinsvorgängen« zu Grunde liegt, aus den physiologischen
Eigenschaften des körperlichen Individuums abzuleiten, so findet
die
Psychologie ihre Arbeit gethan, ehe sie damit angefangen hat. Ihre
Probleme hat von Rechts wegen einzig und allein die Physiologie
zu erledigen. Behält dagegen die Psychologie eine selbständige
Aufgabe, weil die Naturwissenschaft nicht die ganze Wirklichkeit
umfasst, sondern bei dem Subj ect von bestimmten Seiten und
Zusammenhängen der Erfahrung abstrahirt, dann stellt die obige
Begriffsbestimmung an die Physiologie, die doch eine Naturwissenschaft
ist, die widersinnige Zumuthung, sie habe eine endgültige
Erkenntniss von dem zu vermitteln, was sie grundsätzlich von ihrer
Betrachtung ausgeschlossen hat, nämlich von dem Subjecte, insofern
es nicht bloß »Erlebniss«
sondern selbst ein »erlebendes«
ist. Auch
der scheinbare Mittelweg, den der »psycho-physische Materialismus«"
23: "Ihre Aufgabe einer Analyse der unmittelbaren Erfahrung
bringt es nun mit sich, dass der Inhalt der Psychologie ein durchaus
anschaulicher ist, wenn wir hierunter,. gemäß der erweiterten
Bedeutung des Wortes Anschauung« in der neueren Philosophie,
allgemein das concret Gegebene im Gegensatze zu dem bloß
begrifflich Gedachten verstehen. Atome z. B. oder ein matheMatischer
Punkt sind begrifflich gedacht; aber ein gehörter Ton,
ein gesehener Gegenstand, ein erlebtes Gefühl sind concret gegeben,
also in dem oben definirten Sinne anschaulich 1).
59: "Ich habe ausdrücklich hervorgehoben, dass der
Begriff 'Bewusstsein« nach meiner Auffassung nichts anderes bedeutet,
als den unmittelbar erlebten Zusammenhang
der psychischen
Vorgänge, dass ferner aus diesem Zusammenhang die sogenannte
'Einheit des Bewusstseins' sich ergebe. Für die Entwicklung des
Selbstbewusstseins, also der Persönlichkeit, erkenne ich dann
allerdings den Willensvorgängen den entscheidenden Einfluss zu,
und ich behaupte, dass sich diese Entwicklung aus der bloßen
Association der Vorstellungen nicht erklären lässt. Denn
erstens
glaube ich, dass die letztere Annahme der thatsächlichen Existenz
der Gefühls- und Willensprocesse nicht gerecht wird; und zweitens
glaube ich, dass sie über die wirkliche Entwicklung des Selbstbewusstseins
keine zureichende Rechenschaft gibt. "
Zusammenfassung Wundt Grundriß 1896 (WGR):
InVerz: Erleben 0, Erlebnis . Im Text: Erleben 0 (1x überleben),
Erlebnis 21. Innere Wahrnehmung 1 (S. 246)
Fundstellen Erlebnis im Grundriß:
17: "... Wie dieser an die Annahme eines inneren Sinnes mit
eigenartigen Objecten der innern Erfahrung, so ist jene
eng an die Auffassung geknüpft, dass die innere Erfahrung
mit der unmittelbaren Erfahrung identisch
sei. Indem
nämlich nach dieser Auffassung der Inhalt der psycho-
logischen Erfahrung nicht in einer Summe von Gegenständen
besteht, sondern in allen dem, was den Process der Er-
fahrung überhaupt zusammensetzt, das heißt in den W962E1Er-
lebnissen des Subjectes in ihrer
unmittelbaren, durch keine
Abstraction und Reflexion veränderten Beschaffenheit, so
wird hier nothwendig der Inhalt der psychologischen Er-
fahrung als ein Zusammenhang von Processen
be-
trachtet. (S.17).
Dieser Begriff des Processes schließt die
gegenständ-
liche und damit auch die mehr oder minder beharrliche Be-
schaffenheit der psychischen Erfahrungsinhalte aus. Die
psychischen Thatsachen sind Ereignisse, nicht Gegenstände;
sie verlaufen wie alle Ereignisse, in der Zeit und sind in
keinem folgenden Moment die nämlichen, die sie in einem
vorangegangenen waren. ..."
18: "2) Diese unmittelbare Erfahrung ist kein ruhender Inhalt
sondern ein Zusammenhang von Vorgängen;
sie be-
steht nicht aus Objecten, sondern aus Processen,
nämlich
aus den allgemeingültigen menschlichen W962E2Erleb-
nissen und
ihren gesetzmäßigen Beziehungen."
19: "2. Als Wissenschaft von den allgemeingültigen
Formen
unmittelbarer menschlicher Erfahrung und ihrer gesetz-
mäßgen Verknüpfung ist sie die Grundlage
der Geistes-
wissenschaften. Denn der Inhalt der Geisteswissenschaften
besteht überall in den aus unmittelbaren menschlichen
W962E3Erlebnissen hervorgehenden
Handlungen und ihren
Wirkungen. Insofern die Psychologie die Untersuchung der
Erscheinungsformen und Gesetze dieser Handlungen zu ihrer
Aufgabe hat, ist sie daher selbst die allgemeinste Geistes-
wissenschaft und zugleich die Grundlage aller einzelnen,
wie der Philologie. Geschichte, Nationalökonomie, Rechts-
wissenschaft u. s. w."
100: "... tragischen W962E4Erlebnisses ..."
181: "... Aber sie [R. S.: die Glieder einer zeitlichen Reihe] werden
im allgemeinen nicht identisch sein,
weil jedes Gefühlselement außer von der Empfindung, mit
der es unmittelbar verbunden ist, immer auch von dem
durch die Gesammtheit der W962E5Erlebnisse
bestimmten Zustand
des Subjectes abhängt. ..."
243: ".... So beginnt na-
mentlich nach Zuständen der Bewusstlosigkeit das Bewusst-
sein in der Regel nur langsam seine normale Höhe zu
erreichen, indem allmählich wieder Anknüpfungen an frühere
W962E6Erlebnisse entstehen."
259: "... Dieses Gefühl des Zusammen-
hangs aller individuellen psychischen W962E7Erlebnisse
bezeichnen
wir als das »Ich«. Es ist ein Gefühl,
nicht eine Vor-
stellung, wie es häufig genannt wird. ..."
286.1: "... Der Unterschied von einem
gewöhnlichen Erinnerungsvorgang, bei dem man sich der Ver-
bindung des neuen Eindrucks mit einem früheren W962E8Erlebniss
deut-
lich bewusst ist, besteht augenscheinlich nur darin, dass hier die
Elemente, die die Verbindung herstellen. durch andere Vorstellungs-
elemente in den dunklen Hintergrand des Bewusstseins gedrängt
sind. ..."
286.2 "... Bei der Wahrnehmung eines individuell oder
nach seinem Gattungscharakter geläufigen Gegenstandes ist
zunächst der Umfang möglicher Associationsbeziehungen ein
ungleich größerer, und es hängt daher nun weniger von
den einzelnen W962E9Erlebnissen,
auf denen die Association selbst
beruht, als von allgemeinen Anlagen und momentanen Dis-
positionen des Bewusstseins, namentlich aber auch von dem
Eingreifen bestimmter aktiver Apperceptionsvorgänge und
den mit ihnen zusammenhängenden intellectuellen Gefühlen
und Affecten ab, in welcher Weise an irgend ein bestimmtes
W962E10Erlebniss Erinnerungsvorgänge
sich anschließen. Bei der
Mannigfaltigkeit dieser Bedingungen ist es begreiflich, dass
sich im allgemeinen die Associationen jeder Vorausberechnung [>287]
entzieht, während dagegen, sobald der Erinnerungsact ein-
getreten ist, die Spuren seiner associativen Entstehung selten
der aufmerksamen Nachforschung entgehen, so dass wir
unter allen Umständen berechtigt sind, die Association als
die allgemeine und einzige Ursache von Erinnerungsvor-
gängen zu betrachten."
288: "... Was aber die Entstehungsweise der Erinnerungs-
vorgänge betrifft, so greifen bei jedem einzelnen derselben Pro-
cesse ineinander ein, die sich in gewissem Sinne theils als
Aehnlichkeits-, theils als Berühungswirkungen bezeichnen lassen.
Von einer Aehnlichkeitswirkung könnte man nämlich bei jenen
Assimilationen reden, die theils den Vorgang einleiten, theils aber
bei der ihn abschließenden Rückbeziehung auf ein bestimmtes
früheres W962E11Erlebniss
stattfinden. ..."
291: "§17. Die
Apperceptionsverbindungen.
1. Die Associationen in allen ihren Formen werden
von uns, ebenso wie die mit ihnen nahe zusammenhängenden
Verschmelzungsprocesse, die der Entstehung der psychischen
Gebilde zu Grunde liegen, als passive W962E12Erlebnisse
aufgefasst,
weil das für die Willens- und Aufmerksamkeitsvorgänge [>292]
charakteristische Thätigkeitsgefühl immer nur in der Weise
in sie eingreift, dass es an die bereits gebildeten
Ver-
bindungen bei der Apperception gegebener
psychischer
Inhalte sich anschließt. (Vgl. S. 255.) Die Associationen sind
demnach W962E13Erlebnisse,
die ihrerseits Willensvorgänge er-
wecken können, selbst jedoch nicht unmittelbar durch
Willensvorgänge beeinflusst werden. Eben dies ist uns aber
das Kriterium eines passiven W962E14Erlebnisses."
294: "... Wenn wir uns z. B. bei einer Wieder-
erkennung der Identität des Gegenstandes mit einem früher
wahrgenommenen, oder wenn wir uns bei einer Erinnerung
einer bestimmten Beziehung des erinnerten W962E15Erlebnisses
zu
einem gegenwärtigen Eindruck bewusst werden, so verbindet
sich hier mit den Associationen zugleich eine Function der
Apperception in Gestalt beziehender Thätigkeit."
295: "... So nenne ich es eine Be-
ziehung, wenn ich einen gegenwärtigen Eindruck als den
Grund für die Erinnerung an ein früheres W962E16Erlebniss
auf-
fasse; eine Vergleichung dagegen, wenn ich zwischen dem
früheren und dem jetzigen W962E17Erlebniss bestimmte
Ueberein-
stimmungen oder Unterschiede feststelle."
307: "... man kann daher in Phantasiebildern sich
ergehen wie in wirklichen W962E18Erlebnissen.
..."
308: "Dieses besteht bei der »Phantasiethätigkeit«
in der
Nacherzeugung wirklicher oder der Wirklichkeit
analoger W962E19Erlebnisse.
Unmittelbarer an die Associa-
tionen sich anlehnend ist die Phantasiethätigkeit die ursprüng-
lichere Form der apperceptiven Analyse. Sie beginnt mit
einer mehr oder minder umfassenden, aus mannigfachen Vor-
stellungs- und Gefühlselementen bestehenden Gesammtvor-
stellung, die den allgemeinen Inhalt eines zusammengesetzten
W962E20Erlebnisses umfasst,
in welchem die einzelnen Bestandtheile
zunächst nur unbestimmt ausgeprägt sind. Diese Gesammt-
vorstellung zerlegt sich dann in einer Reihe successiver Acte
in eine Anzahl bestimmterer theils zeitlich theils räumlich
verbundener Gebilde. So schließen hier an eine primäre
willkürliche Synthese analytische Acte sich an, in Folge
deren wieder Motive einer neuen Synthese und damit einer
Wiederholung des ganzen Processes mit einer theilweise
veränderten oder mit einer beschränkteren Gesammtvor-
stellung entstehen können."
309f: "16. Dieser Nachbildung wirklicher oder
als Wirklichkeit
vorstellbarer W962E21Erlebnisse gegenüber,
die den Inhalt der unter
dem Begriff der »Phantasie« zusammengefassten appercep-
tiven Funktionen ausmacht, besteht nun das Grundmotiv der
»Verstandesthätigkeit« in der
Auffassung der Ueber-
einstimmungen und Unterschiede, sowie der aus
diesen sich entwickelnden sonstigen logischen Ver-
hältnisse der Erfahrungsinhalte.
Demnach geht die
Verstandesthätigkeit umsprünglich ebenfalls von Gesammtvor-[>310]
stellungen aus, in denen eine Anzahl wirklicher oder als
wirklich vorstellbarer W962E22Erlebnisse
willkürlich in Beziehung
gesetzt und zu einem einheitlichen Ganzen verbunden sind.
Aber der hierauf folgenden Analyse ist nun durch das ab-
weichende Grundmotiv ein anderer Weg vorgezeichnet. Die
Analyse besteht nämlich hier nicht mehr bloß in einer
klareren Vergegenwärtigung der einzelnen Bestandtheile
der Gesammtvorstellung, sondern in der Feststellung der
durch die vergleichende Funktion zu gewinnenden mannig-
fachen Verhältnisse, in denen diese Bestandtheile zu ein-
ander stehen, eine Feststellung, für welche dann, sobald nur
einmal mehrfach solche Analysen vollzogen sind, ander-
weitig gewonnene Ergebnisse der Beziehung und Vergleich-
ung herbeigezogen werden."
Wundt, Wilhelm (1920)Erlebtes
und Erkanntes.
Der Textanalyse liegt die Gutenbergprojektdarstellung zu Grunde:
https://www.projekt-gutenberg.org/wundt/erlebtes/erlebtes.html
Zusammenfassung-Wundt1920
: Das Buch ist autobiographisch, handelt vom Menschen und Bürger
Wundt und seiner Zeit. Von daher ist nicht zu erwarten, dass hier wissenschaftliche
Ausführungen zum Erleben oder Erlebnis erfolgen, aber Gebrauchsbeispiele
für Wundts individuelles Erleben. Ungeachtet dessen ist es ein sehr
interessantes Buch, wobei die meisten durchgesehenen Fundstellen bis zum
15. Kapitel erleben1, ein Ereignis oder Geschehen miterleben,
bedeuten. In Kapitel 15,
17, 18 gibt es einige Aussagen, die für ein Erleben oder Erlebnis
im psychologischen Sinne sprechen
Anmerkung Kapitel 38 und 39 behandeln die Entstehung
und Entwicklung des ersten psychologischen Laboratoriums in Leipzig.
erleb 68, erleben 2 (von 6 mit Sonderleben, verleben, überleben,
Völkererlebens), Erlebnis 20.
Fundstellen " Wilhelm Wundt. Erlebtes und Erkanntes erste 4 Kapitel
Hier werden bei den Indizes die Kapitelnummern mit angegeben., weil
die Kapitel 05-14 nicht ausgewertet wurden. Für den Fall, dass hier
noch nachgearbeitet wird, soll dadurch die Indizes eindeutig sein. Vorwort
= VW.
Vorwort:
Die folgenden Blätter sollen keine Lebensbeschreibung im gewohnten
Sinne des Wortes sein. Ein Gelehrtenleben, wie das des Verfassers, bietet
keinerlei Motive, die in ihm selbst gelegen besondere Anlässe zur
Schilderung ihres Verlaufs bilden könnten. Die Motive, die es bieten
möchte, um sie für die Nachkommen festzuhalten, sind teils äußere
Ereignisse, die er W20VWe1miterlebt1
hat, teils die Ergebnisse der Arbeit, um die er sich bemüht hat. Ein
solches Leben zu schildern erweckt aber nur insofern ein allgemeineres
Interesse, als der Geist der Zeit irgendwie in dasselbe eingegriffen hat,
und auf diese Eigenschaft kann der Verlauf meines Lebens wohl Anspruch
machen, wenn ich aus demselben die Vorgänge, die ich W20VWe2erlebt?
habe, und die Ereignisse, in die es mir einzugreifen vergönnt war,
in Betracht ziehe. Unter diesem Gesichtspunkte würde es aber ohne
besonderen Wert sein, wenn ich im folgenden den so oft gemachten Versuch,
Tag für Tag oder Jahr für Jahr zu schildern, wiederholt hätte.
Vielmehr ordnen sich hier von selbst die Inhalte dieses Lebens in einzelne
Folgen, die verschiedenen Lebensgebieten angehören. Mag es auch an
einem inneren Zusammenhang, der solche Lebensausschnitte verbindet, nicht
fehlen, so bieten diese doch keineswegs selbst eine äußerlich
erkennbare Verbindung, sondern diese ergibt sich erst aus dem Totaleindruck
des Ganzen für den Leser, der sich selbst dieses Ganze zusammenfügt.
Es ist, wenn ich hier Ausdrücke gebrauchen darf, die ich in den folgenden
Blättern des öfteren angewandt habe, eine Resultante oder eine
Kollektiveinheit, die dem aufmerksamen Leser nicht entgehen wird, auf die
ihn aber der Verfasser nicht erst hinzuweisen braucht, und die in dem "W20VWe3Erlebten?
und Erkannten" ihren Ausdruck finden soll. Das W20VWe4Erlebte?
ist das nächste, was ihm die Götter beschieden, das Erkannte
das Bessere, was sie ihm vergönnt haben. Will der Leser beurteilen,
was der Autor aus seinem Leben gemacht hat, so mag er als das Material,
aus dem er seine Schlüsse zieht, das Verhältnis in Betracht ziehen,
in welchem das Erkannte zu dem W20VWe5Erlebten?
steht. Er wird dann zugleich den richtigen Standpunkt finden, um auch die
Irrtümer und Mängel zu verstehen, von denen dieses Leben nicht
frei ist. Sollte er selbst das Motiv in den Vordergrund stellen, das für
ihn sein Leben lang das wirksamste war, so ist es nicht zu jeder Zeit,
aber doch auf den Höhepunkten dieses Lebens das politische, die Teilnahme
an den Interessen von Staat und Gesellschaft gewesen, die den Schreiber
dieser Zeilen gefesselt hat. Sie hat den Verfasser in das Leben geleitet.
Sie hat zu wiederholten Malen wirkungsvoll in dieses eingegriffen, und
sie ist ihm wiederum nahegetreten, als sich dieses Leben dem Ende näherte.
Leipzig, im August 1920. W.Wundt"
"Der bekannte Maler Wilhelm Tischbein berichtet in
seiner Selbstbiographie, das früheste Ereignis, das sich seinem Gedächtnis
unzerstörbar eingeprägt habe, sei ein Fall zur Erde gewesen,
den er getan, als man ihm das aufrechte Stehen und Gehen lehren wollte.
Man habe ihn an eine zufällig anwesende Ziege angelehnt, und in dem
Augenblick, wo die Ziege davonlief, sei er zur Erde gefallen. Wer sich
überhaupt auf früheste Lebensereignisse besinnen kann, wird wahrscheinlich
auf eine ähnliche Begebenheit stoßen, die als ein isoliertes
Ereignis in seinem Gedächtnis haften geblieben ist. Ein solches Ereignis
pflegt dann aber zugleich mit allen den Nebenumständen, von denen
es begleitet war, ähnlich der davonlaufenden Ziege bei Tischbein,
mit merkwürdiger Deutlichkeit in der Erinnerung festzuhalten, und
wenn man sich darauf besinnt, welche Merkmale es eigentlich sind, die einem
solchen einzelnen Vorgang den Vorzug vor andern verleihen als das früheste
W2001E1Erlebnis1
angesehen zu werden, so sind es wohl solche begleitende Nebenumstände.
In der Regel ist es irgendeine Situation, in der man sich vorfindet, und
die sich keineswegs als eine völlig unbestimmte, sondern ausgestattet
mit der Mannigfaltigkeit eines wirklichen Ereignisses erneuert. So bleibe
denn auch ich, wenn ich über mein frühestes W2001E2Erlebnis1
Rechenschaft geben soll, bei einer äußerst peinvollen Situation
stehen. Ich finde mich eine Kellertreppe herabrollend und glaube noch heute
die Stöße zu fühlen, die mein Kopf von den Stufen der Treppe
empfängt, ich finde mich von dem Halbdunkel des Kellers umfangen und
es mischt sich damit die Vorstellung, daß ich meinem in den Keller
gegangenen Vater nachgelaufen bin.
Neben dem so markierten Ereignisse tauchen dann
bei näherem Besinnen noch vereinzelte Erinnerungen in mir auf, die
aber offenbar einem späteren Stadium angehören. Besonders sind
es früheste W2001E3Schulerlebnisse1,
und dabei ist es dann wieder das umgebende Medium, einzelne Mitschüler,
eine Schulszene, die eine begünstigte Rolle spielen, und bei denen
immer zugleich die Bedingung obwaltet, daß ich selbst an dieser Szene
beteiligt bin. So schwebt mir aus der Fülle solcher W2001E4Schulerlebnisse1
in der Zeit meines Besuchs der untersten Klasse der Volksschule vornehmlich
eine Szene noch deutlich vor. Mein Vater wohnte als Schulinspektor einer
Unterrichtsstunde bei, ohne sich übrigens selbst in den Unterricht
einzumischen. Davon machte er nur in einem einzigen Fall eine Ausnahme.
Ich war zerstreut und hatte, statt auf den Unterricht aufzupassen, meinen
eigenen Gedanken nachgehangen, wie das bis in viel spätere Zeiten
meine regelmäßige Eigenschaft gewesen ist. Da wurde ich durch
eine Ohrfeige, die mir ungewohnterweise mein Vater applizierte, diesem
Zustand der Zerstreutheit plötzlich entrissen. Noch sehe ich das strafende
Gesicht des Vaters vor mir, der hier augenscheinlich aus der Rolle des
aufmerksamen Zuhörers unwillkürlich in die des häuslichen
Erziehers gefallen war. Wie in diesem Fall, so mag auch sonst ein Affekt
des Schrecks, ein Schmerz das Festhaften in der Erinnerung begünstigen;
doch hat dieses Unlustmotiv neben jener isolierenden Macht begleitender
Vorstellungen nach den mir gewordenen Eindrücken im ganzen nur eine
nebensächliche Bedeutung. So gilt denn, psychologisch betrachtet,
für diese frühesten Lebenserinnerungen allem Anscheine nach schon
die Regel, daß es überhaupt keinen isolierten Vorgang in unserem
Bewußtsein gibt, sondern nur Verbindungen von Vorgängen, die
einen Zusammenhang bilden und sich durch diesen wechselseitig in der Erinnerung
befestigen. Es ist die Regel der Kontinuität des Bewußtseins,
die sich so bereits für das erste Dämmern eines solchen bestätigt.
Darum läßt sich nun aber auch nicht mit absoluter Sicherheit
behaupten, daß irgend eine Erinnerung, die man geneigt ist für
die früheste zu halten, dies wirklich sei, sondern man wird immer
nur sagen können, daß sie durch ihre Verbindung mit den begleitenden
Vorstellungen die hierzu geeignete Beschaffenheit annimmt.
2.
Eine Dorfrevolution. Deutsche Teilnahme an Polens Schicksalen. Das
Jahr 1848. Die badische Revolution von 1849. Die badische Republik und
ihr Ende. Der Einmarsch der Preußen und das Rastatter Kriegsgericht.
Es gibt heute wenige mehr, die sich der Zeit erinnern, da das Land Baden
schon einmal ein halbes Jahr lang eine selbständige Republik war.
Aber noch beschränkter ist wohl die Zahl derer, die die vorangegangenen
Jahrzehnte wenigstens teilweise mit deutlichem Bewußtsein W20e6erlebt1
haben. Ich gehöre zu diesen wenigen, und mir ist eine Szene in Erinnerung,
die auf die politische Stimmung dieser Zeit ein merkwürdiges Licht
wirft.
...
... Wie dem aber auch sei, das Band, das in meiner Erinnerung jene
Dorfrevolution mit den späteren Ereignissen von 1848, 1849 und schließlich
in ihren schattenhaften Nachwirkungen mit Vorgängen der letzten Jahre
verknüpft hat, ist wiederum ein Beispiel jenes inneren Zusammenhangs,
der in uns einander verwandte W2002E5Erlebnisse1
durch weite Strecken und über völlig abweichende Inhalte miteinander
verbindet. Mögen diese Verbindungen schließlich selbst in der
Erinnerung zurücktreten. Sie pflegen in den geistigen Interessen fortzuleben,
die in unser späteres Schicksal bestimmend eingreifen.
Als ich daran ging, mir das Vergangene zu vergegenwärtigen,
war es dieser Gesichtspunkt, der sich mir schon bei der Schilderung jener
Dorfrevolution aufdrängte, von der ich sagen könnte, daß
sie mein erstes politisches W2002E6Erlebnis1
gewesen ist. Für denjenigen, der das Wagnis unternimmt, eine Selbstbiographie
zu schreiben, liegt es natürlich am nächsten, die Ereignisse
in der Reihenfolge zu schildern, in der er sie tatsächlich W2002e7erlebt1
hat.
...
War mein frühestes politisches
W2002E7Erlebnis1
die Dorfrevolution von Heidelsheim gewesen, so ist diese nun aber keineswegs
die einzige Revolution geblieben, die ich in unmittelbarer Nähe W20e8erlebt1
und von der ich eine Reihe eindrucksvoller Bilder in der Erinnerung
bewahrt habe. Noch sehe ich vor mir die Tafelrunde deutscher und österreichischer
Politiker, die sich auf der Reise zum Frankfurter Vorparlament im Museumssaale
zu Heidelberg zusammengefunden hatten, unter ihnen Anastasius Grün,
den gefeierten Wiener Poeten, neben anderen führenden Geistern der
Zeit, die ich hier von der Galerie des Festsaales aus mit staunender Bewunderung
erblickte. Ebenso steht vor mir der mit rauschenden schwarzrot-goldenen
Fahnen und Efeugewinden geschmückte Schloßhof und die Tribüne
mit den Abgeordneten der Frankfurter Linken, unter denen Robert Blum mit
seiner hinreißenden Beredsamkeit die aus der Stadt und der Umgebung
herbeigeströmten Zuhörer zu Tränen bewegte. Neben solchen
von der Begeisterung der Massen getragenen Szenen fehlen unter den Bildern
meiner Erinnerung freilich auch andere nicht, in denen die großen
Straßenkämpfe von Berlin und Wien in kleinerem Maßstabe
sich widerspiegelten. Noch steht mir hier ein Zug von Odenwälder Bauern
vor Augen, die mit ihren Sensen bewaffnet in die Stadt einzogen, um den
Städtern den Überfluß ihres Besitzes abzunehmen, aber vor
der mit Flinten bewaffneten Bürgerwehr die Flucht ergriffen - eine
Szene, in der sich der bekannter gewordene Putsch wiederholte, den schon
im März Hecker und Struve, vereint mit einer Schar französischer
Freischärler unter Georg Herwegh, dem Verfasser der von mir und meinen
Altersgenossen damals mit Begeisterung gelesenen »Gedichte eines
Lebendigen« im badischen Oberland veranstaltet hatten.
...
Auch das tragische Ende dieser kurzen Republik habe
ich, noch dazu fast in unmittelbarer Nähe W2002e9miterlebt1,
als ich von der Höhe des Gaisbergs bei Heidelberg aus die Kanonen
der Schlacht bei Waghäusel blitzen sah, in der die preußische
Armee unter der Führung des damaligen Prinzen von Preußen, des
späteren Kaiser Wilhelm, die republikanischen Truppen zu Paaren trieb.
Der Eindruck ist mir unvergeßlich, den die am Abend dieses Tages
in der Stadt veranstaltete Illumination hervorrief, die nach der Verkündung
des republikanischen Bürgermeisters den Sieg des badischen Heeres
feiern sollte, die aber in Wirklichkeit dazu bestimmt war, den in den Odenwald
fliehenden Freischaren den Weg zu zeigen. Nach Amerika und der Schweiz,
zu einem kleinen Teil nach Frankreich hatten auch die Führer der Revolution
sich gerettet, soweit sie nicht gefangen oder als blutige Opfer des Rastatter
Kriegsgerichts gefallen waren. Am Tag nach der Schlacht hielt ein preußisches
Regiment seinen Einzug, mit dem sich nach dem ersten Schrecken, den es
eingejagt, die weibliche und die jugendliche Bevölkerung der Stadt
sehr bald befreundete. So habe ich selbst meinen ersten Musikunterricht
bei einem biederen Pommerschen Grenadier genossen, der mir die Anfangsgründe
der Klarinette beibrachte.
4.
Baden nach der Reaktion der fünfziger Jahre. Verhältnisse
des allgemeinen bürgerlichen zum
politischen Leben. Die Arbeiterbildungsvereine. Populäre Vorträge
in deutschen Kleinstädten. Die Arbeiterbildungsvereine und die Anfänge
der Sozialdemokratie. August Bebel und Karl Biedermann
als Vereinsgenossen. Der badische Landtag. Die liberale badische
Gesetzgebung seit 1860. Die
Parteien in Süddeutschland um 1860. Das Jahr 1866. Die badische
Fortschrittspartei. Eine badische Ministerkonferenz. Reden von Mohl und
Blutschli im Mai 1866. Der deutsche Abgeordnetentag in
Frankfurt a. M.. Umwälzung der Volksstimmung nach Königsgrätz.
Interpellation über das badische Triasprojekt im Oktober 1867. Die
Lage Badens nach 1866. Mathys Tod.
Wenn für die meisten Menschen die Regel gilt, daß ihr Leben mehrere unabhängig nebeneinander hergehende Lebensläufe umfaßt, so gibt es wohl kein Gebiet, für das diese Regel in ausgesprochenerem Maße zutrifft als für das gleichzeitig auf wissenschaftlicher Arbeit gegründete Berufsleben und das in Gemeinde-, Vereins- und politischen Interessen sich bewegende öffentliche Leben. Man ist geneigt, private, Berufs- und öffentliche Beschäftigungen im allgemeineren Sinne als solche nebeneinander bestehende Lebenskreise zu unterscheiden; aber ich möchte glauben, daß die Beziehungen zwischen ihnen doch im allgemeinen engere sind als die sonst zwischen individuellem Beruf und gemeinschaftlichem Interesse bestehenden. Das beweist schon der Umstand, daß es keinen Menschen gibt, der nicht mit seinen persönlichen Angelegenheiten zugleich inmitten gesellschaftlicher Beziehungen im allgemeineren Sinne steht, während es, wie schon oben bemerkt, zahlreiche Menschen gibt, die öffentliche Interessen, insondere politische, überhaupt nicht besitzen. Um so mehr können sie, wo solche vorhanden sind, unabhängig nebeneinander bestehen. Für dieses Nebeneinander bietet vielleicht das Land Baden unter den kleineren deutschen Staaten die zahlreichsten Beispiele, und die politische Vergangenheit des Landes dürfte an diesen gegenüber dem übrigen Deutschland zweifellos etwas regsameren politischen Interessen wesentlich beteiligt sein. Wer, wie es mir begegnet ist, von Kind auf eine Reihe von Umwälzungen mitgemacht hat, von der Dorfrevolution bis zur Gründung des neuen Deutschen Reichs und darüber hinaus, dem werden die Erinnerungen an diese Ereignisse nicht so leicht aus dem Gedächtnis verschwinden, und sie haben die natürliche Tendenz, sich zu verbinden. So würde jene Dorfrevolution schwerlich in meinem Gedächtnisse haften geblieben sein, wenn mich nicht die Revolutionen von 1848 und 1849 und schließlich mit ihnen die politischen Wandlungen der späteren Tage immer wieder daran erinnert hätten. Infolge dieser inneren Verwandtschaft der sonst noch so weit abliegenden Ereignisse ist es aber doch das politische Leben, das eine solche Kontinuität vor anderen zustande bringt, so daß dieses in der eigenen Erinnerung als eine Art Sonderleben [R. S.: Das ist kein erleben] sich ausscheidet. Darum würde meine politische Vergangenheit vielleicht mir selbst als eine Irregularität erscheinen, wenn ich mir nicht bewußt wäre, daß sie einen für sich bestehenden Zusammenhang bildet. Mag es daher manchem Leser dieser Lebenserinnerungen sonderbar vorkommen, daß ich mit Dingen beginne, die mit meinem sonstigen Leben scheinbar sehr wenig zu tun haben, und daß ich sie zunächst als einen für sich bestehenden Inhalt herausgreife, so wüßte ich mir doch nicht anders zu helfen, wenn ich nicht eine Seite dieser Erinnerungen verschweigen sollte, die mir lebendiger als vieles andere im Gedächtnis erhalten geblieben ist. War mir doch das Schicksal beschieden, daß mich das gewohnte Nebeneinander verschiedener Leben-sinteressen für mehrere Jahre zu einem Berufswechsel führte, an dem, wie ich vermute, meine politischen Jugendeindrücke nicht unbeteiligt gewesen sind.
... Aber hatte in früherer Zeit dies nur ausnahmsweise gegolten, so war es immerhin die städtische Schule, die dies jetzt zum erstenmal Da und Dort W2004e10erlebte1, und ich halte es nicht für unmöglich, daß sich diese Gewohnheit fortgesetzt und befestigt haben würde, wenn nicht in der Folgezeit die in diesen Gegenden in ihren Anfängen erst um 1870 sich regende und vollends erst 1875 endgültig konstituierte sozialdemokratische Partei diesen Frieden gestört und damit auch die Schule wieder in ihren früheren Zustand zurückgeworfen hätte. ...
Beispiele aus Wundt mit psychologischem Erleben2 oder Erlebnis Kapitel 15, 17, 18
Aus15: "... Dabei hatte ich bei einem solchen nächtlichen Krankenbesuch
ein
W2015E10Erlebnis, das
mir beim völligen Erwachen einen schweren Schrecken erregte. In den
Krankenzimmern standen friedlich nebeneinander zwei an Wirkung sehr verschiedene
Medikamente, das damals unter dem Namen Laudanum Sydenhami bekannte Opiumpräparat
und die Jodtinktur. Ich reichte aber der Patientin und noch dazu mit dem
Bewußtsein, daß es die Jodtinktur war, diese statt des Opiums.
Hasse, dem ich am folgenden Morgen ein Sündenbekenntnis abgelegt,
vermied zunächst vorsichtig das Bett der Patientin mit der kurzen
Bemerkung: »Es wird ihr wohl nichts geschadet haben!« Mir aber
blieb ein so tiefer Eindruck, daß ich mich wochenlang mit dem Bedenken
trug, ob jemand, dem eine solche Verwechslung begegnen konnte, befähigt
sei, den ärztlichen Beruf auszuüben."
Aus 17: "... Diese Ruhe des Sterbens einmal W2017e10erlebt2 zu haben schätze ich für einen Gewinn, dem nichts anderes gleich kommt. ... Bei diesem Wunsche erneute sich in mir momentan die Erinnerung an jenes Erlebnis meiner Jugend, und ich sagte mir: ich wünsche das Gegenteil, um keinen Preis möchte ich dieses Leben verlassen, außer mit vollem Bewußtsein diesen Akt selber W2017e11erlebt1 zu haben."
Aus 18: "Noch ein anderer Zusammenhang ist mir
aber klar geworden, wenn ich mir in späteren Zeiten meines Lebens
diese Momente der letzten Ruhe des Daseins zu vergegenwärtigen suchte.
Das war die Verwandtschaft oder, wie ich wohl besser sagen würde,
die Einheit dieser Ruhe vom Leben mit dem religiösen Gefühl.
Als ich viele Jahre später zum ersten Male die Schriften des Meister
Eckehart zu Gesicht bekam, da fiel mir der Gedanke dieser Einheit wie eine
plötzliche Erleuchtung in die Seele. Es gibt viele dem fremd gegenüberstehende
Predigten und Aussprüche dieses gewaltigen Mannes. Aber es gibt einzelne,
die alle diese fremdartigen Bestandteile zurückdrängen, weil
sie mit sieghafter Kraft den unzerstörbaren Gedanken zum Ausdruck
bringen, daß die menschliche Seele in ihrer vollkommenen Reinheit
von allem, woran sie im Leben mit innerer Notwendigkeit als ihrer sinnlichen
Verkörperung gebunden ist, losgelöst gedacht vollkommen eins
mit der Gottheit selbst ist, und daß es außer dieser
innerlich W2018e12erlebten2
keine andere Gottheit und noch weniger eine Unsterblichkeit gibt, die den
Widersinn in sich schließen würde, dem wirklichen Leben zu entsagen
und gleichzeitig das nämliche wirkliche Leben in irgendeiner von ihm
verschiedenen Form noch einmal zu beginnen. Wer sich je diesen Gedanken
zu eigen gemacht hat, dem wird eben gerade die Einmaligkeit und Einzigartigkeit
dieses Lebens oder, was ja dasselbe bedeutet, die Einzigartigkeit des persönlichen
Daseins als die wahre Unsterblichkeit sich aufdrängen, die in dieser
Einheit den vollen Gegensatz zu jener vulgären Unsterblichkeit bildet,
die sich für ihn nunmehr in eine täuschende Illusion verwandelt.
Wird für den irgendeinmal der unzerstörbaren
Ruhe des reinen seelischen Seins teilhaft Gewordenen das eigene innere
W2018E11Erlebnis1i
zum unmittelbaren Gottesbewußtsein, so führt nun aber umgekehrt
der Zwiespalt beider ebenso notwendig zur Sehnsucht nach einer übersinnlichen
Welt, die mit diesem Leben den Zwiespalt aufhebt und damit einer andern,
zwar an sich völlig jenseits einer irgendwie vorstellbaren Wirklichkeit
liegenden, jedoch um so dringender begehrten Welt Platz macht. Darum fällt
für das Christentum der überlieferte Unsterblichkeitsglaube zusammen
mit dem Erlösungsgedanken, der das sinnliche Leben in einen dem Untergang
bestimmten Schein verwandelt. Hier eröffnet sich nun aber auch eben
jener Weg zur Beseitigung dieses Zwiespalts in dem Gefühl
des W2018e13Erlebens2
der Gottheit in der eigenen Seele, das ebenso unmittelbar
den Gedanken der äußeren in den der inneren, der Selbsterlösung
verwandelt. Ihm gegenüber bleibt dann der Gegensatz der beiden Unsterblichkeitsgedanken,
des einen als einer optimistischen, des anderen als einer pessimistischen
Auffassung des wirklichen Lebens, zurück. Der Optimist in diesem durch
die religiöse Nebenbedeutung ergänzten Sinne des Wortes hat das
äußere Erlösungsbedürfnis überwunden, weil er
der Selbsterlösung gewiß geworden ist, die ihn in dem sinnlichen
Leben eine Aufgabe erblicken läßt, die er zu lösen hat,
um in sich selbst die Einheit seiner eigenen Seele mit der Gottheit und
mit ihr die Einheit von Gott und Welt wiederzufinden. Dem in analogem Sinne
verstandenen Pessimisten bleibt dagegen das sinnliche Leben ein unüberbrückbarer
Gegensatz zum göttlichen Sein, und die Einheit des göttlichen
und des sinnlichen Lebens wird zu einem in dieser Wirklichkeit niemals
erfüllbaren Wunsch. Damit enthüllen sich aber jene Gegensätze
der Gottesidee, der unserer Seele immanenten und der ihr transzendenten,
als Gegensätze zweier Weltanschauungen, die einander widerstreiten
und zugleich ergänzen, weil jede eine für sich bestehende und
als solche durch die andere unersetzbare Weltbetrachtung darstellt. Zwischen
ihnen zu wählen, steht dem einzelnen nicht frei. Sie wird ihm durch
den Inhalt seines eigenen W2018e14Erlebens2
gegeben, denn er wählt mit innerer Notwendigkeit diejenige, in der
er seine Befriedigung findet, oder, wie der Ausdruck treffender lautet,
diejenige, die ihn beglückt; und hier liegt eben ihr Gegensatz darin,
daß zwar möglicherweise beide nacheinander, in verschiedenen
Perioden des Lebens, niemals aber beide zumal diese beglückende Macht
auf ihn ausüben."
...
Das klare Bewußtsein dieser Einheit lag in
jenem Augenblick, in welchem ich für eine lange Zeit von allen den
Aufgaben Abschied nahm, die ich meinem Leben gestellt, noch ferne, aber
es hat mir zu tagen begonnen, indem ich von diesem Moment an für alle
Zukunft den Ausgangspunkt gefunden hatte, nach welchem sich die äußeren
W2018E12Erlebnisse
und die sich ihnen anreihenden Erkenntnisse zu einem innerlichen Zusammenhang
ordneten. Denn von nun an begann ich zugleich meine W2018E13Erlebnisse
und Erkenntnisse als zugehörig zu einer in sich mehr und mehr einheitlichen
Weltanschauung zu betrachten, die in der sinnlichen Welt ihr notwendiges
Substrat und in der geistigen Welt die dem menschlichen Bewußtsein
gegebene lebendige Form dieses Substrats finde. Von diesem Augenblick an
ist es mir in fortschreitendem Maße klarer und klarer geworden, daß
es keine wissenschaftliche Erkenntnis gibt, die nicht zugleich in irgendeinem
Maße philosophische Erkenntnis wäre, und ebenso umgekehrt keine
philosophische Erkenntnis, die nicht mit der Gesamtheit der einzelnen wissenschaftlichen
Erkenntnisse zusammenfiele. Von da an hat sich mir daher in fortschreitendem
Maße die Nötigung aufgedrängt, die einzelne Arbeit jedesmal
gleichzeitig der tatsächlichen Wirklichkeit und einer das Ganze dieser
Wirklichkeit umfassenden Weltanschauung einzuordnen, und ich konnte mich
endlich der Überzeugung nicht verschließen, daß die Aufgabe
der Philosophie wesentlich darin bestehe, jenen Zusammenhang zwischen der
empirisch-sinnlichen Wirklichkeit und ihrer geistigen Wiedererzeugung in
dem menschlichen Bewußtsein wiederzugeben. Eben das schien mir in
der Geschichte der Philosophie zum ersten Male in der Sprache seiner Zeit
deutlich ausgesprochen zu sein in der platonischen Ideenlehre, insofern
sie die Ideen als die geistigen Urbilder der Dinge auffaßte, dann
in der Leibnizschen Umformung der Ideenwelt in ein den logischen Forderungen
seines Zeitalters angepaßtes System seelischer Einheiten, das Monaden-System,
und endlich in der kühnen, aber in seiner Durchführung einseitig
logizistisch und darum in seiner Anwendung scheiternden dialektischen Methode
Hegels.
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korrigiert: 29.11.2022 irs Rechtschreibprüfung und gelesen