Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=27.11.2022 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 13.08.23
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie,
    Abteilung Allgemeine Psychologie, Bereich Erleben, und hier speziell zum Thema:

    Erleben und Erlebnis in Koffkas (1886-1941)
    Zur Theorie der Erlebniswahrnehmung
    und einer Rezension von von Aster

    Recherchiert von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Zusammenfassung Koffka1920
    Ursprünglich geht es Koffka um die Selbstwahrnehmung. Aber der Ausruck gefällt ihm nicht, so das er ihne durch Erlebgniswahrnehmung bzw. Erlebnis-Wahrnehmung bzw. E.W. ersetzt.
        Koffka will eine Lösung für die Antinomie, dass die Wahrnehmung  das Wahrnehmungsobjekt verändert. Betrachten wir als allgemeinen Beispiel: Objekt => Innere Wahrnehmung => Sehen =>  Wahrnehmen =>  Erkennen, so haben wir bei genauer Betrachtung drei unterschiedliche Erlebnistatsachen. Die innere Wahrnehmung muss sehen nicht erfassen und sehen muss noch nicht zur Wahrnehmung des Gesehenen führen und das Wahrgenommenes muss noch nicht erkannt sein. Diese von Koffka so genannte Antinomie ist nach dem Hauptsatz der Erkenntnistheorie  grundsätzlich nicht auflösbar. Das reine Erleben  gibt es zwar real und als theoretisch unanfechtbare Konstruktion, aber wir können es wahrscheinlich nicht wahrnehmen und erkennen, ohne es zu verändern oder zu zerstören, es sei denn, es lässt sich M3 (Meta-Ich) wissenschaftlich begründen. Wenn wir einen  Sachverhalt  wahrgenommen und erst recht, wenn wir ihn erkannt haben, ist er etwas Verarbeitetes anderes geworden. Trotzdem können wir uns natürlich mehr oder weniger gut annähern ("Es gibt gute und schlechte Beschreibungen", S. 393), wenn wir richtige Psychologie gründlich und tiefgehend betreiben und viele, viele, sehr genaue, ausführliche und gut protokollierte Erkundungen durchführen. Dazu gehört auch, dass man sehr sorgfältig definiert, referenziert und mit operationalen Beispielen arbeitet, und zwar so, dass andere ErlebensforscherInnen dies wiederholen können.
    Fazit: Die Arbeit löst die selbstgestellte Frage nicht - und sie  ist nach dem Haupsatz der Erkentnistheorie auch gar nicht lösbar - , sie hat viele Schwächen und ist als Grundlage für die Psychologie des Erlebens und der Erlebnisse nicht geeignet. Erleben kommt in der Arbeit nicht vor, wehalb es auch gar nicht erklärt oder definiert werden kann. Aber auch Erlebniswahrnehmung, Erlebnis-Wahrnehmung oder das swynonyme Kürzel E.W wird in der Arbeit nicht erklärt außer dass Koffka die Empfindungen zu den Erlebniswahrnehmungen zählt, S. 391: "Erhalten bleibt vom Empfindungsbegriff nur dasjenige, was ursprünglich fiir die Trennung Ding-Empfindung maßgebend war. Alle Ersetzungen, die wir an die Stelle der Empfindungen setzen, müssen diese Eigenschaft haben, die wir dadurch kennzeichenen, daß wir sie auch Erlebnisse nennen. Die Erlebnisse sind aber ganz allgemein durch und für die Psychologie geschaffene Ersetzungen, und dies scheint mir die Rechtfertigung dafür zu sein, dab ich durchweg von Erlebnis- nicht von Selbst-Wahrnehmung spreche."

        Indizes und Fundstellen für Koffka und von Aster:

      KT1.zErleben bei Koffka keine, bei von Aster 2. Aber ein Erlebnis bedeutet, wie meist, auch bei Koffka immer auch ein erleben haben.
      KT2.zerlebt(e,en)  3
      KT3.zErlebnis(se,sen)  5
      KT4.zErlebnis-Wahrnehmung 9 oder Erlebniswahrnehmung 5 oder E.W. 25 (eigentlich 26, aber die Erläuterung S. 375 wird nicht gezählt), ergibt zusammen 39, wovon abzuziehen sind 12 Fundstellen im Titel und Kopfzeilentiteln 377, 379, 381, 383, 385, 389, 391, 393, 395, 397, 399),  die inhaltlich nichts besagt.


    Satz-I Die Erlebnis-Wahrnehmung erfaßt die Gegebenheiten so, wie sie sind. (S. 376)
    Satz-II  Das Beobachten ändert das Beobachtete nicht. (S. 377)
    Satz-II-N  die Negation von Satz II: Das Beobachten ändert das Beobachtete. (S. 377) und S. 381: "Ist nun der Satz II N empirisch fundiert? Er behauptet um das noch einmal zu sagen, daß Beobachtung lediglich eine  Eigenschaft der Phänomene, die Klarheit, ändert, alle übrigen aber [382] unberührt läßt."
    Satz-III Die Erlebnis-Wahrnehmung ist analytischer Natur. (S. 378)
    E.W. := Koffkas Kürzel für Erlebnis-Wahrnehmung.
    P Abkürzung für Phänomen, z.B. P1 S. 378

    Spezifikation innere Wahrnehmung - wahrnehmen - erkennen.



    Fundstellen im Koffka Text

    Titel:  Zur Theorie der KT4.1Erlebnis-Wahrnehmung

    375:     "Dem Plan dieser Zeitschrift und ihres Gründers entsprechend
    will ich hier ein Problem behandeln, das aus einer Einzelwissenschaft
    erwächst, aber die Grundlagen dieser Wissenschaft betrifft und so
    zu einem philosophischen Problem wird. Es ist das Problem der
    Selbstwahrnehmung, oder wie ich dafür lieber sage, der KT4.2Erlebnis-
    wahrnehmung (E.W.)."

    376:     "Jede wissenschaftliche Wahrnehmung und Beobachtung will
    ihr Objekt so, wie es ist, erfassen. Indem man die KT4.3Erlebniswahr-
    nehmung als die Wahrnehmung des Psychologen hinstellt, setzt
    man das Axiom: die KT4.4E. W. erfaßt die psychischen Gegebenheiten
    so, wie sie wirklich sind. (Satz I). Andererseits drängt sich die
    Überzeugung auf, daß Beobachtung das Gegebene verändern kann,
    ja daß analysierende Betrachtung, und als solche wurde die KT4.5E. W.
    stets aufgefaßt, das Gegebene verändert. (Satz II). Diese Aporie
    ist bis jetzt nicht restlos geklärt. Ihr sind die folgenden Zeilen ge-
    widmet."

      Kommentar376: Man kann kein Objekt, so wie es ist, erfassen. Das Kant'sche Ding an sich  ist eine Schimäre. Jede Objekterfassung geschieht durch ein erkennendes System und wird notwendigerweise durch dessen Organisation und Konstruktion gefiltert.
    _
            "Prüfen wir zunächst Satz I.
       Die KT4.6Erlebniswahrnehmung erfaßt die Gegebenheiten
                so, wie sie sind.

             "Dieser Satz erscheint selbstverständlich und fast inhaltslos."

      Kommentar: Nein. Der Satz, obwohl mehrdeutig, ist völlig falsch.


    "... Immerhin hat er Bedeutung und Konsequenzen genug. Da ist
    zunächst der vielfach beabsichtigte Gegensatz zur Ding- (äußeren)
    Wahrnehmung, die uns ihre Gegenstände verkleidet zeigen soll,
    mit dem Mantel des psychischen angetan; damit also eine Höher-
    stellung der KT4.7Erlebniswahrnehmung gegenüber der Ding-Wahrneh-
    mung, der man dafür wieder größere Präzision, Quantifizierbarkeit
    u. a. zuschreibt."

      Kommentar: Äußere Wahrnehmung heißt in der Regel Wahrnehmung außerhalb von mir liegender Wahrnehmungsquellen - die allerdings auch über die innere Wahrnehmung wahrgenommen werden.
        "In dem ,,so wie sie sind" liegt aber noch viel mehr: Die
    Gegebenheiten, die meine psychische Wirklichkeit ausmachen, die
    erfasse ich, erst und nur, in der KT4.8Erlebniswahrnehmung. Jeder
    Mensch KT2.1erlebt, erst der Psychologe merkt, beobachtet, was er erlebt
    hat. Die KT3.1Erlebnisse jedes Menschen sind Gegenstand der Psychologie,
    sie werden aber erst durch die psychologische Beobachtung wissen-
    schaftlich faßbar. Nur ein entwickeltes Bewußtsein ist einer hin-
    reichenden KT4.9E.W. fähig. Durch sorgfältige KT4.10E.W., vielseitige und
    häufig wiederholte Vergleichung verschiedener Erlebnisse miteinander" [>377]
      Kommentar: Hm, "erst der Psychologe merkt ...". Was soll eine wissenschaftliche Beobachtung eines Erlebnisses oder ein "entwickeltes Bewußtsein" sein? Hier ist Koffka begrifflich sehr ungenau und undifferenziert.
    ...
    377:     "Es gehört weiter zur Aufgabe der KT4.11E.W., vollständige Beschrei-
    bungen zu geben, d. h. Antworten auf alle Fragen über das Phänomen,
    die man etwa stellen kann. Tatsächlich soll es freilich nicht immer
    gelingen, alle Antworten zu erhalten, prinzipiell bleibt die Forderung
    davon unberührt.
        Diese Ansicht setzt voraus den Satz II N, der das Gegenteil
    von Satz II ist: Das Beobachten ändert das Beobachtete nicht.
        Dieser Gegensatz führt uns mit Notwendigkeit zu der Frage:
    was heißt denn ein Phänomen beobachten? Diese Frage ist sehr
    verschieden und sehr verschieden gründlich beantwortet worden.
    Eine sehr einfache Antwort lautet: in der KT4.12E.W. werden die Phäno-
    mene so aufgefaßt, wie sie an sich sind (Satz I), während in der
    äußeren Wahrnehmung die gleichen Inhalte eine andere Auffassung
    erfahren, nämlich unter dem Gesichtspunkt eines physischen
    Körpers. Demnach gibt es also Bewußtseinsinhalte, die eine ihnen
    an sich zukommende Beschaffenheit haben, die aber in verschiedener
    Weise oder auch gar nicht aufgefaßt werden können, wobei die Auf-
    fassung der KT4.13E.W. so beschaffen ist, daß Satz II N gilt. Nur ist es
    unmöglich alle Eigenschaften eines Phänomens auf einmal aufzu-
    fassen, bier liegt eine Grenze der KT4.14E.W., die infolgedessen nicht alles
    das finden kann, was wirklich da ist. Bei dieser Theorie bleibt nur
    unklar, was diese ,,Auffassung" ist."

    378:     "Das Wort Auffassung ist eines der unglücklichsten in der ganzen
    Psychologie: ,,Ich habe diesen Vorgang aufgefaßt", diese, nicht
    psychologisch gemeinte, Aussage des täglichen Lebens bedeutet,
    daß ich zu einem äußeren Geschehen ein bestimmtes (inneres) Ver-
    halten einnehme, derart, daß ich eine angepaßte Reaktion auf den
    äußeren Vorgang finde. Die psychologische Aufgabe besteht nun
    darin, daß man beschreibt, was sich in meinem Phänomen voll-
    zogen hat, wie sich meine Phänomene verändert haben, als ich
    ,,auffaßte." Aus der psychologischen Beschreibung fällt aber das
    Wort ,,auffassen" ganz heraus, es ist gar kein reiner Deskriptions-
    Begriff, sondern bezeichnet stets ein zueinander von Subjekt und
    Objekt im populären Sinn. Ich habe einen realen Vorgang auf-
    gefaßt, heißt also psychologisch: ich habe die und die Phänomene
    gehabt. Was soll es nun heißen: ich habe meine Bewußtseinsinhalte
    aufgefaßt? Eine nähere Bestimmung, die benutzt worden ist,
    lautet so: die Auffassung besteht darin, daß sich an das in der KT4.15E.W.
    aufzufassende Phänomen P1 andere Phänomene und zwar Vor-
    stellungen V1, V2, V3. ... anreihen, dergestalt daß der Vorstellungs-
    ablauf V1, V2, V3. ...  zu einer sich öfter wiederholenden Repro-
    duktion des Erinnerungsbildes von P1 führt, so daß dies Erinnerungs-
    bild in besonderem Maße befestigt, d. h. seine Reproduzierbarkeit
    erleichtert wird. Diese Anschauung besagt also, die KT4.16E.W. ist nichts
    anderes als eine Reproduktion vom Erinnerungsbild des zu beobach-
    tenden Phänomens. Das gewöhnliche Verhalten ist von dem der
    KT4.17E.W. nur dadurch verschieden, daß gewöhnlich die Reihe V1, V2, V3. ...
    von P1 fort - und nicht wieder zu seinem Erinnerungsbild führt.
    Es ist also behauptet, I. daß in der KT4.18E.W. erfaßte und gewöhnliche
    Phänomene identisch sind (Satz II N), 2. daß der Bewußtseins-
    ablauf sich in eine Reihe voneinander unabhängiger Stücke, Ele-
    mente zerlegen läßt: Denn wenn die einzelnen Stücke einander be-
    einflußten, könnte Satz II N, der aber nach I vorausgesetzt ist,
    nicht gelten. Wir wollen diese 2. Folgerung als den Satz von der
    analytischen Natur der KT4.19E.W.., Satz III bezeichnen.
        Ein anderer, dem letzten nicht widersprechender, Versuch be-
    stimmt den Unterschied der wahrgenommenen und nicht wahr-
    genommenen Phänomene durch eine diesen immanente Eigenschaft,
    nämlich ihre Klarheit. Beobachtete Phänomene sind klar, im Brenn-
    punkt der Aufmerksamkeit, oder, wie man sonst sagt, nicht beob-
    achtete unklar, am Rand des psychischen Blickfeldes. Ein Phänomen
    beachten heißt demnach: ein Phänomen mit der Eigenschaft Un-[>379]
    klarheit durch eins mit der Eigenschaft Klarheit ersetzen. Das
    sieht zunächst wie ein Widerspruch zu Satz II N aus, scheint also
    Satz II als Voraussetzung zu enthalten. Doch entspricht dieser
    Schein durchaus nicht dem Sinn der jetzt besprochenen Theorie.
    Denn sie setzt stillschweigend voraus: eine bloße Änderung der
    Klarheit, die beim Übergang vom nichtbeachteten zum beach-
    teten Phänomen vorliegt, läßt die übrigen Merkmale eines Phä-
    nomens sämtlich unverändert. Wenn ich ein Vexierbild noch nicht
    gelöst habe, so ist die gesuchte ,,Katz" als Phänomen genau so da
    wie nachher, wenn ich sie gefunden habe, nur eben ganz unklar.
    Dadurch nimmt man der Anwendbarkeit vom Satz II den Stachel,
    ersetzt ihn für die Erkenntnis durch II N und erreicht dadurch,
    daß man in der KT4.20E.W. nicht nur die beobachteten, sondern alle,
    auch die unbeobachteten Phänomene erfassen kann. Man braucht
    nämlich ein unklares Phänomen nur klar zu machen und zu beschreiben,
    und kann für das ursprüngliche unklare Phänomen die ganze Be-
    sehreibung beibehalten, muß nur das Merkmal ,,klar" durch ,,un-
    klar" ersetzen.
        Nun gibt es, wie von allen Psychologen anerkannt wird, gewisse
    Phänomene, die durch die Beobachtung verändert werden. Daß
    ich meinen eignen Zorn nicht beobachten kann, ohne ihn zu zer-
    stören, ist ein so altes Argument, daß es kaum erwähnt zu werden
    braucht. Trotzdem hat man versucht, auch ihm gegenüber Satz II N
    zu retten, und das auf zweierlei Art. I. Wo der eben erwähnte Fall
    vorliegt, hat man die direkte durch die rückschauende KT4.21E.W. zu er-
    setzen. Dieser von Mill stammende Ausweg ist wohl allgemein an-
    erkannt worden. 2. Man weist darauf hin, daß die Beschreibung auf
    Grund der rückschauenden KT4.22E.W. eben doch nicht die einzige Möglich-
    keit ist, daß es vielmehr zahllose Phänomene gibt, die sich unmittelbar
    beschreiben lassen, für die also der Einwand nicht gilt. Es sind dies
    zwar zunächst nur die ,,gezwungenen" Bewußtseinszustände, d. h.
    solche, die unter der auf KT4.23E.W. gerichteten Absicht auftreten. Bei
    den natürlichen muß erst untersucht werden, welchen Einfluß die
    Beobachtungsabsicht auf sie ausübt. Solche Einflüsse sind nun in
    der Tat aufgezeigt worden, sie beziehen sich aber wesentlich auf den
    Verlauf, d. h. auf die Aufeinanderfolge der einzelnen Elemente,
    indem durch Beobachtung eines Elements die sich daran an-
    schließenden weiteren Prozesse gestört oder verdrängt werden; so kann
    auch die Dauer des Vorgangs verändert werden. Die beachteten Ele-
    mente selbst können auch Änderungen erleiden, da es sich dabei [>380]
    aber nur um Verschiebungen der Deutlichkeits- (Klarheits-) Ver-
    hältnisse handeln soll, so verschlägt diese Veränderung nicht viel.
    Immerhin wird für ganze Verläufe die Beobachtungsabsicht die
    Natürlichkeit schädigen und den Verlauf verändern, wo es
    aber auf ein uns isoliert interessierendes KT3.2Erlebnis oder auf das End-
    glied eines komplizierten Gesamtvorgangs ankommt, fallen diese
    Bedenken prinzipiell fort."

      Kommentar380: Die Behauptung wird nicht belegt. >376.


    380:     "Fragen wir kurz nach den empirischen Stützen dieser Theorie. Die
    rückschauende KT4.24E.W. kann sich da nur auf die subjektive Über-
    zeugung und die objektive Bewährung berufen. Direkt läßt sie sich
    in den Fällen, wo sie allein möglich ist, nicht bestätigen, denn
    direkter Beobachtung sind die Phänomene ja dann nicht zugäng-
    lich. Die Bewährung ist keinesfalls ein eindeutiges Argument.
    Wesentlich günstiger scheint es mit der unmittelbaren KT4.25E.W. zu
    stehen. Eine Farbe, eine Form, einen Ton, einen Akkord, einen
    Geruch, einen Geschmack kann ich während ihrer wahrnehmungs-
    mäßigen Gegebenheit beachten und erfassen. Für diese Fälle scheint
    es nun über jeden Zweifel erhaben, daß Beschreibung und Be-
    schriebenes zusammenfallen, daß die Beschreibung wirklich das zu
    Beschreibende widergibt. Geben wir das zu, so ist damit noch
    nicht die volle Lösung des Problems der KT4.26Erlebniswahrnehmung er-
    reicht; wir stehen zunächst nur vor der Tatsache, daß es einige In-
    halte gibt, bei denen das gemeinte Verhältnis zwischen Beschreibung
    und Beschriebenem obwaltet, eben die, die während ihres Gegebenseins
    erfaßt werden. Daß dies eine ungeheure Einschränkung ist, wird
    sofort klar, wenn man sich die Voraussetzung vergegenwärtigt, die
    unausgesprochen zu diesem Befund hinzugesetzt zu werden pflegt.
    Man wird diesen nämlich so formulieren: das Deckungsverhältnis
    zwischen Beschreibung und Beschriebenem besteht für alle Gegeben-
    heiten, die während ihres Gegebenseins erfaßt werden können.
    Diese Voraussetzung, die den Satz II N impliziert, muß man machen,
    wenn man durch KT4.27Erlebniswahrnehmung die natürlichen, all-
    täglichen Gegebenheiten abbilden will, und diese nicht auf die
    beachteten Gegebenheiten experimentierender oder beobachtender
    Psychologen beschränkt. Aber die Voraussetzung ist keineswegs
    bewiesen, ja, sie ist unbeweisbar. Es ist eine Behauptung, daß die
    Gegebenheit blau, die ich jetzt betrachte und beschreibe, und die,
    die ich eben hatte, als ich mich über die blaue Farbe jener Wand-[>381]
    bekleidung freute, dieselbe Gegebenheit sind. ..."

    381:     "Wir sehen, die ganze Lehre ruht auf Satz II N. Denn wenn
    wir die letzte Voraussetzung fallen lassen, dann lassen sich nur noch
    ,,erzwungene" Phänomene beobachten, der natürliche Ablauf wäre
    jeder KT4.27E.W. entzogen, da wir kein Recht hätten, von jenen auf diesen
    zu schließen."

    391:     "Der Weg der psychologischen Forschung kann also nicht darin
    bestehen, die Empfindungen durch andere Elemente zu ergänzen.
    Das hat schon Rahn mit aller Schärfe gezeigt. Er muß vielmehr so
    gehen, daß an die Stelle der Empfindung andere Begriffe, andere
    Gesetze treten, die den neu erwachsenen Aufgaben besser gerecht
    werden. Anders gesagt: Man wird nicht mehr überall Empfindungs-
    phänomene erzeugen, um zu Erklärungen zu kommen. Die Emp-
    findung war schließlich das Phänomen geworden, das entstand,
    wenn man mit extrem analytisch gerichteter Einstellung an die
    Phänomene heranging. Man wird aber diese Einstellung und damit
    Satz III zugunsten einer anderen aufgeben müssen.
        Erhalten bleibt vom Empfindungsbegriff nur dasjenige, was
    ursprünglich für die Trennung Ding-Empfindung maßgebend war.
    Alle Ersetzungen, die wir an die Stelle der Empfindungen setzen,
    müssen diese Eigenschaft haben, die wir dadurch kennzeichnen,
    daß wir sie auch KT3.3Erlebnisse nennen. Die KT3.4Erlebnisse sind aber ganz
    allgemein durch und für die Psychologie geschaffene Ersetzungen,
    und dies scheint mir die Rechtfertigung dafür zu sein, daß ich durch-
    weg von KT4.28Erlebnis- nicht von Selbst-Wahrnehmung spreche"



    Rezension von von Aster (1924)
    Koffka beginnt seine Abhandlung mit einer klar und scharf hervor-
    gehobenen Antinomie, zu der die Entwicklung der modernen Psychologie
    geführt hat. Psychologie beruht auf der Wahrnehmung der eigenen Erleb-
    nisse, durch sie wird ihr das nötige Tatsachenmaterial geliefert, auf dem die
    Psychologie sich aufbaut. Dieser Aufgabe aber kann, so scheint es, die
    Erlebniswahrnehmung nur genügen, wenn in ihr die Erlebnisse wirklich
    so erfaßt werden wie sie sind, wenn mit anderen Worten die Wahrnehmung
    an den Erlebnissen nichts ändert bzw. ihnen nur einen ,,Klarheitszuwachs"
    gibt, der ihr eigentliches Wesen nicht verändert. Nun zeigt aber gerade
    die Entwicklung der neueren Psychologie immer deutlicher, daß eben diese
    Annahme, diese Voraussetzung des Verhältnisses von Erlebnis und Erlebnis-
    wahrnehmung nicht haltbar ist. Das ,,wahrgenommene", ,,beobachtete"
    und auf Grund der Beobachtung ,,beschriebene" Erlebnis steht in einem
    anderen Zusammenhang, es gliedert sich ein in ein anderes Ganzes, es ist
    selbst anders gegliedert. Damit aber ist es selbst notwendigerweise ein
    anderes Erlebnis. Denn Erlebnisse sind keine Atome, die, selbst unverändert, [>360]
    nur in verschiedenen Kombinationen auftreten. Es ist klar, daß diese
    Antinomie gerade für die Vertreter der ,,Gestaltpsychologie" zwingend
    werden mußte, denn im Zentrum der Gestaltpsychologie steht ja eben der
    Gedanke, daß das Bewußtseinsleben keine Summe assoziativ verbundener
    psychischer Atome ist. Mit Recht hebt Koffka gelegentlich hervor, daß
    jene erste Auffassung, nach der das Wahrnehmen der Erlebnisse ein ad-
    äquates Erfassen derselben in wachsendem Klarheitsgrad sei, eng zusammen-
    hängt mit jener Psychologie, deren Grundlage ein verdinglichter Empfin-
    dungsbegriff war. Die Lösung nun, die Koffka für die Antinomie gibt,
    geht kurz zusammengefaßt dahin, daß das Wahrnehmen und Beschreiben
    eines Erlebnisses nicht ein einfaches Erfassen, sondern bereits ein Verarbeiten
    des Erlebnisses, ein Ersetzen desselben durch ein anderes Erlebnis ist,
    nämlich durch ein anders gestaltetes, genauer durch ein besser durchgestal-
    tetes. Zur Verdeutlichung greift Koffka zunächst zurück auf das Beispiel
    der Beschreibung eines Dinges - eines zum erstenmal von einem Beschauer
    gesehenen Motors. Beschreiben und Sehen eines solchen Motors stehen in
    einer eigentümlichen Wechselwirkung: Angenommen ich verstehe nichts
    von dem Motor, der Funktion und dem Zusammenhang seiner einzelnen
    Teile, so ,,sehe" ich einen Wirrwarr, bestenfalls eine Summe von eckigen
    und runden Teilen, eine Beschreibung ist dann entweder überhaupt nicht
    (beim ,,Wirrwarr") oder nur als Aufzählung jener Teile möglich. Solche
    Beschreibung ist offensichtlich ebenso ,,schlecht" wie solche Wahrnehmung.
    Ihr steht gegenüber eine Beschreibung, die die Funktion und den Zusammen-
    hang der Teile trifft und ihr entsprechend ein gestaltetes Sehen des Motors,
    wie es nicht nur einer solchen Beschreibung zugrunde liegen, sondern auch
    durch sie bedingt, hervorgerufen werden kann.
        Läßt sich das für Wahrnehmung und Beschreibung eines Dinges
    Geltende auf die des Erlebnisses übertragen? Die Bedenken liegen auf der
    Hand: Es ist ,,derselbe" Motor, den ich als Wirrwarr oder Summe von
    Teilen und dann als gegliedertes Ganzes sehe (oder wie ich dafür auch sagen
    kann ,,erlebe"), darf ich in demselben Sinn auch von ,,demselben Erlebnis"
    reden, das ich einmal so und einmal so erlebe? Koffka selbst ist sich der
    Schwierigkeit wohl bewußt, er betont insbesondere selbst nachdrücklich
    und mit vollem Recht, daß ein Phänomen, das unter einer bestimmten
    Einstellung entsteht, auch nur bestimmte, von dieser Einstellung aus fast-
    gelegte Eigenschaften hat: Ein reales Blau hat notwendigerweise einen ganz
    bestimmten Helligkeitsgrad, nicht so das erlebte oder vorgestellte Blau als
    solches, das eben nach dieser Richtung unbestimmt sein und bei dem daher
    die Frage nach seiner Helligkeit sinnlos sein kann. Trotzdem glaubt Koffka
    das Wesentliche, das oben von der Dingwahrnehmung und -beschreibung
    gesagt wurde, auf die des Erlebnisses übertragen zu dürfen. Auch hier kann
    wohl ein Beispiel seine Meinung am besten wiedergeben. Wir können mit
    Koffka sagen, daß ein gehörter Ton nicht nur Höhe, Lautheit und Klang-
    farbe, sondern auch seinen bestimmten Vokalcharakter hat. Das ist eine
    Beschreibung des Tonerlebnisses, und in bestimmtem Sinn gilt diese Be-
    schreibung auch von den Tonerlebnissen derer, die bisher diesen Vokal-
    charakter nicht herauszuhören imstande waren. Der Ton mit erkanntem [>361]
    Vokalcharakter ist in gewissem Sinne, um mit Koffka zu reden, das Ideal
    jenes Erlebnisses, das der beobachtende Psychologe aus ihm gestaltet
    hat und von dem aus rückschauend er jenes frühere Erlebnis in seinem
    Abstand von diesem Idealbild bestimmt. (Allerdings fügt hier Koffka
    mit Recht hinzu: Die Übertragung. dieser Beschreibung wird zugleich
    dadurch gerechtfertigt - und muß dadurch gerechtfertigt werden -,
    daß derjenige, der jetzt den Vokalcharakter hört, das Bewußtsein hat,
    daß seine frühere Beschreibung durch Höhe usw. in irgendeiner Weise
    unzureichend war.) Zugleich aber muß sich die ,,bessere" Erlebniswahr-
    nehmung und -beschreibung wie beim Ding dadurch dokumentieren, daß
    sie fruchtbar ist, unser Verständnis für weitere Tatsachen fördert,
    also Grundlage einer Theorie weiterer Erscheinungen werden kann. So
    wird durch Köhlers Beschreibung eine Reihe bekannter Tatsachen ver-
    ständlich.
        Soweit Koffka. Ref. hätte den sehr beachtenswerten und interessanten
    Ausführungen nur einige Anmerkungen anzufügen. 1. Wenn in dieser Weise
    das Ergebnis einer späteren Erlebnisgestaltung auf das frühere Erlebnis
    übertragen wird, darf natürlich nie vergessen werden, daß diese Übertragung
    eben doch nur in dem Sinn berechtigt ist, als sie die Möglichkeit bedeutet,
    vom einen zum anderen Erlebnis unter bestimmten Bedingungen zu kommen.
    2. Koffka spricht von gestalteten und im Gegensatz dazu ungestalteten,
    vielmehr schlechter gestalteten Phänomenen, d.h. solchen, die bloße
    ,,und-Verbindungen" darstellen, und von entsprechender Beschreibung.
    Man darf aber dabei nicht übersehen, daß jede Beschreibung nur in auf-
    zählender Form geschehen kann, das Beschriebene also in eine Summe
    auflöst, nur daß zu den Summanden auch jene Beziehungen gehören können,
    die das Aufgezählte als kein bloßes unverbundenes Nebeneinander charak-
    terisieren. 3. Koffka lehnt ausdrücklich die ,,Ansicht" ab, nach der ,,die
    Erlebnisse das ursprünglich Gegebene seien, aus denen der Mensch erst die
    ,,Dingwelt aufgebaut" habe - die Sache verhalte sich umgekehrt, insofern
    der Begriff des ,,Erlebnisses" der spätere sei. Gewiß - jene ,,Gestaltung"
    des Bewußtseinsganzen, die dasselbe als ein Kommen und Gehen von Dingen
    ,,beschreibt", ist die ursprünglichere - was nicht ausschließt, sondern
    meiner Meinung nach einschließt, daß die ,,spätere" Beschreibung, die das,
    was ursprünglich mit einem zusammenfassenden Ausdruck ,,Ding" genannt.
    aber nicht weiter gegliedert wurde, in einen ganz bestimmten, durch Erwar-
    tungseinstellungen konstituierten Zusammenhang wiederkehrender Erleb-
    nisse auflöst, auch die ,,bessere" ist und in demselben Sinn auf das ursprüng-
    liche ,,Dingbewußtsein" übertragbar ist, wie Köhlers Beschreibung des
    Tones auf das Tonbewußtsein derer, die zwar nur von ,,Tonhöhe" usw.
    ,,reden", aber doch Vokale ,,hören".                     v. Aster, Gießen.
     
     



    Literatur (Auswahl)

    Koffka, Kurt (1921) Zur Theorie der Erlebniswahrnehmung. Annalen der Philosophie volume 3, pages 375–399
    Rezension: Aster, Ernst v. (1924) Rezension Koffka Zur Theorie der Erlebniswahrnehmung. Psychologische Forschung volume 5, pages 359–361 (1924)

    Von Koffka auf der ersten Seite genannte Autoren:
    "In dieser Vorbemerkung will ich aber auf die Schriften von G. E. Müller 1) Ziehen 2) und Campbell 3) hinweisen, besonders aber auf die ausgezeichnete Studie von Rahn 4), die in vielen wesentlichen Punkten mit hier vorgetragenen Ansichten übereinstimmt, wenn sie auch die letzte hier dargelegte Lösung nicht gibt.

      1) Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufs, I. Teil, Erg.-Bd. 5 der Ztschr. f. Psychol., Leipzig 1911.
      2) Die Grundlagen der Psychologie, II. Band, Leipzig u. Berlin 1915.
      3) Fiktives in der Lehre von den Empfindungen. Eine Studie aus dem Problemkreis der ,,Philosophie des Als Ob", Berlin 1915.
      4) The Relation of Sensation to other Categories in Contemporary Psychology. The Psych. Mon. XVI, I, 1913.




    Links (Auswahl: beachte)



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    __
    Satz II N. Das ist die Negation von Satz II: ""
     


    Querverweise
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Erleben und Erlebnis in Koffkas Zur Theorie der Erlebniswahrnehmung. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/erleben/Koffka.htm

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    13.08.23    Ergänzungen in der Zusammenfassung.
    28.11.22    irs Rechtschreibprüfung und gelesen
    27.11.22    Angelegt und ausgewertet.