Titchener (1912) Die Phantasievorgänge
Titchener, Edward Bradford (1912) Die Phantasievorgänger.
In (422-425) Titchener, Edward Bradford (1912) Lehrbuch der Psychologie.
Zweiter Teil. Leipzig: Barth.
Reader zur Psychologischen Analyse des Phantasiebegriffs.
Einige Extrakte.
Aufbereitet von Rudolf Sponsel, Erlangen
"§ 119. Die Phantasievorgänge. — Über die Phantasie
ist viel geschrieben worden; tatsächlich aber wissen wir noch sehr
wenig über die psychologische Natur der Phantasievorgänge. Die
meisten psychologischen Darstellungen bewegen sich in den Begriffen irgend
einer psychologischen Theorie, und die zur Stützung dieser Theorien
mitgeteilten Aussagen der Selbstbeobachtung stammten meistens von ungeübten
Beobachtern und entbehrten einer genügenden Kontrolle der Beobachtungsbedingungen.
Soviel scheint aber klar zu sein, daß eine
Vorstellung nur dann für uns eine Phantasievorstellung sein kann,
wenn sie als eine unbekannte in unser Bewußtsein eintritt und von
einem Gefühl der Neuheit oder Fremdheit umgeben ist; dieses Gefühl
der Fremdheit ist für die Phantasie ebenso wichtig wie das der Bekanntheit
für das Gedächtnis. Die Bewußtseinslage bei der Phantasievorstellung
kann dann entweder die der aktiven oder der passiven Aufmerksamkeit sein
(S. 275 f.), und wir sprechen je nachdem von passiver oder reproduktiver
und von aktiver, schöpferischer oder konstruktiver Phantasie. In beiden
Fällen ist das Bewußtsein eher synthetisch als diskursiv. Der
Umfang der Aufmerksamkeit ist begrenzt, das Spiel der Assoziationen geregelt.
Die schöp[>423]ferische Phantasie geht in Denken über und vollendet
so den psychologischen Entwicklungsgang von S. 414.
Zwei völlig entgegengesetzte Hypothesen über
die Beschaffenheit der Phantasievorgänge stehen gegenwärtig zur
Diskussion. Nach der einen entsteht die Phantasievorstellung oder deren
Verbindung von außen, gleichsam durch Inspiration; das Gedicht ererklingt
von selbst vor dem inneren Ohr; die Bilder und Farben des Malers leuchten
von selbst vor dem inneren Auge. Phantasie ist eine angeborene Gabe oder
Veranlagung, die ihren Ausdruck findet, nicht sucht. Nach der zweiten sondern
sich die Phantasievorgänge aus einer Fülle von Reproduktionen
heraus; Assoziationen ketten sich an die durch die Aufmerksamkeit bevorzugten
Vorgänge, und das schließliche Ergebnis entsteht auf Grund einer
Auswahl und Verknüpfung dieser assoziierten Vorstellungen. Nach der
ersteren Hypothese ist das mit Phantasie begabte Individuum der Träumer
der Träume und der Seher der Visionen; nach der .letzteren ist es
derjenige der plant, gestaltet, auswählt. So erscheint die Phantasie
bald als typisch passives, bald als typisch aktives Temperament: genau
so wie das Genie hier als die Fähigkeit großes ohne Anstrengung
zu vollbringen, dort als die Fähigkeit unbegrenzte Mühe auf sich
zu nehmen geschildert wird. Beide Behauptungen lassen sich geistreich stützen.
Wir haben keine Anhaltepunkte um eine endgültige
Entscheidung zu treffen. Dem Verf. scheint aber eine Psychologie der Phantasie
etwa die folgende Form annehmen zu müssen. Überall liegt eine
kortikale Bedingung, eine nervöse Veranlagung zugrunde, die vielleicht
vererbt und dauernd oder erworben und vergänglich ist. Dieser Hintergrund
kann für das Bewußtsein überhaupt verborgen bleiben oder
er kann als eine unbestimmte Bewußtseinslage (passive Phantasie)
oder auch mehr oder minder bestimmt als Aufgabe oder Plan erscheinen (aktive
Phantasie). Ob sie nun bewußt wird oder nicht, jedenfalls bestimmt
die nervöse Disposition den Verlauf des Bewußtseins. Sie hilft
auch den Phantasievorgang einzuleiten, dessen Beginn in der Tat für
gewöhnlich als eine Art Inspiration, ein glücklicher Gedanke
erscheint: irgend eine äußere Situation oder eine Gruppe von
Assoziationstendenzen, die in diesem Augenblicke erregt werden, löst
die Disposition aus und die einleitende Vorstellung blitzt im Bewußtsein
auf. Ob diese Vorstellung verschwommen oder vollständig ist, ob die
folgenden Bewußtseinsvorgänge eng oder breit sind, sich auf
einige Reproduktionen konzentrieren oder ausstrahlen, [>424] alles das
hängt
ganz von den Umständen ab. Wenn wir uns mit der aktiven Phantasie
beschäftigen, ist das folgende Stadium, in dem eine Vorstellung weiter
bearbeitet wird — obgleich es hier und da durch andere glückliche
Einfälle unterbrochen werden kann —, im Wesen das Stadium einer gewohnten
Arbeit, nämlich der sekundären Aufmerksamkeit, nur daß
sie mit dem Ausdruck der Vorstellung in objektiver Form endet. Inzwischen
sind verschiedenartige Gefühle im Bewußtsein abgelaufen. Die
Phantasievorstellungen bringen das Gefühl der Fremdheit mit sich.
Aber genau so wie die Annehmlichkeit des Wiedererkennung in der stärkeren
Unannehmlichkeit des wiedererkannten Objektes verloren gehen kann, kann
sich auch die Fremdheit der Phantasievorstellung in der Annehmlichkeit
des Erfolges verlieren, oder in der noch stärkeren Unannehmlichkeit
des Mißglückens untertauchen; und diese Gefühle können
miteinander wechseln, so daß das Bewußtsein zwischen entgegengesetzten
Polen des Gefühls hin und her pendelt. In der Zwischenzeit ist ferner
die Einfühlung am Werke gewesen und hat die Teilergebnisse jener schöpferischen
Tätigkeit belebt und beseelt. In jedem Falle ist das Gesamtbewußtsein
durch die zugrunde liegende nervöse Disposition bedingt und geregelt.
Beim Gedächtnis ist der Beobachter durch die Unverrückbarkeit
der Vergangenheit auf bestimmte Grenzen beschränkt, die er nicht überschreiten
kann; aber innerhalb dieses Zusammenhanges kann er sich nach Belieben bewegen;
das Bewußtsein ist diskursiv. Bei der Phantasie geht das Bewußtsein
als ganzes aus dem Quell der Disposition hervor, keine Grenzen stehen ihm
entgegen, außer denen der individuellen Veranlagung und Erfahrung;
aber dieser Strom fließt unabhängig von seinem Volumen immer
in einer bestimmten Richtung; das Bewußtsein ist, wie wir gesagt
haben, synthetisch.
Welches sind nun die fokalen Vorgänge? Es liegt
natürlich nahe zu sagen — Vorstellungsbilder. Und die Antwort ist
wahrscheinlich richtig, wenn es gestattet ist den Ausdruck „Vorstellungsbild"
entsprechend zu definieren. In vielen Fällen sind es Bilder im wörtlichen
Sinne, visuelle, akustisch-kinästhetische, kinästhetische. In
vielen Fällen sind es Wortvorstellungen. Aber der Name muß auch
auf Vorgänge ansgedehnt werden, die nur noch Symbole für ein
Wahrnehmungserlebnis sind, und der Wahrnehmung selbst nicht ähnlicher
als etwa der gedruckte Bericht über eine Theateraufführung dieser
Aufführung selbst. Wenn wir die Phantasievorstellungen jenseits des
Stadiums der wahr[>425]nehmungsartigen Zusammengesetztheit |§ 118)
verfolgen, so finden wir, daü sie eine Übertragung und eine Vereinfachung
erfahren: eine Übertragung von einem Sinnesgebiet in ein anderes entlang
der Linie des kleinsten nervösen Widerstandes; und eine Vereinfachung
von der expliziten Abbildung zur symbolischen. Vereinfachung bedeutet nicht
Annäherung an einen Typus; vielmehr tritt eine Schematisierung ein,
eine Teilansicht oder ein Fragment des Ganzen vikariiert für das Ganze
selbst wie ein stenographisches Zeichen. Dies scheint das einzig wahre
an der herkömmlichen Behauptung zu sein, daß die Phantasievorstellungen
dazu neigen, sich ins allgemeine und abstrakte zu verflüchtigen und
zu Schatten ihres einstigen Selbst herabzusinken. Sie verflüchtigen
sich überhaupt nicht in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes, im
Gegenteil behalten sie alle, die eigentlichen Reproduktionen, die Wörter
und Symbole, eine beinahe sensorische Beständigkeit und Realität;
das ist der Punkt, den wir schon betont haben, und den wir vor allem im
Auge behalten müssen; aber sie werden einfach und konventionell, und
werden aus Abbildern zu bloßen Symbolen.
Der Leser bedenke, daß diese Darstellung nur
ein Versuch ist und über die experimentellen Tatsachen weit hinaus
geht. Sie hat das Verdienst die zwei oben erwähnten Hypothesen zu
vereinheitlichen und stimmt mit den bisherigen Befunden der Selbstoeobachtung
überein. Sie kann indessen durch zukünftige Untersuchungen erheblich
verändert werden."
1) GIPT=
General
and Integrative
Psychotherapy, internationale Bezeichnung
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
___
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