Materialien und Dokumente zum Wahnproblem
Wahn in den Arbeiten Manfred Spitzers
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Kritik
der Wahnarbeiten von Spitzer
"A re-definition of delusion
Zusammenfassung. Ausgehend von den Jaspersschen Wahnkriterien und begründet auf allgemeine Überlegungen zum erkenntnistheoretischen Gewißheitsgrad von Urteilen wird eine neue Definition von Wahn vorgeschlagen: Beim Wahn handelt es sich um Aussagen, die formal wie Aussagen über einen mentalen Zustand geäußert werden, bei deren Inhalten es sich jedoch nicht um mentale Zustände, sondern um intersubjektiv zugängliche („objektive") Sachverhalte handelt. Aus dieser Definition ergibt sich unmittelbar, daß es klinisch bei der Diagnose von Wahn nicht um eine empirische Validierung oder Falsifizierung von Patienten- aussagen geht, sondern um die genaue Erfassung der Art, wie eine Person bestimmte Aussagen vertritt. Erlebnisse der Eigenbezie- hung sollten nicht als falsche Aussagen über die Realität, sondern als richtige Aussagen über das eigene Erleben, d.h. als Ichstörung interpretiert werden. Aussagen depressiver oder manischer Patienten über ihre mentalen Zustände sollten ebenfalls als wahre Aussagen über ihr Denken und Erleben und nicht als Wahn aufgefaßt werden. Analytische Urteile sind keine Wahnurteile {der Ausschluß richtiger analytischer Urteile ist trivial, falsche analyti- sche Urteile sind als formale Denkstörungen zu klassifizieren)." [2, S. 95] |
Zusammenfassung Kritik: Spitzer weist mit Recht auf die anderen Gegebenheiten subjektiv gewisser und unkorrigierbarer Aussagen hin und darauf, dass der Erkenntnisweg für den Wahn entscheidende Bedeutung haben kann. Aber: Bei vielen Wahnphänomenen handelt es sich nicht um "intersubjektiv" zugängliche ("objektive") Sachverhalte, sondern um Fantasieobjekte, z.B. im religiösen Bereich (direkte Kommunikation mit metaphysischen Objekten, etwa mit Gott, dem Heiligen Geist, Teufeln oder Engeln; Verstorbenen). Aber auch im Inneren können wahnhafte Entwicklungen stattfinden, wenn jemand sich vom Teufel besessen wähnt, oder wenn innere Empfindungs- halluzinationen wie z.B. beim Dermatozoenwahn oder bei coenästhetischen Phänomenen mit bestimmten Bedeutungen attribuiert werden. Wir können auch nicht prüfen, ob Aussagen über das eigene Erleben angemessen oder wahr sind. |
"... Die Frage ist: Gibt es Aussagen, hinsichtlich derer sich eine gesunde Person "absolut sicher" ist, so daß sie sich durch keine denkbaren Argumente korrigieren läßt? - Wenn es solche Aussagen gibt, dann besitzen sie formale Ähnlichkeit zu Wahnurteilen, denn Wahnkranke sind hinsichtlich ihrer Wahnurteile gemäß den Jaspersschen Wahnkriterien gewiß und unkorrigierbar." [2, S. 96] | In bald 35 Jahren psychologischer und psycho- therapeutischer Erfahrung habe ich gelernt, dass sich Menschen keineswegs - und schon gar nicht absolut - sicher sind, was sie gerade erleben. Gerade nicht im affektiven Bereich. Das Klären des Erlebens ist sogar Schwerpunkt bestimmter Therapieformen (Klientenzentrierte Psychothe- rapie (GT) nach Rogers; Focusing (Gendlin). |
"Spricht jemand über "objektive" Sachverhalte, so kann er sich prinzipiell irren oder täuschen. Lediglich bei Aussagen, die eine Person über sich selbst macht, - kann es vorkommen, daß jeder Irrtum oder jede Täuschung ausgeschlossen ist, .nämlich dann, wenn sie über sich in einer bestimmten Weise spricht." [2, S. 96] | Das geht genauso bei subjektiven "Sachver- halten". Die Formulierung "kann es vorkommen" ist nicht zu beanstanden. Es kommt vielfach vor und kann demnach erst recht auch vorkommen. Diese liberale Formulierung wird aber unten aufgehoben und verschärft. |
"Halten wir fest: Es gibt eine Klasse von Aussagen hinsichtlich derer jede Person subjektiv gewiß und unkorrigierbar durch andere ist. Damit erscheinen die ersten beiden Jaspersschen Wahnkriterien, subjektive Gewißheit und Unkorrigierbarkeit, in einem ganz neuen Zusammenhang: Diese Kriterien sind erfüllt bei allen Aussagen, die eine Person über sich - genauer: über ihren Innenaspekt - macht Es gibt somit neben Wahnurteilen eine Klasse von Urteilen, die ebenfalls das erste und zweite Jasperssche Wahnkriterium erfüllen, ohne hingegen in klinischen oder sonstigen Sprachgebrauch als Wahn zu gelten - Aussagen einer Person über ihre mentalen Zustände." [2, S. 96] | Was oben noch eine Möglichkeit war - "kann es vorkommen" - wird nun auf einmal zu einem psychologischen Naturgesetz erklärt, das sicher falsch ist und zu den obigen liberalen Ausführun- gen auch im Widerspruch steht. Zwar ist richtig, dass es viele solcher Aussagen gibt, aber es ist auch richtig, dass Menschen Aussagen über ihre Innenaspekte präsizieren, korrigieren, modifizieren oder sehr unbestimmt und vage sein lassen oder auch gar nicht in Worte und Aussagen fassen können. |
"Formaler Ich-Bezug und Wahn
Subjektiv gewiß und unkorrigierbar ist jede Person, wenn sie über ihre eigenen mentalen Zustände [>97] spricht. Was den Wahnkranken vom Gesunden unterscheidet, ist, daß er subjektiv gewiß und unkorrigierbar über Sachverhalte spricht, die nicht im Bereich seiner mentalen Zustände liegen : Dinge, Ereignisse, andere Menschen. Was dem Kliniker im Wahnkranken mithin begegnet, ist eine Person, die ihren erkenntnistheoretischen "Absolutheitsanspruch" in unzulässiger Weise ausdehnt auf intersubjektiv zugängliche Sachverhalte, d.h. auf Sachverhalte, die kommunikabel sind bzw. hinsichtlich derer keineswegs ein asymmetrisches epistemologisches Verhältnis zwischen zwei Personen besteht." [2, S. 97] |
Nein. Weder muss eine gesunde Person
subjektiv und unkorrigierbar sicher in ihren Aussagen über ihre inneren
mentalen Zustände sein, noch geht es nur um äußere Aspekte.
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"Wir können somit Wahn wie folgt definieren: Beim Wahn handelt es sich um Aussagen, die formal wie Aussagen über einen mentalen Zustand geäußert werden, bei deren Inhalten es sich jedoch nicht um mentale Zustände, sondern um intersubjektiv zugängliche ("objektive") Sachverhalte handelt." [2, S. 97] | Nach Spitzers eigener Unterscheidung, sind beide Aussagen grundsätzlich zu unterscheiden, da "ich denke gerade" sich auf den Innenaspekt und "man ist hinter mir her" auf den Außenaspekt bezieht. So bleibt unklar, was "epistemolo- |
"... Es besteht also eine epistemologisch-formale Analogie zwischen der Aussage "ich denke gerade" einer gesunden Person und der Aussage "man ist hinter mir her" eines Wahnkranken." [2, S. 97] | gisch-formale Analogie" aussagen soll, wobei ohnehin die Unterscheidung Innen- oder Außenaspekt nicht wirklich weiterhilft. |
"Was die vorgeschlagene Charakterisierung leistet und
was sie nicht leistet
Vorteile gegenüber dem dritten Jaspersschen Wahnkriterium
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Das dritte Jasperssche Wahnkriterium ist sicher ungeeignet. Das es grundsätzlich nicht auf Richtigkeit oder Falschheit der Überzeugung ankommt, stimmt in dieser Striktheit nicht. Es gibt sicher viele falsche Modelle der Wirklichkeit, die mit subjektiver Gewissheit unkorrigierbar vertreten werden. Aber es ist richtig, dass auch richtige Modelle der Wirklichkeit wahnhaft gewonnen worden sein können, wenn z.B. ein Augenaufschlag als sicheres Zeichen für Homosexualität bei jemanden gewähnt wird, der zwar homosexuell ist, wovon aber der Wähnende nichts gewusst hat. Daher können auch alle richtigen Modelle der Wirklichkeit, die auf einem nicht nachvollziehbaren und akzeptablen Erkenntnisweg zustande kommen, als wahnhaft klassifiziert werden, wenn sie mit unkorrigierbarer subjektiver Gewissheit vertreten werden. |
"Religiöser Wahn
Die Ununterscheidbarkeit von religiösen Ideen und Wahnideen hat unter anderem Schneider [22, 23] mehrfach betont. Ein Unterschied zwischen einem "religiösen Einfall des nichtpsychotischen Lebens" und einem "Wahneinfall" sei "jedenfalls nicht faßbar" ([23] S. 30). An anderer Stelle bemerkt Schneider: "Ein Glaube, dessen einziges Kriterium die subjektive Gewißheit ist, ist psychologisch vom Wahn grundsätzlich nicht zu unterscheiden" ([23] S. 50). Die Frage, wie Glaubenserlebnisse oder Glaubensinhalte von Wahnerlebnissen und Wahninhalten unterschieden werden sollen, erscheint unbeantwortbar." [2, S. 97] |
Ich sehe hier kein Problem. Glaubenserlebnisse
sind immer dann wahnhaft, wenn sie mit un- korrigierbarer subjektiver Gewissheit
falsche Modelle der Wirklichkeit (metaphysischer Objekte und Beziehungen)
oder falsche Erkennt- niswege hervor bringen.
Beim 2. Kurt Schneider Zitat ([23] S. 50) hat sich
ein Zuordnungsfehler eingeschlichen.
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korrigiert: irs 06.03.11