Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche
"Das aktual Unendliche gibt es nicht"
Henri Poincaré [W]
Die Logik des Unendlichen
(1913)
für das Internet aufbereitet von Rudolf Sponsel,
Erlangen
Quellen
§ 2. - Die Mächtigkeit ................................................................................................ 61-62 § 3. - Die Untersuchungen von Russell ........................................................................ 62-65 § 4. - Das Axiom der Reduktibilität ............................................................................. 65-68 § 5. - Die Untersuchungen von Zermelo ...................................................................... 68-75 § 6. - Über die Verwendung des Unendlichen ............................................................. 75-77 § 7. - Zusammenfassung ............................................................................................. 78-79 |
Die Widersprüche, zu denen gewisse Logiker geführt wurden, haben ihren Ursprung darin, daß sie einem gewissen circulus vitiosus nicht entrinnen konnten. Das geschieht wohl bei der Betrachtung endlicher Mengen, viel öfter aber bei der Untersuchung unendlich großer Mengen. Im ersten Falle hätten sie leicht die Schlinge vermeiden können, in die sie sich verfangen haben, oder, schärfer gesagt, sie suchten selbst die Schlinge auf und verfingen sich absichtlich in ihr. Ja, sie mußten mit voller Aufmerksamkeit vorgehen, um nicht neben die Schlinge zu kommen. Mit einem Worte, in diesem Falle sind die Widersprüche kaum mehr als eine Spielerei. Ganz anders aber sind jene Widersprüche beschaffen, welche auf dem Begriffe des Unendlichen beruhen. Es kommt häufig vor, daß man ganz unbeabsichtigt in einen solchen Widerspruch verfällt und selbst wenn man ihn vermieden hat, ist man nicht vollkommen beruhigt.
Die Versuche, die man gemacht hat, um diese Schwierigkeiten zu umgehen, sind aus mehr als einem Grunde beachtenswert, aber sie sind durchaus nicht vollkommen zufriedenstellend. Zermelo wollte ein unfehlbares System von Axiomen errichten; aber seine Axiome können nicht als willkürliche Festsetzungen angesehen werden, da er zeigen müßte, daß diese Festsetzungen nicht zu Widersprüchen führen und da er vollkommen tabula rasa macht, hat er keine Objekte mehr zur Verfügung, an denen er einen derartigen Nachweis erbringen könnte. Daher müssen seine Axiome in sich evident sein. Was ist nun der Mechanismus, aus dem heraus er sie aufgestellt hat? Er führt Axiome an, welche wahr sind für endliche Mengen; er war nicht imstande, alle diese Axiome auch auf unendliche Mengen zu erstrecken. Und er vollzog diese Erweiterung daher nur für eine bestimmte Anzahl unter ihnen, deren Auswahl mehr oder weniger willkürlich ist. Nach meiner Ansicht übrigens kann, wie ich schon weiter oben ausführte, irgendeine Aussage, die sich auf unendliche Mengen bezieht, überhaupt nicht durch bloße Anschauung evident sein. Russell hat es besser verstanden, das Wesentliche der Schwierigkeiten zu überwinden. Aber auch er hat sie nicht vollkommen überwunden, da er bei [<78>79] seiner Rangordnung der Typen die Theorie der Ordnungen bereits als durchgeführt voraussetzt.
Was mich anlangt, so würde ich vorschlagen, an den folgenden Regeln
festzuhalten:
Alle die Untersuchungen, von denen wir gesprochen haben, haben einen
gemeinsamen Grundzug. Man stellt sich vor, einem Schüler Mathematik
zu lehren, welcher noch nicht den Unterschied zwischen dem Endlichen und
dem Unendlichen kennt. Man beeilt sich nicht, ihm zu lehren, worin dieser
Unterschied besteht. Man fährt fort, ihm alles darzulegen, was man
über das Unendliche wissen kann, ohne sich vorher bezüglich dieser
Unterscheidung eine feste Meinung zu bilden. Und schließlich zeigt
man ihm in einer entlegenen Gegend des Gebietes, das man ihn hat durchlaufen
lassen, ein kleines Fleckchen, auf dem die endlichen Zahlen sich finden.
Das scheint mir ein psychologischer Irrweg. So geht der menschliche Geist nicht unbefangen vor und selbst, wenn man sich, ohne in Widersprüche zu verfallen, hindurchwinden könnte, so wäre das nichtsdestoweniger eine jeder gesunden Psychologie entgegengesetzte Methode.
Russell würde mir sicher entgegenhalten, daß es sich nicht um Psychologie, sondern um Logik und Erkenntnistheorie handelt und ich würde dann dazu geführt werden, zu antworten, daß weder Logik noch Erkenntnistheorie von der Psychologie unabhängig sind, und dieses Bekenntnis würde wohl die Auseinandersetzung beschließen, weil es eine unüberbrückbare Verschiedenheit der Auffassung zutage fördern würde."
***
Zu den verschiedenen "Quellen" dieses Zitates
siehe bitte hier:
___
Wohlbestimmtheitsprinzip
der Zuordnung. Entwickelt im § 2 der Mächtigkeit und angewandt
u.a. in § 3 Die Untersuchungen von Russell: "Russell veröffentlicht
im American Journal of Mathematics Band 30 unter dem Titel „Mathematical
logics as based an the Theory of Types" eine Abhandlung, in der er
sich auf Überlegungen stützt, die mit den vorausgegangenen durchaus
verwandt sind. Nach Anführung einiger der bekanntesten Paradoxen der
Logiker sucht er ihren Ursprung zu ermitteln und erblickt ihn mit Recht
in einer Art Circulus vitiosus. Man gelangt zu Widersprüchen, weil
man Mengen der [<62] Betrachtung unterzogen, hat, die Elemente enthielten,
in deren Definition der Begriff der Menge selbst einging. Man hat sich
also nicht wohlbestimmter Definitionen bedient; man hat, wie Russell sagt,
die Worte „all" und ,,any'' verwechselt, die man etwa durch die Worte 'alle'
und 'jeder beliebige' wiedergeben könnte." Poincaré kommt
zu dem Ergebnis, dass die Theorie der Typen, "die Theorie der Odnungszahlen
als bereits festgesetzt annimmt" und stellt die Frage: "Wie kann man dann
aber die Theorie der Ordnungszahlen auf die der Typen begründen?"
___
korrigiert: