Erleben und Erlebnis bei William Stern (1871-1938)
"Psychologie ist die Wissenschaft von der erlebenden und erlebnisfähigen
Person."
William Stern 1935, S.99
Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Zur Methode der Fundstellen-Textanalyse. * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis
Zusammenfassungen William Stern
Ende Zusammenfassung William
Stern
Zusammenfassung Psychologie im 19. Jhd (1899)
Eine Definition, Erklärungen oder nähere Errörterungen
zum Erlebens- und Erlebnisbegriff gibt Stern nicht, auch nicht durch Querverweis,
Fußnote, Anmerkung oder Literaturhinweis. Anscheinend hällt
er die Begriffe für allgemeinverständlich.
Stern berichtet zunächst über Beneke mit
der These: "Das einzig Gewisse ist die innere Wahrnehmung". Dann geht er
auf Wundt ein, S.349: "Wundt richtet sich mit grosser Schärfe gegen
die beiden vor ihm bekannt gewordenen Formen wissenschaftlicher Seelenlehre:
die Vermögens- und die Assoziationspsychologie. Nicht Potentialitäten,
sondern Realitäten, nicht Fähigkeiten sondern Thatbestände,
Phänomene, Erlebnisse sind der
Gegenstand der Forschung — so lehrt er mit Herbart gegen die Vermögenslehre.
Diese psychischen Erscheinungen lassen sich aber weder auf einfache, gleichartige
Elementarbestandteile restlos reduzieren, noch zu blossen Konglomeraten
und Aggregaten mechanisieren — so lehrt er gegen Herbart und jede Assoziationspsychologie.
Denn die Elemente des Seelenlebens sind nicht dinghafte Substanzen, nicht
ruhende Existenzen, sondern sie sind Geschehnisse, Vorgänge, niemals
stillstehende, nie sich identisch bleibende Prozesse: Seelenleben ist reine
Aktualität. Und die im Psychischen vorhandenen Verbindungen unterscheiden
sich von den objektiven gerade dadurch, dass sie niemals blosse Summen
der Elemente bilden, vielmehr stets in der Verbindung zugleich etwas durchaus
Neues, Eigenartiges, Irreduktibles darstellen: Seelenleben ist schöpferische
Synthese. Dieser ewige Fluss des psychischen Geschehens enthält im
Grössten wie im Kleinsten die Momente des Vorstellens, des Fühlens,
des Wollens stets geeint; jeder Versuch, sie zu gesonderten Prinzipien
zu stempeln, ist ebenso verfehlt, wie der, eines von ihnen zu monopolisieren.".
Fundstellen im Kontext Psychologie im 19.Jhd
335: "Nach diesem Vorblick kehre ich wieder zur ersten Jahrhunderthälfte
zurück, um noch eines fast verschollenen Namens zu gedenken.
Wer kennt und nennt heut, vielleicht mit Ausnahme einiger Pädagogen,
das „Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft' (1833)
und die übrigen Werke von Friedrich Eduard Beneke? Und
doch verdiente das Lebenswerk dieses Mannes nicht ganz die
Vergessenheit, in die ihn der stark unhistorische Zug der neuesten
Psychologie gestürzt hat.
Beneke steht in Gegensatz zu Hegel wie zu Herbart,
indem
er das Verhältnis von Psychologie und Philosophie geradewegs
umzukehren sucht. Das einzig Gewisse ist die innere Wahrnehmung,
welche uns psychische Erlebnisse
zeigt; nur die Wissenschaft
von diesen Erlebnissen, die Psychologie,
kann demnach die
alleinige Grundlage alles anderen Wissens, insbesondere des metaphysischen,
sein. Mit einer so ungeheuren Erweiterung der psychologischen
Machtsphäre proklamiert Beneke (im Anschluss an Fries)
eine Auffassungsweise, die man gemeinhin als Psy ehologismus
bezeichnet und die auch heute von zahlreichen Psychologen ver-[>336]
treten wird. Sie stellt, wenn man genauer hinsieht, nur eine von
den Formen dar, in denen die naturwissenschaftliche - Weltanschauung
ihre Domäne über die Sphäre auch der Geisteswissenschaften
und der Prinzipienwissonschaften auszudehnen sucht. Auch
Beneke sieht in der Psychologie eine „Naturwissenschaft" der Seele,
d. h. eine induktiv fortschreitende, Thatsachen beschreibende und
Seinsgesetze erforschende Kausalwiesenschaft; und auf diese sollen
restlos alle jene anderen Gebiete, die im Grunde Wert-, Zweckund
Norm-Wissenschaften sind, zurückgeführt werden — ein Unternehmen,
das mir nicht nur sachlich, sondern auch methodologisch
und erkenntnistheoretisch verfehlt scheint. So wertvoll Analysen
der ästhetischen Bewusstseinsthatsachen sein mögen, eine
Aesthetik
stellen sie noch lange nicht dar; und ebenso wenig ist Psychologie
des Denkens und Erkennens mit Logik, Erkenntnistheorie und
Metaphysik — ist Psychologie des Wollens mit Ethik identisch. Den
einen Vorzug freilich hat die psychologistische Anschauung gehabt,
dass sie die Seelenkunde auf zahlreiche psychologische Probleme
hinwies, welche in anderen Wissenschaften, ja auch im praktischen
Alltagsleben, verborgen lagen; Beneke selbst hat gerade mit letzterem
durch seine „pragmatische Psychologie" anzuknüpfen versucht."
336: "Die psychologische Theorie Beneke's wird von dem Begriff
der „Urvermögen" beherrscht, welche mit den alten abstrakten
Vermögen nur das gemein haben, dass sie eine Fähigkeit bedeuten
:
sie sind nämlich die letzten elementarsten, in grosser Anzahl
vorhandenen
Dispositionen der Seele, Bewusstseins-Erlebnisse
zu produzieren;
jedem neuen Reiz muss ein Urvermögen entgegenkommen,
um ihn einzuverleiben; die Urvermögen bilden sich fortwährend
neu. Ein einmal vorhandenes psychisches Gebilde bleibt,
wenn auch unbewusst, als „Spur" der vergangenen, bezw. als
» Anlage" zu neuer Bewusstseinsexistenz bestehen. Endlich haben
die seelischen Gebilde die Tendenz, sich einerseits, soweit sie beweglich
sind, auszugleichen, andererseits zu höheren Formen zu
verbinden. Alles in allem eine rein formalistische Psychologie, der
aber die systematische Durchsichtigkeit des Herbart'schen Formalismus
zum Teil abgeht. Sie ist daher auch ohne wesentlichen
Einfluss auf die Folge-Entwickelung unserer Wissenschaft geblieben."
349: "Wundt richtet sich mit grosser Schärfe gegen die beiden vor
ihm bekannt gewordenen Formen wissenschaftlicher Seelenlehre: die
Vermögens- und die Assoziationspsychologie. Nicht Potentialitäten,
sondern Realitäten, nicht Fähigkeiten sondern Thatbestände,
Phänomene,
Erlebnisse sind der Gegenstand der
Forschung — so lehrt
er mit Herbart gegen die Vermögenslehre. Diese psychischen Erscheinungen
lassen sich aber weder auf einfache, gleichartige Elementarbestandteile
restlos reduzieren, noch zu blossen Konglomeraten und
Aggregaten mechanisieren — so lehrt er gegen Herbart und jede
Assoziationspsychologie. Denn die Elemente des Seelenlebens sind nicht
dinghafte Substanzen, nicht ruhende Existenzen, sondern sie sind
Geschehnisse, Vorgänge, niemals stillstehende, nie sich identisch
bleibende Prozesse: Seelenleben ist reine Aktualität. Und die
im
Psychischen vorhandenen Verbindungen unterscheiden sich von den
objektiven gerade dadurch, dass sie niemals blosse Summen der
Elemente bilden, vielmehr stets in der Verbindung zugleich etwas
durchaus Neues, Eigenartiges, Irreduktibles darstellen: Seelenleben
ist schöpferische Synthese. Dieser ewige Fluss des psychischen
Geschehens enthält im Grössten wie im Kleinsten die Momente
des
Vorstellens, des Fühlens, des Wollens stets geeint; jeder Versuch,
sie zu gesonderten Prinzipien zu stempeln, ist ebenso verfehlt, wie
der,
eines von ihnen zu monopolisieren. Hingegen darf man allerdings eines
der Momente zu einem typisch en Repräsentanten der seelischen
Funktionen machen, weil es in ganz besonders ausgeprägter
Art das Ereignis- und nicht Dingartige, das Aktuelle und
Aktive und nicht bloss passiv Existierende psychischen Lebens
zur Darstellung bringt: dies Moment ist natürlich nicht
die Vorstellung, sondern das Wollen, und damit thut
Wundt den entscheidenden Schritt. den V o l u n t a r i s m u s, [>350]
(der durch Kant's „Hegemonie der praktischen Vernunft", durch
Fichte's „Thathandlung" des Ich, endlich durch Schopenhauers
Willensmetaphysik in der Philosophie heimisch geworden war) in
die Psychologie überzuführen. Weit entfernt davon, die Willensthätigkeiten,
wie es die Assoziationisten vor und zu seiner Zeit
geübt, durch eine Art mechanischen Taschenspielerkunststücks
zum
Verschwinden zu bringen, zeigt er im Gegenteil, dass und wie
sehr selbst die scheinbar rein intellektuellen Vorgänge Willensakte
seien. Hier bekämpft er nun die Assoziationspsychologie auf dem
Gebiete, auf welchem sie sich am stärksten fühlte; er sucht
nachzuweisen,
dass die unter dem Namen „Denken", „Aufmerksamkeit",
„Vergleichen" u. s. w. einhergehenden Funktionen nicht passiv
mechanische Assoziationsprozesse seien, sondern innere aktive
Willenshandlungen, die das durch Assoziationen gegebene Vorstellungsmaterial
beherrschen, sichten und dirigieren. Auf diese
innere Willenshandlung hat er, — vielleicht nicht ganz glücklich
—
den proteusartigen Terminus der Apperzeption angewandt und
damit einen der wichtigsten Streitbegriffe der modernen Psychologie
geschaffen, einen Begriff, von dem wir, wie ich glaube, sagen
dürfen: so sicher die Fassung, die er bei Wundt gefunden, manche
Schwächen, Unzuträglichkeiten und Schiefheiten bietet, so
sicher
ist er als erster Versuch, eine Fundamentalwahrheit der Psychologie
zu formulieren, von ungeheurem Zukunftswert."
Stern gibt keine Definition des Erlebens oder von Erlebnis. Anscheinend
hält er den Begriff für allgemeinverständlich und nicht
näüherer definitions- erklärungs- oder erörterungsbedürftig.
S.7 nennt er aber Beispiele, was zum Eigenerlebnis gehört, nämlich
Vorstellungen und Empfindungen, Gefühle und Willensregungen.
Stern sieht klare Grenzen der Erkundung kindlichen
Erlebens: "In gewissem Sinne ist deshalb, so muß man sich resigniert
gestehen, die Kindheit für uns ein ewig verlorenes Paradies; zu einer
vollen restlosen Einfühlung in die besondere Beschaffenheit und Struktur
der Kinderseele kann es bei uns Erwachsenen nicht mehr kommen." Bekräftigt
auf S. 67: "... Ist sein Lallen lediglich der Ausdruck einer gegenstandslos'en
behaglichen Stimmungslage oder der Begleiter eines wenn auch noch so vagen
SF67EeErlebens
konkreter
Bewußtseinsinhalte ? Wir wissen es nicht und werden es wohl niemals
wissen. ..."
Fundstellen: Erleben 28, erlebt 42, Erlebnis 49.
Indizierungskürzel SF:= Stern Frühe Kindheit 1914, e:= erleben,
erlebt(e,en,es), E:= Erlebnis...
Lesebeispiel: SF7e1 lies: Stern, frühe Kindheit 1914,
S. 7, erster Gebrauch Erleben: e1.
Fundstellen Erleben im Kontext
Zur Methode der
Fundstellen-Textanalyse. * Hauptbedeutungen
Erleben und Erlebnis
Es wurde hauptsächlich nach erleben (26) gesucht, erlebt (2) und Erlebnis (2) nur am Rande bei den Fundstellen zum erleben miterfasst.
7: "Seelisches Leben ist jedem Menschen unmittelbar nur an
ihm selbst gegeben; was Vorstellungen und Empfindungen,
Gefühle und Willensregungen seien, wissen wir direkt allein
durch SF7E1Eigenerlebnis
und Selbstbeobachtung. Das Seelische des
andern dagegen müssen wir erdeuten aus dem, was uns der
andere äußerlich zeigt, aus seinen Ausdrucksbewegungen,
Sprachlauten,
Reaktionen, Handlungen usw. Je verschiedener nun der
andere, den wir beobachten, von uns selbst ist, um so schwerer
ist es, diese Deutung, die sich doch auf die Analogie des eigenen
SF7e1Erlebens stützen
muß, richtig zu vollziehen. Und da wir Erwachsene,
die wir Kinderpsychologie treiben, ein schon sehr
kompliziertes Seelenleben haben, ist uns primitives Seelenleben
gerade wegen seiner Einfachheit und der daraus folgenden
Unähnlichkeit zu dem unseren so schwer in rechter Weise
verständlich zu machen. In gewissem Sinne ist deshalb, so
muß man sich resigniert gestehen, die Kindheit für uns ein
ewig verlorenes Paradies; zu einer vollen restlosen Einfühlung
in die besondere Beschaffenheit und Struktur der Kinderseele
kann es bei uns Erwachsenen nicht mehr kommen."
16: "Merkwürdig ist es, daß die Kindheitserinnerungen von
einer
bekannten Gesetzmäßigkeit des Gedächtnisses teilweise
abweichen.
Im allgemeinen gilt, daß die Erinnerung um so mehr
verblaßt, je längere Zeit seit dem SF16e1Erleben
verflossen ist. Für die
Kindheitsreminiszenzen mag dies jahrzehntelang zutreffen, sie
werden ständig matter, spärlicher, unsicherer — zuletzt aber,
wenn man sich dem Alter nähert, wendet sich die Kurve wieder.
Solange man auf der Höhe des Lebens steht, ist Bewußtsein
und Interesse viel zu sehr auf Gegenwart und Zukunft eingestellt,
als daß die Vergangenheit sich ernsthaft bemerklich
machen könnte; aber je mehr des Lebens Flutstrom ebbt,
um so zahlreichere Erinnerungsinseln tauchen aus dem Meere
des Vergessens auf:"
26: "Der Erzieher hüte sich — und ganz
besonders in der frühen Kindheit — bei solchen Stagnationsepochen
einen schnellen Fortschritt erzwingen zu wollen; bei
ruhigem Abwarten wird er immer wieder die Überraschung
SF726e1erleben, daß
sich die Hemmung von selbst löst und dann der in
der stilleren Zeit vorbereitete Entwicklungsgewinn hervortritt."
52 Pseudo: weiterleben
57: "Kapitel V.
Der Erwerb von Erfahrungen.
1. Wahrnehmen und Aufmerken.
Die Frage nach dem Ursprung des menschlichen Erkennens
hat zu allen Zeiten Psychologie und Erkenntnislehre aufs
lebhafteste bewegt; und oft genug wurde bei diesen Diskussionen
auf das kleine Kind als Beispiel zurückgegriffen, da man es
hier ja unmittelbar mit dem Zustandekommen der ersten
Erfahrungen zu tun habe. Insbesondere war dieser Hinweis
beliebt bei den Vertretern des Empirismus, die alles Wahrnehmen,
Auffassen und Erkennen des Menschen aus Sinnesempfindungen
und deren Verknüpfungen herleiten wollen. Nun
sei die Seele des Neugeborenen ursprünglich ganz leer; das
Kind müsse also allen Stoff des SF57e1Erlebens
erst von außen her
empfangen, die Eindrücke in seine Sinnesorgane hineinspazieren
lassen und die zunächst vereinzelten Empfindungen durch
Assoziation miteinander verbinden, wodurch dann die kom-
plexen Gebilde, die Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken
von selber entständen."
66: "Im Laufe der folgenden Monate vermehren und vermannigfachen
sich diese Erwartungsvorstellungen ganz bedeutend; sie
führen schon zu regelrechten Hoffnungen, Enttäuschungen,
Befürchtungen,
wenn diese alle sich auch nur auf das SF66e1Erleben
der
nächsten Sekunden erstrecken.
Das Kind bemerkt, daß das
Deckbett von dem Wagen fortgenommen wird, und strampelt
vergnügt, weil es erwartet, auf den Arm gehoben zu werden;
um so größer ist der Schmerz, wenn es sieht, daß die
Mutter sich
gleich wieder mit dem Deckbett nähert (Hilde 0; 8%). In der
Zeit des Entwöhntwerdens kann die Annäherung der Flasche
oder Tasse statt der erhofften Brust schon den heftigsten
Protest herausfordern, weil das Kind bereits die bevorstehenden
Unannehmlichkeiten des fremden Geschmacks und der unbe-
quemen Trinkerei in der Vorstellung vorwegnimmt."
67: "... Ist sein Lallen lediglich der
Ausdruck einer gegenstandslos'en behaglichen Stimmungslage
oder der Begleiter eines wenn auch noch so vagen
SF67EeErlebens
konkreter Bewußtseinsinhalte ? Wir wissen es nicht und werden
es wohl niemals wissen. ..."
143: "Wir verstehen unter Gedächtnis die seelische Fähigkeit,
Nachwirkungen früher dagewesener Eindrücke zu SF143e1erleben.
159: "Kapitel XIV.
Erinnerung.'
1. Hauptformen der frühkindlichen Erinnerung.
Daß das kleine Kind zu seiner eigenen Vergangenheit ein
merkwürdig sprödes Verhältnis hat, mußte - schon.
mehrfach
betont werden. Zwar schuldet es dieser Vergangenheit und den
aus ihr stammenden Nachwirkungen all sein Wissen und seine
Fertigkeiten; aber für sein Bewußtsein ist das Gewesene
etwas
Erledigtes. Dort gibt es ja nichts mehr zu begehren; zu erwarten
und zu hoffen, nur rückschauend zu konstatieren, und
Kinder sind eben nicht kühle Chronisten, sondern Willens-,
Affekt und Tatmenschen: auf das unmittelbar gegenwärtige
SF159e1Erleben und die
dem Handeln zugängliche Zukunft gerichtet"
187: "Diese innige gegenseitige Durchdringung von SF187e1Wirklichkeitserleben
und Phantasie ist eine Fundamentaltatsache,
deren volle Bedeutung erst in den letzten Jahrzehnten
erkannt worden ist; und doch ergeben sich gerade aus ihr die
wichtigsten psychologischen Erkenntnisse, ebenso für die höchste
Form der Phantasiebetätigung in der Kunst, wie für die primitivste
im Naturmenschen und im kleinen Kinde. Wäre die
Phantasie, wie man es wohl früher annahm, ein selbständiges
„Seelenvermögen", das sich scharf gegen die anderen Vermögen
der Anschauung und der Erinnerung abgrenzte, dann würde
natürlich jedem Vorstellungsinhalte sofort seine Zugehörigkeit
zu diesem oder jenem Seelen-Schubfach anzumerken sein;
es würde die Phantasievorstellung als subjektiver Schein, die
Wahrnehmung und Erinnerung als Zeichen für objektive Tatbestände
SF187e2erlebt werden.
Wie wenig dies zutrifft, zeigt die folgende
Betrachtung."
188: "Das Kind ist viel mehr Augenblickswesen als wir; und dies
Aufgehen im Augenblicke bewirkt, daß es nicht so sehr das
Bedürfnis hat wie der Erwachsene, seine Vorstellungen in den
Zusammenhang des Vergangenen und Zukünftigen einzuordnen
und daran ihren Realitätswert zu prüfen. „Real" ist für
diese
primitivste Lebensform einfach das, was intensiv
SF188e1erlebt
wird;
und es bleibt real, so lange sich das SF188e2Erleben
dem Inhalt ganz
hingibt. Das Kind geht auf in einer Phantasievorstellung;
während dessen ist ihm ihr Inhalt Wirklichkeit, nicht weniger
als ihm zu anderen Zeiten vielleicht sein Essen oder ein in der
Erinnerung auftauchendes Ereignis oder ein Stoß, der Ihm
wehe tut, objektiv ist. Ursprünglich führt eben jede Vorstellung
in sich die Tendenz zu ihrer Bejahung, zum Glauben an sie.
Und die Stärke dieses Glaubens ist viel weniger von objektiven
Kriterien als von der subjektiven Bewußtseinsintensität
ab-
hängig. Wenn man sieht, wie restlos die Versenkung eines Kindes
beim Zuhören eines Märchens oder beim eigenen Erzählen
einer Phantasiegeschichte ist, mit welchem Ernst es seine Spiele
treibt, und welche Verzweiflung es bei deren Störung packen
kann, dann erkennt man, daß hier die Illusion der Wirklichkeit
noch völlig oder doch annähernd vorhanden ist. Beispiele
werden
uns später begegnen"
194: "Der höchste Grad dieser Unbekümmertheit liegt dort vor,
wo die Phantasie überhaupt auf ein gegenständliches Äquivalent
verzichtet und geradezu halluzinationsähnliche Leistungen
ermöglicht. Wenn das Kind beginnt zu „fabulieren", oder
wenn es abends im Bettchen liegend noch vor dem Einschlafen
im Dunkeln seine Monologe hält, in denen die Angehörigen
und
die Spielsachen, Ereignisse des Tages und Zukunftswünsche
bunt durcheinander wirbeln, so sind alle äußeren Phantasiereize
geschwunden, und wir haben das Spiel der inneren Vorstellungstätigkeit
in Reinkultur vor uns. Von hier zur Traumphantasie
ist nur ein Schritt, und es ist ja charakteristisch für das Kind,
daß sich ihm zwischen wirklichem SF194e1Erleben,
der Wachphantasie
und dem Traum oft genug die Grenzen verwischen."
208: "... Vielleicht werden manche diesen Tatbestand
schon unter Lüge rubrizieren; aber der bloße niedergeschriebene
Wortlaut
genügt noch nicht zur Urteilsbildung über einen Vorgang,
für dessen
Deutung nur das SF208e1Miterleben
der Gesamtsituation in ihrer Entwicklung
und die Beobachtung aller Begleiterscheinungen (Ausdruck, Mimik usw.)
bestimmend sein können. ..."
245: "Siebenter Abschnitt.
Die Formen des kindlichen Denkens.
Kapitei XXI.
Die Elemente des Denkens.
(Begriffs- und Urteilsbildung.)
1. Denkpsychologie.
Dies Kapitel ist einem Thema gewidmet, das in jedem der
vorangegangenen Kapitel schon eine mehr oder minder beträchtliche
Rolle gespielt hat. Aber während es sich dort immer nur
nm die Feststellung handelte, von welcher Art: und welcher
Bedeutung der Einschlag des Intellektuellen bei den Funktionen
des Sprechens, des Gedächtnisses, des Anschauens, der
Phantasie sei, verlangt nun jenes intellektuelle Moment selbst,
also das kindliche Denken, seine gesonderte Behandlung,
und vor allem seine deutliche und grundsätzliche Abgrenzung
gegen die eben genannten Gebiete des Vorstellungslebens.
Mit dieser Abgrenzung war es bis vor kurzem schlecht bestellt.
Die Psychologie des 19. Jahrhunderts hatte fast durchweg die
Überzeugung, daß das Denken nichts anderes denn eine hoch
komplizierte Vorstellungsbewegung sei; man versuchte abzuleiten,
wie sich aus dem häufigen SF245e1Erleben
ähnlicher Vorstellungen
die Vorstellung des ihnen allen gemeinsamen Inhalts
und damit der „Begriff" entwickle, wie eine Verknüpfung
mehrerer Vorstellungen, denen sich die Vorstellung der Wirklichkeit
zugeselle, das „Urteil" bilde usw.
Erst das letzte Jahrzehnt brachte diese Anschauung ins
Wanken. Man begann zu bemerken, daß das Denken nicht nur
für den Logiker ein selbständiges Problemgebiet sei, sondern
daß auch der Psychologe seine Besonderheit anerkennen müsse.
Das, was in unserem Innern vorgeht, wenn wir denken, hat seine
eigenen seelischen Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten,
durch
die es grundsätzlich etwas anderes ist als bloßes SF245e2Erleben,
Be-[>246]
alten und Verknüpfen von Vorstellungen. Der Logiker Husserl
gab zu diesen Untersuchungen den Anstoß; die psychologische
Schule der „Würzburger" (unter Külpes Führung) suchte
die
Selbständigkeit der Denkphänomene aus der Selbstbeobachtung
erwachsener VersuchsperSonen zu erweisen'; Karl Groos war
der erste, der die neuen Gedankengänge in höchst anregender
Weise — wenn auch vorwiegend rein theoretisch — für die
Kindespsychologie nutzbar zu machen bestrebt war'. Die
Untersuchung, ob die taterhliche Entwicklung des kindlichen
Denkens jene Anschauungen empirisch rechtfertigt, ist größtenteils
erst noch zu leisten. Die folgenden Darlegungen suchen
diesen Nachweis gerade für die entscheidende Epoche des kindlichen
Denkens, nämlich für seine ersten Entwicklungsstadien,
zu führen.
Da sich das menschliche Denken — von verschwindenden Ausnahmen
abgesehen — durch sprachliche Mittel äußert, so wird
unsere Betrachtung zum großen Teil aus der kindlichen Sprachentwicklung
ihr Material ziehen müssen; umgekehrt werden gewisse
Seiten der Sprache, die im dritten Abschnitt nur kurz
gestreift werden konnten, jetzt ihre Klärung erfahren.
Zuvor einige Richtlinien zur allgemeinen Orientierung.
Das Denken erhält seine Selbständigkeit gegenüber dem
Vorstellen
durch ein Doppeltes: durch die Besonderheit des Inhalts
und durch die Besonderheit des Ablaufs.
Der „Gedanke" ist, als Bewußtseinsinhalt betrachtet, nicht
eine verwickelte Vorstellungsverflechtung oder ein hochwertiger
Vorstellungsextrakt, sondern etwas Neues, was zum Vorstellungsinhalt
hinzutritt. Das Bewußtsein erschöpft sich nämlich nicht
in konkreten SF246E1Erlebnissen
anschauungsmäßiger Art, die als
Gedächtnisinhalte weiterwirken, sondern es bezieht diese Inhalte
auf Gegenstände , die außerhalb seines SF246e1Erlebens
selber
liegen. Das Kind hat von seiner Puppe die verschiedensten
Wahrnehmungen gehabt, optisch und taktil, in verschiedener
Größe je nach der Entfernung, in verschiedenen Beleuchtungen,
von verschiedenen Seiten; diese Wahrnehmungen leben in
mannigfachen mehr oder minder deutlichen Vorstellungen fort
— aber nicht die Wahrnehmungen und Vorstellungen seines
Innern benennt das Kind, wenn es von seiner Puppe erzählt,
1 Eine sehr instruktive Aufklärung über Wege
und Ziele dieser Richtung
bietet der Aufsatz von Külpe : „Über die moderne
Psychologie des
Denkens". Internationale Wochenschrift, Juniheft 1912.
1 Seelenleben, III. Aufl., Kap. XVI, Der Verstand.
249: "Schließen wir diese Betrachtung noch einmal an das Beispiel
der „Puppe" an. Die einzelnen Sinneswahrnehmungen und
Gedächtnisvorstellungen, die von• der Puppe ausgehen, sind von
einander verschieden; jede einzelne dieser Sachvorstellungen
hat, eben wegen ihrer individuellen Konkretheit,
Bezug auf eine bestimmte Situation und ist daher nicht geeignet,
als Ansatzpunkt für das allgemeine Wissen um diese
Puppe zu dienen. Nun hat aber die Psyche die Fähigkeit, diesem
Mangel abzuhelfen. Sie erzeugt Inhalte, die noch Vorstellungen
und als solche konkret sind, d h eine anschauliche Bestimmtheit
haben, deren Bestimmtheit aber nicht mehr so detailliert und
individualisiert wie die der einzelnen Gedächtnisvorstellungen
ist. Sie sind gleichsam Sinnliche Abstraktionen, Vereinfachungen;
die doch noch innerhalb der sinnlichen Anschauung bleiben,
Andeutungen der hervorstechendsten Merkmale -- und eben
deshalb geeignet, nicht bloß das subjektive
SF249e1Erleben
des Einzelmomentes,
sondern den identischen Gegenstand zu repräsentieren.
Jetzt erst wird uns ganz die Bedeutung- klar, die das
„Schema" auf den verschiedensten Gebieten des kindlichen
Seelenlebens spielt: da es noch zur Welt der Anschauung gehört;
ist die Psyche schon auf einer frühen Entwicklungsstufe fähig
es zu bilden; da es so dürftig und leer ist, wird es zum geeigneten
Ansatzpunkt für die Allgemeinheit des Gedankens. Was also
vom Standpunkt der Anschaulichkeit ein Mangel-ist.,
ist vom Standpunkt der Begriffsentwicklung ein
Vorzug. Wir haben solche Schemata auf dem Gebiet der Gesichts-
wie der Gehörsvorstellungen kennen gelernt: dort die
graphischen Schemata, welche „den Menschen", „das Tier"
repräsentieren, hier die Schallmalereien, welche aus dem ganzen
Vorstellungskomplex eines Tiers, eines Werkzeugs die vereinfachte
Vorstellung seiner Lautäußerungen (wauwau, tiktak)
herausheben."
252: "Ein anderes Symptom der allmähligen Objektivation des
Denkens besteht im Verhalten des Kindes n den Richtungen
der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das
Kind kennt anfänglich nur ein unmittelbares stark gefühlsbetontes
SF252e1Erleben der Gegenwart
und ein auf die allernächste
Zukunft gerichtetes Streben oder Abwehren; die Vergangenheit
dagegen, die nur durch eine Loslösung vom subjektiven SF252e2Erlebensmoment,
also vermittelst objektivierenden Konstatieren
zu erfassen ist, tritt erst viel später ins Bewußtsein des
Kindes.
Dies Verhältnis fanden wir schon bei der Besprechung der
ersten Vorstellungen (S. 66) und der kindlichen Erinnerung
(S. 159); es wiederholt sich dort, wo die Zeitrichtungen durch
die Sprache bewältigt werden sollen. Die subjektiven Zeitbeziehungeu
der Gegenwart und Zukunft werden zuerst der [>253]
Sprache zugänglich: die Infinitivform des Verbs drückt das
jetzt
ablaufende Geschehen, noch häufiger das unmittelbar zu erhoffende
oder zu befürchtende aus. Die Vergangenheit beginnt
dagegen erst ein halbes Jahr später (durch Partizipien) ausgedrückt
zu werden. Und die gleiche Abfolge besteht bei den
Zeitadverbien; die Gegenwart- und Zukunftsausdrücke: gleich,
dann, jetzt, morgen, bald usw. sind längst eingebürgert,
wenn
sich die Vergangenheitsausdrücke: eben, gestern, vorhin zögernd
einstellen.
c) Die Kategorien. Ein anderer Denkfortschritt, der
ebenfalls ein sehr umfassendes Entwicklungsgesetz zu bilden
scheint, besteht in der sukzessiven Bewältigung der verschiedenen
Begriffs-Kategorien. Einige Äußerungsweisen dieses
Gesetzes sind uns schon in früheren Kapiteln begegnet; wir
fassen hier nur das Wesentliche zusammen, um die vielseitige
Wirksamkeit des Prinzips zu beleuchten. Anfangs steht das
Denken im „Substanzstadium": aus dem Chaos des unreflektierten
SF253e1Erlebens arbeitet
sich zuerst das Substantielle,
die selbständig existierenden Personen und Dinge, als gesonderter
Denkinhalt heraus. Es folgt ein „Aktionsstadium": die an
den Personen und Dingen ablaufenden Tätigkeiten werden
im Denken isoliert und ziehen besonders das Interesse auf sich.
Erst an dritter Stelle entwickelt das Kind die Fähigkeit, von
den Dingen die ihnen anhaftenden Eigenschaften und die
zwischen ihnen bestehenden wechselnden Beziehungen abzulösen:
„Relations- und Merkmalsstadium". Natürlich
nehmen, wenn die neuen Stufen auftreten, auch die Inhalte
der früheren an Umfang und Mannigfaltigkeit ständig zu.
Diese Stufen sind nun nicht als Geisteszustände aufzufassen,
die das Kind als Ganzes sukzessiv durchmacht, so daß es zu einer
bestimmten Zeit „Substanzdenker", zu einer anderen „Aktionsdenker"
wäre; vielmehr bedeuten sie die Durchgangspunkte,
welche verschiedene Arten intellektueller Leistung
für sich durchlaufen. Schwerere Leistungen, die überhaupt
erst später einsetzen, werden daher noch im Substanzstadium
stecken, während andere schon längst das Aktionsstadium erreicht
haben."
259: "f) Begriffe von Psychischem. Als eine der höchsten
Stufen in der Begriffsbildung des Kindes müssen wir es betrachten,
wenn es ihm gelingt, psychische Zustände im
Denken zu verselbständigen. Denn wenn auch im unmittelbaren
SF259e1Erleben ursprünglich
das subjektive Affekt- und
Willensmäßige überwiegt, so ist doch das bewußte
intentionale
Denken zuerst ausschließlich auf die Welt der äußeren
Objekte
gerichtet, und es währt lange, ehe das Kind sich seine eigenen
seelischen Vorgänge als Objekte gegenüberstellen kann So
geht die Entwicklung einen spiraligen Gang: vom naiv Sub-
jektiven durch die Welt des äußeren Objektiven zum reflektiert
Subjektiven — einen Weg, den wir z. B. auch in der Philosophie
finden, wo das naive anthropozentrische Denken zuerst zur
Naturphilosophie und diese erst zur Philosophie des Geistes und
der Sittlichkeit überführt. ..."
280: "... Die Stellungnahme des
SF280e1Erlebens führt
zu den beiden Gefühlsrichtungen der Lust und
der Unlust; die Stellungnahme des Handelns führt zu den beiden
Willensrichtungen des Hinstrebens (Begehrens) und Widerstrebens
(Abwehrens)1."
283: "Sehr bedeutend sind die individuellen Unterschiede der
Kinder in bezug auf die Aufwühlbarkeit ihres Gemüts- und
Willenslebens. Und zwar erstreckt sich diese Differenzierung
nicht nur auf die Intensität im ganzen, sondern kann auch die
Lust- und Unlustseite des SF283e1Erlebens
gesondert treffen. Ein
anschauliches Beispiel hierfür bietet die Vergleichung von zweien
unserer Kinder."
287: "Als vierte Gruppe nannten wir die „sozialen" Stellungnahmen
des Gemüts und Willens, freilich mehr zum Zweck der Grenzfestsetzung;
denn sie stehen in der uns angehenden Zeit noch
fast völlig zurück. Zwar kann das Kind schon über die
enge
Grenze der eigenen Person hinaus fühlen und wollen, aber
doch nur für andere konkrete anschauliche Einzel Persönlichkeiten;
das SF287e1Erleben seines
Verhältnisses zu einem übergeordneten
Ganzen ist noch unentwickelt. Die kleinen Gemeinschaften,
zu denen es bereits gehört — Familie, Kindergarten —
haben noch nicht in ihrer Totalität, sondern nur vermittelst
der persönlichen Einzelbeziehungen Gemütsbedeutung für
das
Kind. Vermutlich bildet sich diese Form der Stellungnahme
bald hinter unserer Altersgrenze aus; ist doch die Schule, die
nun beginnt, ein solches soziales Ganzes, zu dem das sechs- bis
siebenjährige Kind ein Gefühlsverhältnis der Zugehörigkeit
und Unterordnung gewinnt."
288: "... Die unendlich große Schwäche und Abhängigkeit
des Kindes hat zur selbstverständlichen Folge,
daß die verfügbare Energie, die physische wie die psychische,
vor allem an der Stärkung der eigenen Position arbeitet ; und
nur langsam kann sich von diesem engsten Kreise des Ich aus
der Radius des Wirkens und SF288e1Erlebens
auf andere Menschen
ausdehnen. Dem entspricht die langsamere Entwicklung der
„sympathischen" Gefühls- und Willensrichtungen. ..."
304f: "Kontrasuggestion. Noch mehr von der eigentlichen
Suggestion scheint sich das Phänomen der sogenannten Kontra-
suggestion zu entfernen; in Wirklichkeit ist sie ihr aber aufs
engste verwandt. Hier wird eine Stellungnahme gewählt, die
der des Vorbildes entgegengesetzt ist; an Stelle der Hingebung
tritt also die ausgesprochene Opposition, welche diktiert
ist von einem heftigen Selbständigkeitsstreben des Kindes.
Ihre Ausführung zeigt aber die völlige Unselbständigkeit;
denn die Stellungnahme ist ja nicht aus dem eigenen inneren
SF304e1Erleben des Kindes
abgeleitet, sondern lediglich durch das Vorbild
hervorgerufen, genau so wie bei der direkten Suggestion;
das einzige, sehr dürftige, Eigene, was das Kind hinzutut, ist
[>305]
daß es seiner Stellungnahme das entgegengesetzte Vorzeichen
gibt. Die Kontrasuggestibilität ist also nichts als ein Wolfsfell,
das das Lamm sich umhängt, die Fiktion einer Stärke, die
nur das Bewußtsein der Schwäche verhüllen soll — man
wird
an die psychoanalytische Theorie von Adler erinnert."
321: "Das persönliche Selbstgefühl hat zwei Merkmale. Erstens
ist
es ein Gefühl von der Persönlichkeit als einer Ganzen und
unterscheidet sich dadurch von den bisher erörterten Einzelgefühlen.
Irgend eine Lust oder Furcht, die irgendwann mein
Bewußtsein erfüllt, ist noch kein Selbstgefühl; dies
liegt erst
vor, wo die Erhöhung oder Erniedrigung, die Bedrohung oder
Förderung meines Selbst der bewußte Gegenstand des SF321e1Erlebens
ist. Dazu gehört aber zweitens die Abgrenzung des
eigenen Ich gegen andere Persönlichkeiten. Mit Fichte
können wir sagen, daß das Ich sich im Widerstande gegen
das
Nicht-Ich verwirklicht; erst dadurch, daß die Lebens- und Tatsphäre
einer Person mit denen anderer in Kollision oder Harmonie
tritt, entwickelt sich die Neigung, das eigene Selbst sich zur
Bewußtheit zu bringen."
Bd.3 Person und Sache 83: "...
Es gibt Abstufungen in dem relativen Anteil von Selbstbestimmung
und Fremdbestimmung an der Gestaltung persönlicher
Lebenserscheinungen, aber stets ist beides beteiligt
und zur völligen
Einheitlichkeit verschmolzen. Dies gilt nicht
nur für die akuten
„Lebnisse",
sondern auch für die Dauerbeschaffenheiten jeglicher
Person. Diese sind zwar — in der Vorschau — als
vieldeutige
Dispositionen die Organe weiterer zielstrebiger
Selbstbestimmung,
zugleich aber sind sie — in der Rückschau
— infolge der Plastizität
der Person, selbst bereits durch die vorangegangenen
Welteinwirkungen
der Eindeutigkeit näher geführt."
Bd.3 Person und Sache 138:
"c) Gegenwart und Dauer. — Die Ganzheit einer Person
spricht sich sowohl in der Einheit des einzelnen
„Lebnisses", wie
in der zeitlichen Kontinuität ihres Lebens
aus.
Unter „Lebnis"
wird der relativ isolierte und gestaltete Lebensausschnitt
verstanden, der jeweilig die Gegenwart der Person
erfüllt.
Das Lebnis ist (zum Unterschied vom „Er-Lebnis")
psychophysisch
neutral, umschließt also die Gesamtgestalt
des augenblicklichen
personalen Verhaltens (z. B. einer Instinkthandlung,
einer Willenstat, einer sprachlichen Mitteilung
usw.). Im Lebnis
ist die multiplicitas zeitlich gemeinsamer Inhalte
— physischer
wie psychischer „Phänomene" — durch eine
zielstrebig herrschende
Tätigkeit der Person (den „Akt") zur Einheit
verschmolzen. Nach
dem Rangprinzip der Ganzheitsnähe steht
der Strahlwert des Lebnisses
höher als der Strahlwert der in ihm enthaltenen
Teile und
Momente. Innerhalb dieser Teile ist das Rangprinzip
wiederholt
anwendbar: so ist die psychische Seite eines
Lebnisses (also sein
Erlebnisgehalt) als Gesamtgebilde bedeutsamer
als die darin aufweisbare
einzelne Vorstellung oder Gefühlsbetonung.
Mit der „Gegenwart", die vom Lebnis gefüllt
wird, ist nicht das
zeitliche Differential im mathematischen Sinne,sondern
die elementare
zeitliche Ganzheit in personalem Sinne gemeint.
Die anschauliche
Stetigkeit eines Willensaktes, die unmittelbar
erfaßbare Gegliedertheit
eines Rhythmus gehört trotz des darin schon
enthaltenen [>139]
zeitlichen Nacheinander durchaus in die Lebnisgegenwart
hinein).
Nun aber hat die Person ja
Dauer weit über die Grenze ihrer
jeweiligen Präsenzzeit hinaus. Nirgends
ist die Stetigkeit ihres
Lebensablaufes abrupt durchbrochen; alle zeitlich
akuten Verwirklichungen
sind nur Wellen eines chronischen Lebensstromes.
Fassen wir diese Dauer zunächst in ihrer
schroffen Antithetik
zur gegenwärtigen Aktualität der einzelnen
Lebnisse, dann ist
sie nichts als deren ständiger Hintergrund,
jenes personale Prinzip,
welches die einzelnen Lebnisse
und ihre Zusammenhänge erst
möglich macht, aber eben deshalb bloße
Möglichkeit ist und
bleibt — welches andauert, solange die Person
dauert, aber eben
deshalb in keinem Augenblick selbst zu akuter
Realität wird."
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