William Stern 1950 Phantasie
Stern, William (1950) 18. Kap.: Phantasie und 19. Kap.: Sonderfunktionen
der Phantasie (Träumen, Spielen Schaffen) in Allgemeine Psychologie
auf personalistischer Grundlage. 2. Auflage. Den Haag: Nijhoff. wissenschaftliches
Begleitmaterial zur
Analyse
des Phantasiebegriffs.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
"PHANTASIE
I. WESEN DER PHANTASIE
1. Bewusstseinspsychologische Betrachtung
Die Abgrenzung der Phantasiefunktion gegen die anderen Bereiche des
Seelenlebens stösst auf eine eigentümliche Schwierigkeit.
Solange man sich nämlich darauf beschränkt,
die Bewusstseins-Inhalte und -Abläufe des Phantasielebens zu
beschreiben, findet man lediglich Merkmale, die auch in anderen seelischen
Provinzen vorkommen. Erst bei der Erweiterung der Betrachtungins Personale
und Transpersonaletreten die eigentlichen Unterscheidungskriterien hervor.
Dem psychischen Inhalt nach gehören Phantasieerlebnisse
vornehmlich in die Kategorie der Vorstellungen: sie haben konkreten Gegenstandscharakter,
stehen in Gegensatz zur Abstraktheit rein gedanklicher Inhalte. Aber hierin
sind Phantasievorstellungen psychisch nicht grundsätzlich anders beschaffen
als Gedächtnisvorstellungen oder Erwartungsvorstellungen. Nehmen wir
so ausgesprochene Phantasiegebilde wie „Fee" oder „Flügelross", so
ist im Vorstellungsbestand selbst kein Merkmal anzugeben, wodurch sie sich
von den Vorstellungen einer wirklichen Frau, eines früher einmal gesehenen
Pferdes unterscheiden müssten.
Gewiss können psychologische Unterschiede in
der Art der Wirklichkeitsintention bestehen. Es gibt viele Phantasievorstellungen,
bei denen zugleich das Bewusstsein vorhanden ist, dass ihnen keine objektive
Realität entspreche, dass sie einer Scheinwelt angehören. Dieser
— in der Tat sehr wesent-[>447] liche — Tatbestand muss später ausführlich
erörtert werden; aber er liefert nicht das jetzt zu suchende Merkmal,
welches Phantasievorstellungen allgemein gegen andere Vorstellungen abgrenzt.
Denn das Bewusstsein der Unwirklichkeit fehlt oft genug: so bei Erinnerungen,
die durch überwuchernde Phantastik gefälscht werden, bei den
Wahngebilden der Irren, bei Luftschlössern von Phantasten, bei Traumphantasieen,
vielfach auch beim Phantasiespiel des Kindes — ohne dass der „Phantasie"-Charakter
der Vorstellungen durch die sen Wirklichkeitsglauben aufgehoben würde.
Oder gibt es vielleicht eine psychologisch charakteristische
Art des Auftreten s, die der Phantasie und nur ihr zukommt ?
Man pflegt bei geistigen Prozessen bekanntlich „intuitive"
und „diskursive" Abläufe zu unterscheiden. Bei jenen drängen
sich die einzelnen Gestaltungen mit einer Evidenz auf, die keiner Begründung
fähig und bedürftig ist : sie sind auf einmal da, bewusstseinsmäfsig
unvorbereitet und sogleich fertig in geformter Anschaulichkeit, die zuweilen
fast die Lebhaftigkeit echter Wahrnehmungen gewinnen kann. Beim diskursiven
Ablauf dagegen wird langsam und schrittweise jedes Moment aus den vorhergehenden
Momenten entwickelt, das Ganze rational aus den Teilen aufgebaut. Nun sind
zweifellos Phantasiegeschehnisse vorwiegend intuitiv, und im Gegensatz
dazu Denkgeschehnisse sehr stark diskursiver Natur. Aber schon früher
(S. 393/4) hatte sich gezeigt, dass es auch beim Denken nicht ohne Intuition
abgeht, die sogar — als „Einfall" — eine selbständige Bedeutung gewinnen
kann. Andererseits sind Phantasieabläufe, namentlich solche umfassenderer
Art, ohne diskursive Einschläge garnicht möglich. Ferner gibt
es auch noch in anderen Seelenbereichen, z.B. beim Gedächtnis, Vorstellungen,
die ohne Bewusstseinsvorbereitung (also „intuitiv") auftreten: die sog.
freisteigenden Vorstellungen. — Somit ist auch dieser Gesichtspunkt als
Abgrenzung skriterium für „Phantasie überhaupt" nicht brauchbar.
2. Personalistische Betrachtung
a) Unstimmigkeit zur Objektwelt. — Der eigentliche Sinn des Begriffs
„Phantasie" enthüllt sich erst einer personalistischen Betrachtung;
denn er betrifft das Verhä1t-[>448]nis Person / We1t.
Dort wo die Gegenstandsintention menschlicher Vorstellungen der objektiven
Gegebenheit als etwas anderes und Fremdes gegenübersteht, spricht
man von Phantasie. Es ist dies zunächst eine Bestimmung von aussen
her und zugleich eine negative Abgrenzung: Phantasie ist das Gebiet
der zur objektiven Welt unstimmigen Vorstellungen eines Menschen. Zur
objektiven Welt: das kann bald die praktische Realität sein, in der
die harten, von allen anzuerkennenden Gesetze der Tatsächlichkeit
gelten ; es kann die Welt der sozialen Gemeinschaft sein, deren Überzeugungen
und Wertungen von jedem Glied übernommen werden sollen; es kann die
Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis sein, die um so reiner ist, je mehr
sie entsubjektiviert ist. Sofern sich die konkrete Vorstellung eines Menschen
mit solchen Objektivitätsansprüchen nicht deckt, ist sie ein
„Ph a n t a s m a" ; und die aus solchen Phantasmen sich aufbauende personale
Welt ist eine „Phantasiewelt", eine unobjektive Welt. FN1)
Während also (s. S. 447) für den phantasierenden
Menschen selbst die Einsicht in den mangelnden Objektivitätscharakter
seiner Vorstellungen nicht notwendig ist, sehen wir jetzt, dass für
seine Eingliederung in die Welt des Handelns, der Gemeinschaft und der
Wissenschaft die Nichtobjektivität seiner Phantasievorstellungen wesentlich
ist.
Dieser Zug führt leicht zur Abwertung der Phantassie,
nämlich überall dort, wo allein Bewertungsmafstäbe der praktischen,
sozialen oder theoretischen Objektivität vorherrschen.
Es gibt Situationen, in denen die Phantasie gefährlich
werden kann, weil alles auf Einstimmigkeit der Bewusstseinsinhalte mit
der Realität ankommt; so bei Aussagen über vergangene Tatbestände,
bei Entscheidungen über bevorstehende Handlungen, bei Verifikation
wissenschaftlicher Hypothesen. Der phantasierende Zeuge, der phantasierende
Spekulant, der phantasierende Forscher können mit ihren Phantasieen
grossen Schaden anrichten.
Es gibt ferner M e n s c h e n von so realistischer
Grundbeschaffenheit, dass sie an der Phantasie nur jene Unstimmigkeit [>449]zur
Realität und zu allgemeinen Geltungen sehen und sie deshalb
geringschätzen: es sind dies die Tatsachenmenschen, die nüchternen
Beobachter, die reinen Zwecknaturen, Philister, Pedanten einerseits, —
die Prinzipienmenschen, Moralisten, reinen Theoretiker, Logizisten andrerseits.
Allein diese negative Bewertung der Phantasie ist nur so lange möglich,
als man das Grundverhältnis Person/Welt lediglich von der Objektseite
her — also äusserlich — beachtet. Jetzt aber erheben
sich erst die personalistischen Fragestellungen im engsten Sinne: Wie
ist es möglich, dass jede Person eine Vorstellungswelt hat, die zur
objektiven Welt unstimmig ist? (Ursachfrage). Und:
was bedeutet diese nicht-objektive Bewusstseinswelt für die Person
selber? (Sinnfrage).
b. S p o n t a n e i t ä t. — Die Antwort auf die Ursachfrage
lautet:
Phantasiegebilde sind konkrete Eigenerzeugnisse der Person, welche
die Erfahrungen
überschreiten. Hier wird also der Unterschied zu den Wahrnehmungen,
Gedächtnis- und Erwartungs-Vorstellungen deutlich, welche sämtlich
auf Erfahrung — d.h. lebendigem
Kontakt der Person mit der ausserpersonalen Welt beruhen.
Man verstehe diese Beziehung zur „Erfahrung" nicht falsch. Auch Wahrnehmungen
und Gedächtnisvorstellungen sind nicht — das haben ja frühere
Kapitel eingehend gezeigt — blosse, passiv empfangene Impressionen und
deren Nachwirkungen; in aller „Erfahrung" sind die Reize bereits personal
verarbeitet. Aber auch noch diese geformte Erfahrung wird überschritten
in der
Phantasie. Überschritten — nicht etwa negiert. Vielmehr werden
in der Überschreitung Erfahrungsmomente fortwährend benutzt,
um in neue Gebilde umgegossen zu werden. Diese Beziehung von „alt" und
„neu" in der Phantasieschöpfung bedarf einer näheren Betrachtung.
Mechanistisch eingestellte Psychologieen haben früher gerade darauf
den Nachdruck gelegt, dass es doch immer wieder Erfahrungs-„Elemente" seien,
die nur in neue Kombinationen gebracht
würden; eine „Urschöpfung" wirklich neuer Phantasiegebilde
sei unmöglich.
Für eine solche Auffassung gibt es zahlreiche Belege. Die schon
einmal erwähnte Phantasievorstellung „Pegasus" ist, so scheint [>450]
es, nur eine Addition zweier allbekannter Erfahrungselemente:
„Flügel" und „Pferd" ; und Homer kann das berühmte Ungeheuer
„Chimaere" nicht anders beschreiben als: vorn ein Löwe, hinten eine
Schlange, in der Mitte eine Ziege.
Das phantastischste Gedicht besteht aus Worten, die aus der
Erfahrung bekannt sein müssen; und selbst sprachliche Neubildungen
in diesem sind wiederum nur Zusammensetzungen und
Ableitungen aus erfahrungsgegebenen Wörtern. Das phantastischste
Märchen arbeitet letzten Endes mit lauter bekannten Elementen,
die nur gesteigert oder verkleinert, und vor allem in ganz
neue Verknüpfungen gebracht werden. Genau ebenso kann man
bei der Z er 1 e g u n g von Träumen, Luftschlössern, Kunstwerken,
Mythen, Hirngespinsten schliesslich überall auf empirisch
bekannte Elemente stossen.
Das alles mag zutreffen; aber es ist für die Psychologie der
Phantasie sehr wenig belangvoll. Denn es kommt beim Phantasiegebilde
nicht sowohl darauf an, w o r aus es erzeugt sei, sondern
w i e aus beliebigem Rohmaterial — mag es noch so bekannt,
und mag es noch so dürftig sein — etwas durchaus anderes,
Einmaliges, gestalthaft Einheitliches erzeugt wird. Beethovens
Sonaten sind darum nicht weniger „neu" und nicht weniger
aus „Spontaneität" geboren, weil nur eine kleine Anzahl bekannter
musikalischer Töne zur Verwendung gekommen sind. Und was
hier vom Phantasie-Werke gilt, gilt gleichermafsen von der
Phantasie-Vorstellun g. Würde es bei dieser nur darauf
ankommen, die aus früheren Erfahrungen stammenden Bewusstseinselemente
in eine andere Verknüpfung zu bringen, dann
gäbe es ungezählte Möglichkeiten der Gruppierung, und
einer
jeden würde eine Phantasievorstellung entsprechen. In Wirklichkeit
ist es aber das Eigentümliche der Phantasie, dass sie in ihre
Gebilde nur solche „Elemente" hineinlässt, die hineinpassen,
die von der anschaulichen Ganzheit der Gestalt gefordert, angezogen
und aufgesogen werden. Auch sind es ja in Wirklichkeit gar
keine „Elemente", d.h. stabile Steinchen eines psychischen Mosaiks
; denn sie werden beim Eingehen in ein Phantasiegebilde
etwas anderes, als sie in einem früheren Strukturzusammenhang
gewesen waren. Beliebige Flügel, an einer beliebigen Stelle einem
Pferd aufgesetzt, ergeben noch lange keinen Pegasus; und noch so
viele Erfahrungen, die aus alten Chroniken über den Magier Faust
[>451] zusammengetragen und dann mosaikartig zusammengesetzt werden,
ergeben noch lange keinen Goethe'schen Faust als einheitliche
Phantasiegestalt.
Es ist also gerade das souveräne Schalten und Waltenkönnen
mit dem Rohmaterial der Erfahrung, in dem sich der p r o d u kt
i v e Charakter jeder Phantasieleistung bekundet. Der Mensch
ist viel zu innig der objektiven Welt zugänglich und verbunden,
als dass er sich den aus ihr stammenden Erfahrungen einfach verschliessen
könnte; genug, dass er über sie hinauszugehen und sie
völlig unzuwandeln vermag, und dass er spontan solche Bewusstseinsgebilde
erzeugen kann, die keine geringere Anschaulichkeit,
Evidenz und Gestaltetheit besitzen, als die erfahrungsgebundenen
Inhalte.
c. Symptomatik und Symbolik.—Nunmehr wird
gerade das, was vorher als Manko der Phantasie erschien, zu
ihrem positiven Merkmal: die Schwäche der Nicht-Objektivität
wandelt sichin die Stärke der Subjektivität. Der
phantasierende Mensch errichtet sich in seinem Bewusstsein eine
Eigenwelt, die — gerade weil er sie mit keinem anderen teilt —
als eine Erweiterung der individuellen Persönlichkeit und zugleich
als deren Schutzhülle erlebt wird; denn ohne sie wäre er
nackt
und unvermittelt der Härte der gegebenen, geforderten und fordernden
Objektwelt ausgeliefert. Gerade diese personale Bedeutung
der Phantasie wird uns das Verständnis für ihre Einzelerscheinungen
wesentlich erleichtern. Denn wir erkennen jetzt, dass
es sich nicht um eine, neben allen anderen Personbereichen
stehende, Sonderkraft handelt, die ein Zufallsspiel mit allerlei
Vorstellungen ermöglicht, sondern um eine Erlebnisweise, die
aus den Tiefen personalen Totalstrebens herauswächst und formal
wie inhaltlich aus diesen Tiefen gespeist wird. Wie ein
Mensch phantasiert, so ist er — so ist er zum
mindesten unter einer bestimmten Perspektive, nämlich als
Wunsch- und Angst-Wesen, als Gestalter seiner binnenseelischen
Welt im Sinne seiner Lebensbedürfnisse, Triebrichtungen und
Ideale.
Diese, in die Tiefe der Person weisende Gerichtetheit der Phantasie
verleiht ihrem Inhalt nun eine symbolische Bedeutung.
Jedes Phantasma erhält damit einen Doppelcharakter: es [>452]
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FN1) Von einer anderen Art der Objektivität,
zu der die Phantasiebetätigung eine sehr
positive Beziehung hat, wird erst später zu sprechen sein.
"
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