Erleben und Erlebnis bei Hubert Rohracher (1903-1972)
Mit
freundlicher Genehmigung der Universität Wien
Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Methode der Fundstellen-Textanalyse * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis * Signierungssystem * Zusammenfassung Hauptseite * Begriffscontainer (Containerbegriff)
Zusammenfassung-Gesamtwerk
Die Arbeitsweise des Gehirns
Auch nach über 50 Jahren immer noch ein grundlegendes und wichtiges
Werk. Einige Passagen hat Rohracher in seine Einführung
in die Psychologie, übernommen, die sein Schüler Birbaumer
nach seinem Tode 1972 in die vielen späteren Auflagen - mir liegt
die 13. von 1988 vor - übernommen hat. Hieraus ist der Schluss ziehen,
dass Rohracher seine 1967 mitgeteilten Grundüberzeugungen zu Erleben
und Erlebnis beibehalten hat.
Fundstellen Gesamtwerk: erleben 202, erlebt 36, Erlebnis 182, also
e=238, E=182..
Namenverzeichnis - 202
Sachverzeichnis 204
e | < Erleben Differenzierung > Erlebnis | E |
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E? |
Zusammenfassung-Einleitung: Rohracher hebt gleich zu Beginn höchst erfreulich die Bedeutung klarer Begriffe hervor, bestätigt damit Aristoteles, und definiert eine Seite weiter auch das Erleben durch einige wichtige Dimensionen. Die Behauptung, dass Erleben und bewusstes Erleben (RAE10.e2.4) dasselbe seien, ist in seiner Apodiktik falsch, weil das eine Frage der Definition ist, die nicht wahr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckangemessen ist. Man kann das so handhaben, aber dann darf man es nicht als empirisch gesicherten Sachverhalt ausgeben, sondern muss sagen, dass man eine solche Definition verwendet.
RAE9: "In einem Buche, das die Beziehungen zwischen den bewußten RAE9.E2.1Erlebnissen des Menschen und den Vorgängen in seinem Gehirn behandelt, muß von Anfang an mit größter Sorgfalt darauf geachtet werden, daß über die dabei verwendeten Begriffe volle Klarheit bestehe. Dazu sind einige Ausführungen allgemeiner Art nötig."
RAE10.1-10: "... Das entscheidende, wesentliche Merkmal besteht in der Eigenart des RAE10e2.1Erlebens, die nur mit dem Wort »bewußt« zum Ausdruck gebracht werden kann, in der Tatsache, daß man vom eigenen RAE10e2.2Erleben weiß, daß man es spürt, daß man davon immer Kenntnis hat, kurz, daß man es »RAE10e2.3erlebt«. »RAE10e2.4Erleben« und »bewußtes RAE10e2.4Erleben« ist dasselbe - es gibt kein RAE10e2.5Erleben ohne Bewußtsein. »Bewußtsein« läßt sich nicht definieren oder beschreiben, es gibt keinen Oberbegriff, unter den man es subsumieren, und keine Nebenbegriffe, mit deren Hilfe man es präzisieren könnte. Diese logische Unbestimmbarkeit der Begriffe »Bewußtsein« und »RAE10e2.6Erleben« wird aber ausgeglichen durch die Tatsache, daß jeder Mensch aus seiner eigenen unmittelbaren Erfahrung genau weiß, was diese Worte bedeuten. Das Lesen dieser Zeilen und das Verstehen ihres Sinnes ist ebenso bewußtes RAE10e2.7Erleben wie die WahrnehmungI12 der Dinge in unserer Umgebung oder das WissenI17 von unserer eigenen Person. Alles, was wir sehenA01, hörenA02, tastenA05, riechenA03 und schmeckenA04, alles DenkenI07 FühlenI05 und WollenI02, alle unsere TriebregungenI02, LeidenschaftenI02 und InteressenI10 sind bewußte RAE10E2.1Erlebnisse, zu denen beim kultivierten Menschen noch die komplizierten Vorgänge kommen, die sich aus der Stellungnahme zu sich selbst und zu den eigenen Verhaltensweisen ergeben - die SelbstkritikI14 und SelbstbeherrschungI22, die ethischenI05,I14, religiösenI05,I14 und ästhetischenI05,I14 Gefühle und alle RAE10E2.2Erlebnisse, die aus dem Zusammenleben mit anderen Menschen entstehen - LiebeI05 und HaßI05, SorgeI05 und AngstI05, SehnsuchtI05 und FreudeI05."
Zusammenfassung-Vorgänge
0. Fundstellen: Erleben 11 = (19 - Titel - Kopfzeilen 52, 54, 58, 60,
62, 64, 68); erlebt 2; Erlebnis 24
1. "Die Erregung ist der Grundvorgang des nervösen Geschehens.
Nicht nur jedes bewußte RAV50e2.2Erleben
hat in Erregungsprozessen seine Grundlage, ..."
2. "Die meisten Menschen verbringen den ganzen Tag bei wachem Bewußtsein.
...
»Ununterbrochen« verläuft dieses
Geschehen allerdings nicht. Der scheinbar kontinuierliche
RAV58E2.1Erlebnisablauf
besteht in Wahrheit aus einem ständigen Wechsel von Aktivität
und Passivität. ..."
Als Beweis führt er auf S. 59 an: "... Der Wiener Ohrenarzt V.
Urbantschitsch hat dies schon im Jahre 1875 mit einem einfachen Experiment
nachgewiesen: er hielt eine Taschenuhr so weit vom Ohr seiner Patienten,
daß sie das Ticken gerade noch hören konnten, aber sie hörten
es nicht ununterbrochen, sondern bald deutlich, bald überhaupt nicht.
..."
Fundstellen-Vorgänge-im-Kontext
RAV50.1-2: "Was geschieht in unserem Gehirn, wenn
wir etwas RAV50e2.1erleben?
Was geschieht im Gehirn des Lesers, wenn er diese Zeilen, ein Wort nach
dem anderen, liest und schließlich den Sinn des gelesenen Satzes
versteht? In allgemeiner Form läßt sich diese Frage klar und
sicher beantworten: in den Ganglienzellen und Nervenfasern der Hirnrinde
finden millionenfache elektrische Entladungen statt, und zugleich laufen
unübersehbar vielfältige chemische Reaktionen ab. Diese Prozesse
bezeichnet man als »Erregungen«.
Die Erregung ist der Grundvorgang des nervösen
Geschehens. Nicht nur jedes bewußte RAV50e2.2Erleben
hat in Erregungsprozessen seine Grundlage, ..."
RAV51.1-2: "... Die folgende Darstellung kann nur einen oberflächlichen Eindruck von den Prozessen der Nervenleitung vermitteln, andererseits kann man die theoretischen Ausführungen über die Grundlagen des bewußten RAV50e2.1Erlebens aber auch verstehen, wenn man die chemischen und elektrischen Einzelheiten des Leitungsvorganges nicht genau kennt. Das Prinzip dieses Vorganges - sprunghafte Erregungs-Fortpflanzung durch aufeinanderfolgende Entladungen hoher Spannungen - muß man aber verstanden haben, um ein einigermaßen richtiges Bild des Hirngeschehens während des bewußten RAV50e2.2Erlebens zu bekommen."
RAV58.1-4: "Die meisten Menschen verbringen
den ganzen Tag bei wachem Bewußtsein. ...
»Ununterbrochen« verläuft dieses
Geschehen allerdings nicht. Der scheinbar kontinuierliche
RAV58E2.1Erlebnisablauf
besteht in Wahrheit aus einem ständigen Wechsel von Aktivität
und Passivität. Die Psychologie bezeichnet diese [>59] Tatsache als
»Aufmerksamkeitsschwankungen«: das Steigen, und Sinken des
Bewußtseinsgrades von höchster Klarheit und Wachheit zu voller
Bewußtlosigkeit. Diese Ausdrucksweise ist nicht übertrieben:
in unserem bewußten RAV59e2.1Erleben
gibt es immer wieder ganz kurze Phasen, in denen unser Bewußtsein
schwindet, so daß wir nichts von den Reizen wahrnehmen, die auf unsere
Sinne wirken. Der Wiener Ohrenarzt V. Urbantschitsch hat dies schon im
Jahre 1875 mit einem einfachen Experiment nachgewiesen: er hielt eine Taschenuhr
so weit vom Ohr seiner Patienten, daß sie das Ticken gerade noch
hören konnten, aber sie hörten es nicht ununterbrochen, sondern
bald deutlich, bald überhaupt nicht. Wenn wir am Morgen mit frischen
Kräften unsere Arbeit beginnen, bemerken wir nichts von diesen »Aufmerksamkeitswellen«;
abends, wenn wir müde sind, erleben wir sie oft sehr deutlich, nicht
selten sogar als vollkommenes Aufhören des Bewußtseins für
kurze Zeit.
Von diesen Schwankungen der Bewußtseinsklarheit
ist später noch mehr zu sagen,- hier wurden sie nur als Beweis dafür
erwähnt, daß der RAV59E2.1Erlebnisablauf
nicht kontinuierlich vor sich geht. ..."
...
Wie bringen es die Ganglienzellen zustande, den ganzen Tag die Erregungen
für das bewußte RAV59e2.2Erleben
zu produzieren, wenn sie dabei ständig [>60] mit viel Sauerstoff versorgt
werden müssen? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Zwischen
den Phasen der Erregungsproduktion müssen immer wieder Stoffwechselphasen
eingeschoben werden, damit die Zelle funktionsfähig bleibt.
RAV60: "... und dadurch die Kontinuität des RAV60E2.1Erlebnisablaufes gefährdet wäre. ..."
RAV61f1-36: "Man könnte glauben, daß die Stoffwechselprozesse der Ganglienzellen für das bewußte RAV61e2.1Erleben von geringer Bedeutung seien. In Wahrheit spielen sie dabei eine sehr wichtige Rolle, weil die psychischen Vorgänge kontinuierlich RAV61e2.2erlebt werden müssen, damit die Zusammenhänge nicht verloren [>62] gehen; das Erregungsgeschehen verläuft aber nach der skizzierten Hypothese diskontinuierlich, d. h. es wird immer wieder durch Stoffwechselphasen unterbrochen. Da aber solche Unterbrechungen durch kurze Zeiten wegen der Sauerstoffaufnahme unvermeidlich sind, kommt es für den geordneten RAV61E2.1Erlebnisablauf in hohem Grade darauf an, daß die intermittierenden Stoffwechselphasen möglichst günstig verteilt werden, daß sich immer nur gerade jene Zellen in der Stoffwechselphase befinden, deren Erregungen zu diesem Zeitpunkt am wenigsten benötigt werden. Ein gut verteilter Stoffwechsel der Ganglienzellen unserer Hirnrinde ist wahrscheinlich eine entscheidende Voraussetzung für das geordnete Denken. ..."
RAV63: "Die physiologische Forschung hat seit
ihren Anfängen immer wieder eine Antwort auf die Frage gesucht, auf
welche Weise der Schlaf entstehe; man ist dabei über ziemlich unsichere
Theorien nicht hinausgekommen. Heute wird das Problem sozusagen umgekehrt
behandelt: man fragt sich, auf welche Weise das wache Bewußtsein
zustande kommt. Aus der »Schlaf- Forschung« ist eine »Bewußtseins-Forschung«
geworden - zweifellos eine richtigere Problemstellung, weil die Leistung
des menschlichen Gehirns nicht im Schlafen besteht, sondern in der Erzeugung
bewußter RAV63E2.1Erlebnisse.
In den letzten Jahrzehnten ist es europäischen und amerikanischen
Forschern gelungen, experimentell gut fundierte Ansätze zu einer Theorie
des Bewußtseins zu gewinnen.
Der erste wichtige Befund stammt von dem belgischen
Physiologen F. Bremer, der 1935 feststellte, daß eine Katze, bei
der man den Hirnstamm knapp unterhalb des Hypothalamus durchschneidet,
bewußtlos wird und nicht mehr geweckt werden kann, obwohl sie einige
Wochen weiterlebt [RS=Pseudo]. Dieses Resultat wurde mit
der Annahme erklärt, daß durch diesen Schnitt alle Sinnesnerven
unterbrochen würden, so daß keine Erregungen aus den Sinnesorganen
in die Hirnrinde gelangen. Man neigte zu der Annahme, daß Sinneserregungen
- zum mindesten die Erregungen aus dem eigenen Körper, also aus der
Muskulatur und den inneren Organen - vorhanden sein müßten,
damit bewußte
RAV63E2.2Erlebnisse
entstehen können. Diese Vermutung wurde 1948 durch Experimente des
amerikanischen Psychologen D. B. Lindsley widerlegt [FN28], der zeigte,
daß die Durchschneidung des Hirnstammes unterhalb des Hypothalamus
auch dann zu dauernder Bewußtlosigkeit führt, wenn die Nervenleitungen
erhalten bleiben, über welche die Erregungen aus den Sinnesorganen
der Haut, der Muskulatur und der inneren Organe in die Hirnrinde fließen;
die Katze war dauernd bewußtlos und die Ableitung der Gehirnströme
ergab nur die großen langsamen Schlaf-Wellen (Delta-Schwingungen).
..."
Zusammenfassung-Rohracher-2-Theorien
(Kürzel
RAT`)
0. Fundstellen: Erleben 39 = (49 - Titel - Kopfzeilen 179, 180, 182,
184, 186, 188, 190, 192, 194); erlebt 2; Erlebnis 24
1. Rohracher stellt in letzten Kapitel zwei Theorien des Erlebens vor
und erörtert diese, ohne sich für eine zu entscheiden:
1a) Theorie der letzten Wirkung: "Die erste Denkmöglichkeit über
die Beziehungen zwischen Hirnvorgängen und bewußtem
RAT180e2.1Erleben
läßt sich sehr kurz formulieren: bewußte
RAT180e2.2Erleben ist die letzte
Wirkung des organischen Geschehens, die selbst keinerlei weitere Wirkungen
ausübt.[FN75]"
1b) Theorie »vis extrinseca« (äußere Kraft):
"... überhaupt alle RAT188E2.2Erlebnisse
sind etwas ganz anderes als elektrische Entladungen oder molekulare Strukturveränderungen;
sie sind etwas Neues, im Bereich des materiellen Geschehens niemals Vorkommendes
und auch aus organischen Lebensprozessen nicht Erklärbares. ... Gehirnvorgänge
allein können nichts Psychisches hervorbringen; sie sind zwar eine
notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für bewußtes
RAT189e2.1Erleben
— es muß noch etwas anderes da sein, damit das immaterielle, geistige
Leben entsteht. ... Die »vis extrinseca« muß immateriell
sein (d. h. sie besteht nicht aus Atomen und Molekülen oder elektrischen
und magnetischen Feldern, daher ist sie mit den Mitteln der Physik auch
nicht nachweisbar); ..."
2. Rohracher konnte sich zwischen den beiden Theorien nicht entscheiden.
Ich denke, sie sind beide falsch. Sobald man die Mystik der Immaterialilität
des Geistes und des Erlebens aufgibt, etwa durch Annahme der Identitaetstheorie
von Leib-Seele-Geist, verschwinden die prinzipiellen Probleme.
RAT179.1: "Im Folgenden sollen zwei Denkmöglichkeiten über die Beziehung zwischen Gehirnvorgängen und bewußtem RAT179e2.1Erleben besprochen werden, die sich auf Grund der in diesem Buche berichteten Tatsachen ergeben. ..."
RAT179.2: "... Zu diesem Gefühlsfaktor kommt noch, daß für die Größe des Unterschiedes, der zwischen dem organischen Geschehen im Gehirn und dem bewußten RAT179e2.2Erleben besteht, kein objektives Kriterium vorhanden ist; es hängt von der Persönlichkeit des Menschen ab, wie hoch er die Bedeutung dieses Unterschiedes einschätzt; dadurch wird seine Stellungnahme zu den beiden Theorien entscheidend mitbestimmt."
RAT179.3: "Auf die alten Theorien soll im Folgenden
nicht eingegangen werden; auf die »Wechselwirkungs-Theorie«
deshalb nicht, weil sie zwei Annahmen enthält, die mit der Gehimabhängigkeit
des psychischen Geschehens in Widerspruch stehen: sie behauptet, daß
die Hirnprozesse das bewußte RAT179e2.3Erleben
bewirken (dies widerspricht natürlich nicht der Gehirnabhängigkeit),
daß das ...
RAT179.4: ... RAT179e2.4Erleben
dann selbständig weiterbesteht und auf die Hirnvorgänge zurückwirkt
(es kann also das Erregungsgeschehen verändern). ..."
Erörterung der 1. Theorie der letzten Wirkung 180-188 |
RAT180.1-10: "Die erste Denkmöglichkeit über die Beziehungen
zwischen Hirnvorgängen und bewußtem RAT180.e2.1Erleben
läßt sich sehr kurz formulieren: Das bewußte
RAT180.e2.2Erleben ist die letzte
Wirkung des organischen Geschehens, die selbst keinerlei weitere Wirkungen
ausübt.[FN75]
Bevor auf die sehr schwerwiegenden Einwände
gegen diesen Satz eingegangen wird, sei er an einigen Konsequenzen erläutert;
er wird dadurch noch abschreckender als er in der obigen Formulierung schon
ist. Wenn das bewußte RAT180.e2.3Erleben
die letzte Wirkung des organischen Geschehens darstellt, so kann es aus
sich selbst nichts zur Steuerung seines weiteren Verlaufes beitragen. Jede
einzelne Phase eines RAT180.E2.1Erlebnisablaufes
ist immer »nur« das Ergebnis der zugrunde liegenden Erregungsvorgänge.
Nicht das gegenwärtige RAT180.e2.4Erleben
ist die Ursache des folgenden RAT180.e2.5Erlebens,
sondern der gegenwärtige Hirnvorgang ist die Ursache des folgenden
Hirnprozesses, aus dem das nächste RAT180.e2.6Erleben
entsteht. Nicht das »Verstehen« einer guten Nachricht ist die
Ursache der Freude, sondern die Erregungen, die die Nachricht auslöste,
erzeugen weitere Erregungen, die die Ursache der Freude sind. Man könnte
meinen, daß eine solche Auffassung eine Variation der alten »Parallelismus-Theorie«
sei, nach welcher das Psychische nur auf Psychisches und das Körperliche
nur auf Körperliches wirke. Von dieser Lehre unterscheidet sich die
»Theorie der letzten Wirkung« durch die Auffassung, daß
das Psychische zwar eine Wirkung des Körperlichen darstelle,
aber die letzte Wirkung, so daß es nicht auf das Körperliche
zurückwirkt, jedoch auch nicht selbst ein neues
RAT180.e2.7Erleben
hervorbringen kann. Von der »Wechselwirkungs-Lehre« weicht
die skizzierte Theorie darin ab, daß sie ausdrücklich keine
»Wechsel«wirkung annimmt, sondern Wirkung nur in einer
Richtung: vom Gehirnprozeß zum bewußten
RAT180.e2.8Erleben,
nicht aber umgekehrt. Man kann daher auch sagen: die »Theorie der
letzten Wirkung« behauptet eine »einsinnige Kausalität«;
Hirnvorgänge sind die Ursache des bewußten
RAT180.e2.9Erlebens,
dieses selbst ist aber niemals Ursache, weder eines körperlichen noch
eines psychischen Geschehens. Oder in anderer Formulierung: das Psychische
ist nur Wirkung - eben die letzte Wirkung; mit dem bewußten
RAT180.e2.10Erleben
hört die Kausalreihe auf, es ist das Endprodukt des organischen Geschehens."
RAT181.1-3 "Es ist mir bewußt, daß
diese Theorie zunächst den Eindruck erwecken muß, sie sei nichts
als eine neue Spekulation über den unerkennbaren Zusammenhang zwischen
Hirnvorgängen und Seelenleben. Gerade das ist sie aber nicht; über
diesen Zusammenhang, sofern man mit ihm die Entstehung
des RAT181e2.1Erlebens aus
Erregungsvorgängen meint, kann diese Theorie ebensowenig
Aufschluß geben wie alle bisherigen Theorien. Nimmt man diesen Zusammenhang
als letzte, vorläufig nicht aufklärbare Tatsache, so bleibt noch
immer die Frage zu beantworten, welche Stellung dem psychischen Geschehen
in der Natur und im Menschen zukommt. Zu dieser Frage behauptet die »Theorie
der letzten Wirkung«, daß das bewußte
RAT181e2.2Erleben
weder selbst weitere RAT181E2.1Erlebnisse
hervorbringen noch auf das Gehirn zurückwirken und dort neue »mentale«
Erregungen erzeugen kann; sie betrachtet die bewußten Vorgänge
und Zustände als das letzte Ergebnis der physikalischen, chemischen
und organischen Prozesse, die sich im lebenden Körper abspielen.
...
... aus dem menschlichen RAT181e2.3Erleben
sind nicht nur alle künstlerischen Leistungen hervorgegangen, ..."
RAT183 "... Damit die Ganglienzelle lebe und funktioniere, müssen diese Atome und Moleküle und Systeme bestimmte Bewegungen ausführen, und aus diesen Bewegungen soll nun auf dem Wege der Erregungsproduktion das bewußte RAT183e2.1Erleben hervorgehen. ..."
RAT184.1-3: "... Das Leben und das RAT184e2.1bewußte
Erleben ergibt sich aus diesem System von selbst; die Art
der strukturellen Ordnung veranlaßt die Elemente zu bestimmten Bewegungen,
die makroskopisch als die Funktion der Organe in Erscheinung treten. ...
...
... Unser bewußtes RAT184e2.2Erleben,
wir selbst als RAT184e2.3Erlebende
- ein Ergebnis des wunderbaren Ineinanderwirkens der Elemente und ihrer
inneren Gesetzlichkei-[>185]ten. Diese Auffassung hat etwas Befreiendes
und Beruhigendes; sie reiht uns mit allem, was wir sind und tun, in die
große Ordnung ein, die dem Lauf des Naturgeschehens zugrunde liegt.
Warum soll eine solche Hypothese das Menschliche entwürdigen? Wenn
die natürlichen Stoffe sich zu einer Einheit verbinden, aus welcher
auf naturgesetzliche Weise das
bewußte RAT184e2.4Erleben
entsteht, die Einsicht in die Kräfte des Universums, die Erkenntnis
seines Schöpfers, edle Gedanken und edle Ausdrucksformen - warum soll
alles dies nur deshalb an Größe verlieren, weil es aus geordneter
Materie hervorgeht? ..."
RAT186.1-3: "Wenn eine Theorie empirisch nicht widerlegt oder logisch als absurd abgelehnt werden kann, so ist sie natürlich deshalb noch lange nicht als richtig bewiesen. Die Argumente, die für die Richtigkeit der skizzierten Auffassung sprechen, sind dürftig; sie bestehen lediglich in ihrem Erklärungswert und in dem Umstand, daß sie die Annahme einer »Rückwirkung« von seelisch-geistigen Vorgängen auf organische Prozesse überflüssig macht. Dadurch ist wenigstens eine der beiden Hauptschwierigkeiten des Leib-Seele-Problems beseitigt: die erste dieser Schwierigkeiten - die Entstehung des bewußten RAT186e2.1Erlebens aus dem Erregungsgeschehen - bleibt weiter bestehen, d. h. sie ist nach wie vor ein unlösbares Problem; die zweite hingegen - die »Rückwirkung« des bewußten RAT186e2.2Erlebens auf die Erregungsvorgänge - fällt weg, sobald man annimmt, daß nicht das Erleben selbst, sondern ausschließlich die ihm zugrunde liegenden Gehirnprozesse weitere Gehirnprozesse und dadurch neue RAT186E2.1Erlebnisse bewirken. "
RAT186f:1-4 "... Man ist zwar weiterhin zur Annahme gezwungen, daß
der bewußte »Zorn« auf unbekannte Weise aus Erregungsvorgängen
hervorgeht, aber man braucht nicht mehr anzunehmen, daß der Zorn
als solcher, nämlich als psychischer Zustand, durch Einwirkung auf
das parasympathische Nervensystem die Blutgefäße des Gesichts
erweitert und dadurch den »roten Kopf« erzeugt. Diese Gefäßerweiterung
bewirkt nicht der Zorn als bewußtes Erlebnis, sondern die dem Zorngefühl
zugrunde liegende Erregungskonstellation; und ebenso erzeugt diese Erregungskonstellation
neue Erregungskomplexe, aus denen z.B. [>187]
das RAT187e2.1Erleben
des »Aggressionsdranges« entsteht, d. h. des Triebes, den Menschen,
der uns zornig machte, zu beschimpfen. Erregungsprozesse werden nicht durch
das psychische Geschehen erzeugt oder beeinflußt, sondern nur durch
andere, vorausgegangene Erregungen; was wir dabei RAT187e2.2erleben,
ist immer nur ihre Wirkung, nie ihre Ursache.
Für die Richtigkeit dieser Hypothese spricht
eine Folgerung, die sich unmittelbar aus der Gehirnabhängigkeit des
Psychischen ergibt. Da alles bewußte RAT187e2.3Erleben
von Erregungsvorgängen abhängt, hört es im
gleichen Augenblick auf, in welchem die Erregungen aufhören. Nichts
bleibt von ihm übrig; es existiert nicht mehr, sobald die Erregungen
nicht mehr existieren. ...
...
Was wir gewöhnlich als Wirkung des Psychischen
auf den Körper bezeichnen - also das Lachen oder Weinen, der rote
Kopf im Zorn oder das Erstarren des Gesichtes im Schreck -, ist nach der
früher dargelegten Auffassung eine Wirkung von bestimmten Erregungskonstellationen
auf bestimmte subkortikale Zellgruppen, und zwar derselben Erregungskonstellationen,
aus denen auch das bewußte RAT187e2.4Erleben
des Ereignisses, das uns erzürnt oder erschreckt, hervorgeht. Solche
Erregungsprozesse erzeugen sowohl das Gefühl des Zornes wie auch die
körperlichen Ausdruckserscheinungen; sie sind die gemeinsame Ursache
für beide Wirkungen. Alles Psychische ist dabei selbst immer nur Wirkung,
niemals Ursache. ..."
RAT188: "... Die »Theorie der letzten Wirkung« nimmt an,
daß zwischen dem Erregungsgeschehen im Gehirn und dem bewußten
RAT188e2.1Erleben
eine so enge und feste kausale Beziehung bestehe, daß das letztere
in seiner Existenz und in allen seinen Eigenschaften vom ersteren abhänge;
sie behauptet aber außerdem, daß dieser Zusammenhang nur
in einer Richtung gegeben sei, nämlich in derjenigen vom Physischen
zum Psychischen: das bewußte RAT188e2.2Erleben
könne nicht auf die Erregungsprozesse wirken oder neue Erregungen
erzeugen, weil es selbst von Erregungsvorgängen abhängig sei
und ohne diese überhaupt nicht existiere."
2. Erörterung der Theorie vis extrinseca (äußere Kraft) 188-194 |
RAT188f1-8: "Welche Denkmöglichkeiten bestehen für denjenigen, dem die Entstehung der bewußten RAT188E2.1Erlebnisse aus chemischen und elektrischen Vorgängen unmöglich erscheint, der sich einfach nicht vorstellen kann, daß Freude und Begeisterung, Angst und Verzweiflung, das Verantwortungsbewußtsein und das Gewissen des Menschen aus elektrischen und chemischen Prozessen zustandekommen? Sein Standpunkt ist logisch und empirisch nicht zu widerlegen: Freude und Trauer, Verantwortungsgefühl und Gerechtigkeitsdrang, Sehnsucht und Angst, überhaupt alle RAT188E2.2Erlebnisse sind etwas ganz anderes als elektrische Entladungen oder molekulare Strukturveränderungen; sie sind etwas Neues, im Bereich des materiellen Geschehens niemals Vorkommendes und auch aus organischen Lebensprozessen nicht Erklärbares. Freude und Begeisterung, Angst und Verzweiflung, kurz alle Gedanken und Gefühle unterscheiden sich in so hohem Grade von chemischen und elektrischen Vorgängen in den Ganglienzellen, daß man von einer »Wesensverschiedenheit« sprechen kann; es liegen prinzipielle Unterschiede vor, daher kann man die Gehirnvorgänge wohl als eine unerläßliche Voraussetzung des psychischen Geschehens betrachten (dies ist durch Tatsachen unwiderlegbar bewiesen), aber sie sind nicht die einzige Voraussetzung, die erfüllt sein muß, damit bewußtes RAT188e2.1Erleben entsteht; es muß noch etwas [>189] dazukommen. Gehirnvorgänge allein können nichts Psychisches hervorbringen; sie sind zwar eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für bewußtes RAT189e2.1Erleben — es muß noch etwas anderes da sein, damit das immaterielle, geistige Leben entsteht.
Ende Rohracher Zwei Theorien des Erlebens
Zusammenfassung-Rohracher-1988:
Viele Formulierungen, teils wörtlich, zum Erleben und zu den Erlebnisse
finden sich bereits in der 1967 veröffentlichten Arbeit Die
Arbeitsweise des Gehirn und die psychischen Vorgänge. Hieraus
ist der Schluss zu ziehen, dass Rohracher seine 1967 mitgeteilten Grundüberzeugungen
zu Erleben und Erlebnis beibehalten hat.
_
Bösel, Rainer (2006) Das Gehirn: Ein Lehrbuch der funktionellen
Anatomie
für die Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
S.? [in GB
nicht angezeigt] "Hubert Rohracher (1903-1972) entwarf 1967 explizit die
These, dass das bewusste Erleben nicht neue Erregungen erzeugen könne,
weil es selbst von Erregung abhängt. Dem widersprachen Popper &
Eccles (1977), indem sie eine „downward ..."
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Inhaltsverzeichnis site: www.sgipt.org. |
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korrigiert: 14.02.2023 irs Rechtshreibprüfung und gelesen
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