Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=30.12.2022 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: tt.mm.jj
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Allgemeine Psychologie, Bereich Erleben, und hier speziell zum Thema:

    Erleben und Erlebnis bei Wolfgang Metzger
    Erlebensbeobachtung * Künstlerisches Erleben.

    Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Zur  Methode der Fundstellen-Textanalyse  * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis  * Zusammenfassung *
     

    Zusammenfassung Metzger Erlebensbeobachtung (62-64)
    Gleich zu Beginn definiert - ohne das Wort Definition zu benutzen - Metzger klar, was zu den Erlebnissen und damit zum Erleben gehört:
     

      "Die MG62e1Erlebensbeobachtung umfaßt außer der Beobachtung von MG62E1Erlebnissen im engsten Sinn, d. h. von inneren Erscheinungen oder Inhalten des Selbstbewußtseins (Gefühlen, Stimmungen, Befindlichkeiten, Neigungen, Gelüsten, Bedürfnissen, Gerichtetheits-, Tätigkeits- und Erleidensbewußtsein) einschließlich der offenkundig innenbedingten - „unwirklichen" - Sachgehalte (Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Wissengehalte, Erwartungen, Pläne, Einbildungen, Erdichtungen, Träume) auch die Beobachtung von Erscheinungen der gesamten scheinbar ich-unabhängigen äußeren - „wirklichen” - Welt (einschließlich des eigenen Körpers), deren tatsächliche Abhängigkeit von der Natur des Menschen als eines beseelten und darüber hinaus bewußtseinsbegabten Wesens sie untersucht. (Die verbreitete Bezeichnung „Selbstbeobachtung" oder Introspektion ist daher für die MG62e2Erlebensbeobachtung zu eng. Sie trifft nur auf die erste der drei genannten Gruppen von Erscheinungen zu.)"


    Fundstellen: Erlebensbeobachtung (ohne im Titel) 7, Erlebnisse 2.
    Lesebeispiel Indizierung, z.B. MG62e2: MG steht für Metzger, Gestaltpsychologie 1965, 1999 (Taschenbuchausgabe, original 1986), S. 62, erleben in 2. Erwähnung.
     

    Fundstellen im Kontext Erlebensbeobachtung

    12. Die Erlebensbeobachtung
    Die MG62e1Erlebensbeobachtung umfaßt außer der Beobachtung von MG62E1Erlebnissen im engsten Sinn, d. h. von inneren Erscheinungen oder Inhalten des Selbstbewußtseins (Gefühlen, Stimmungen, Befindlichkeiten, Neigungen, Gelüsten, Bedürfnissen, Gerichtetheits-, Tätigkeits- und Erleidensbewußtsein) einschließlich der offenkundig innenbedingten - „unwirklichen" - Sachgehalte (Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Wissengehalte, Erwartungen, Pläne, Einbildungen, Erdichtungen, Träume) auch die Beobachtung von Erscheinungen der gesamten scheinbar ich-unabhängigen äußeren - „wirklichen” - Welt (einschließlich des eigenen Körpers), deren tatsächliche Abhängigkeit von der Natur des Menschen als eines beseelten und darüber hinaus bewußtseinsbegabten Wesens sie untersucht. (Die verbreitete Bezeichnung „Selbstbeobachtung" oder Introspektion ist daher für die MG62e2Erlebensbeobachtung zu eng. Sie trifft nur auf die erste der drei genannten Gruppen von Erscheinungen zu.)
        Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften betrachtet sie auch die Erscheinungen der äußeren Welt zunächst nicht in ihrer Rolle als Abbildung eines bewußtseinsunabhängigen und bewußtseinsjenseitigen wirklichen Seienden (obwohl sie beim Aufbau und der Verwendung ihrer Versuchsanordnungen von dieser, als tatsächlich vorausgesetzten, Rolle technischen Gebrauch macht); sie betrachtet also diese Erscheinungen nicht unter ständigem berichtigendem gedanklichem Abweichen von ihrer unmittelbaren Gegebenheitsweise, sondern unter geflissentlichem Absehen von allem „besseren Wissen" im möglichst unbefangenen Hinnehmen ihres Soseins. Sie kennt daher auch nicht die naturwissenschaftliche Beschränkung auf einige wenige „zuverlässige" Erscheinungen (auch die optische Beobachtung durch den „Reduktionsschirm" spielt durchaus nicht diese Rolle); sondern die unzuverlässigsten, die sogenannten Täuschungen, sind ihr besonders wichtig, weil an ihnen die Eigenart der Wahrnehmungsfunktionen sich am greifbarsten äußert.
        Neben der Untersuchung von Täuschungen der verschiedensten Art, die sich ihrer Aufmerksamkeit aufdrängen, besteht ihre Tätigkeit sogar großenteils in der Schaffung neuer Täuschungen. In diesem Zusammenhang gehört vor allem auch der sogenannte Attrappenversuch, in welchem untersucht wird, welche unter den Eigenschaften der ( Dinge und Vorgänge in der Umgebung eines mit Sinneswerkzeugen ausgestatteten Wesens überhaupt am Aufbau seiner Eigen weit beteiligt sind und dadurch sein Verhalten beeinflussen können. Als Beispiel eines einfachen Attrappenversuchs am Menschen . nennen wir die Erzeugung des Eindrucks der Durchsichtigkeit mit ausschließlich undurchsichtigen, nur in geeigneter Anordnung dargebotenen Dingen. Die größte Bedeutung hat der Attrappenversuch in letzter Zeit in der Erforschung der tierischen - Instinkthandlungen gewonnen (LORENZ, TINBERGEN).
     [>63]
            Da die naturwissenschaftlich bevorzugte Einstellung „sich nichts vormachen zu lassen“, zugleich die lebensdienlichste und daher die Grundeinstcllung des Alltags ist, bedarf der psychologische Beobachter einer Schulung im Zurückhalten der Neigung zum „wirklichkeitsgerechten“ Umdeuten des unmittelbar Gegebenen (Abschn. 3 und 10).
        In den ersten Jahrzehnten der psychologischen Forschung betrachtete man als wesentlichsten Bestandteil psychologischer Beobachtungskunst die Fertigkeit, seine Aufmerksamkeit auf möglichst kleine Ausschnitte („Punkte“) des Wahrnehmungsfel¬des einzuengen und möglichst einfache Bestandteile oder Eigenschaften aus der Mannigfaltigkeit des unmittelbar Gegebenen herauszufassen, unter möglichstem Absehen von der gesamten räumlich-zeitlichen und qualitativen Umgebung. In der Schulung des psychologischen Beobachtens spielte daher die Aneignung dieser Fertigkeit eine besondere Rolle (man denke an das Heraushören von Teiltönen aus musikalischen Klängen). Diese Auffassung von den Erfordernissen psychologischer Beobachtung folgte notwen¬dig aus der damals herrschenden Meinung, es sei die wichtigste oder wenigstens vordringlichste Aufgabe der Psychologie, die „kleinsten“ oder „einfachsten" „Bestandteile“, die „Elemente" oder „Atome“ des Seelischen zu isolieren, um dann später die Gesetze der Verbindung und des Zusammenwirkens' dieser Urbestandteile zu erforschen, - Inzwischen hat sich dieses Forschungsprogramm, trotz aller Erfolge, in der Psychologie als sinnlos erwiesen. Im Zusammenhang damit ist man von der Ansicht, das unter eingeengter Aufmerksamkeit Beobachtete habe für die Psychologie eine wissenschaftliche Sonderstellung, aus guten Gründen abgekommen. Seitdem kann die Fertigkeit des „Herausfassens“ nur noch als eine unter vielen anderen Möglichkeiten willkürlicher Aufmerksamkeitsrichtung und -Verteilung gelten, durch die geprüft werden kann, in welcher Weise und wie weit subjektives Verhalten das Gegebene beeinflußt. Unter dieser Fragestellung ist aber die willkürliche Ausweitung des Aufmerksam- keitsbereichs neben der willkürlichen Lösung der Aufmerksamkeitsrichtung von der "Blickrichtung mindestens ebenso wichtig wie ihre willkürliche Einengung.
        Übrigens können unter geeigneten Vorkehrungen auch völlig ungeschulte Beobachter durch aus zuverlässige MG63e1Erlebensbeobachtungen liefern (siehe unten Abschn. 19).
        Eine Besonderheit, die die MG63e2Erlebensbeobachtung von der/Beobachtung in allen ? anderen Wissenschaften unterscheidet und die offenkundig für die Inhalte des Selbstbe- 1 wußtseins und die innenbedingten Sachgehalte gilt, erweist sich bei näherem Zusehen Kais ebenso gültig für die Inhalte des Weltbewußtseins: Sie sind „privat“, nur einem ^Beobachter unmittelbar zugänglich; sic können einem zweiten Beobachter nicht ?gezeigt, sondern ihm nur (in Worten oder Abbildungen) berichtet werden; (man kann niemandem ein Nachbild zeigen, das man eben selber sieht). Dies gilt, streng genom- h»en, auch für die Beobachtungsgegenstände der Physik; die numerische Identität für ( mehrere Beobachter ist, auch wenn es sich um den Zusammenfall einer Zeigerspitze l'tend eines Skalenstrich cs handelt, nur scheinbar (W. KÖHLER 1933). Ein zweiter Beobachter kann immer nur in dieselbe Lage gebracht und nach seinen, ebenso |j«ivaten, MG63E1Erlebnissen oder gegenständlichen Beobachtungen gefragt werden, die dann |in günstigsten Fall mit denen des ersten übercinstimmen. - Um die gewünschte "Aussage“ machen zu können, muß er freilich außerdem wissen, was der erste eigentlich beobachtet haben möchte und wie auch er selbst sich bei der Beobachtung zweckmäßig zu verhalten habe (genau wie ein zweite Beobachter in der Physik erfahren muß, was für Hebel er zu bedienen, auf welchen Zeiger er schauen und welchen Standpunkt er selbst einzunehmen hat, damit die Deckung mit dem Skalenstrich richtig [>64] zu sehen ist). Phänomenologisch betrachtet ist also bei der MG64e1Erlebensbeobachtung die Versuchsperson etwas ganz anderes als bei der Verhaltensbeobachtung: Sie ist ein zusätzlicher, beauftragter Beobachter, ein Forschungsgehilfe, und nur in demselben funktionalen Sinn, in dem es auch schon der erste Beobachter ist, zugleich „Gegenstand“ des Versuchs.
        Ein Hilfsbeobachter braucht seine Arbeitsanweisung. Dies ist der einfache Sinn der „Instruktion“ oder Versuchsanweisung, die im psychologischen Versuch - im Gegensatz zu dem Experiment sämtlicher anderer Wissenschaften - eine so auffallende Rolle spielt. Daß sie kein notwendiges und unterscheidendes Merkmal des psychologischen Experiments ist, geht aus zwei Tatsachen hervor: 1. gehört zu der psychologischen Verhaltensbeobachtung im reinen Fall keine Instruktion der Vp. (vgl. Abschn. 19); 2. gehört zur Verhaltensbeobachtung gar nicht notwendig ein zweiter Mensch als Vp. (also auch nicht eine Versuchsanweisung und eine „Aussage“), Jede MG64e2Erlebensbeobachtung kann grundsätzlich vom Forscher allein angestellt werden, indem er sich selbst in die gewünschte Lage begibt bzw. die gewünschten Faktoren auf sich einwirken läßt und seine Beobachtung, ebenso wie der Physiker, selbst ausführt. Es gibt kaum eine wichtige Erscheinung der äußeren und der inneren Wahrnehmung und des Selbstbewußtseins, die nicht auf diese Weise, ohne Vp., entdeckt und in ihren wesentlichen Zügen erforscht wurde, bevor man weitere Beobachter hinzuzog, um ihre Verbreitung festzustellen.
        Zweckmäßigerweise macht der Psychologe in entscheidenden Phasen der MG64e3Erlebensbeobachtung seinen Helfer nicht zur Vp., sondern zum Versuchsleiter, und übernimmt die Beobachtung (d. h. die Rolle der Vp.) immer (auch) selbst. Dann hat er, was er für seine Entscheidungen braucht, aus erster Hand. Ja, er hat seine Unterlagen viel unmittelbarer zur Verfügung als irgendein Natur- oder Verhaltensforscher, da 1., ebenso wie bei der Verhaltensbeobachtung, die entstellende und verarmende sprachliche Vermittlung entfällt, und 2. - was in keinem Verhaltensversuch möglich ist - sein Forschungsgegenstand ihm nicht etwa durch die Wahrnehmung als ein mehr oder weniger irreleitendes Abbild nur vermittelt wird, sondern in den beobachteten Wahrnehmungserscheinungen selbst unmittelbar vor ihm steht. (Über technische Schwierigkeiten des Versuchs an der eigenen Person siehe unten Abschn. 20). Der entstellende Einfluß der Sprache, der m der Begründung des Behaviorismus eine so entscheidende Rolle spielt, setzt in diesem Fall genau an der Stelle ein, wo er auch beim Behaviorismus selbst einsetzt, nämlich bei der unvermeidlichen Aufgabe des Forschers, seine Ergebnisse der Allgemeinheit mitzuteilen und andere Forscher zur Nachprüfung einzuiaden.
        Zahlreiche Eigenschaften der anschaulichen Welt können auch (unter Umgehung der sprachlichen Mitteilung) aus dem Verhalten der Vp, erschlossen werden (das gilt auch für Bewußtseinsinhalte, welche die Vp. zu verheimlichen sucht). Bei einem Wesen, das nicht sprechen kann oder mit dem aus anderen Gründen keine sprachliche Verständigung möglich ist, bleibt dies der einzige Weg ihrer Erforschung. Doch sind die erforderlichen Vorkehrungen (Wahldressuren u. dgl.) im Vergleich zu der Dürftigkeit ihres jeweiligen Ertrags so unvergleichlich viel umständlicher und zeitraubender, daß beim sprachbegabten Wesen, solange keine Irreführungsabsichten vorauszusetzen sind, schon aus Gründen der Sparsamkeit hierfür die Befragung das weit sinnvollere Verfahren ist."
     



    Der Beitrag der Gestalttheorie zur Frage der Grundlage des künstlerischen Erlebens (1965), S. 497-508.

    Zusammenfassung-Metzger-Künstlerisches Erleben (1965)
    Der Begriff künstlerisches Erleben ist mehrdeutig. Einmal kann es um das Erleben eines Künstler gehen, wenn er Kunst erzeugt. Zum anderen kann es um das Erleben von Kunstschöpfungen gehen, wenn Rezipienten Kunstwerke oder solche, die als solche gelten, auf sich wirken lassen. Naheliegend ist es, die Erlebnisse, die Kunstschöpfungen bei RezipientInnen hervorrufen, Kunsterlebnisse zu nennen. Ich interpretiere Metzger so, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt. Und Metzger erklärt leider auch nicht, was er unter künstlerischem Erleben versteht  und wodurch ein Erleben ein künstlerisches Erleben wird - obwohl das ja gerade Thema seines Vortrages ist.
     

      500 "... ARNHEIM sucht nun unabhängig von DUNCKER weiter aufzuklären, worauf es hierbei vor allem ankommt. Er fragt ganz einfach, was nimmt man eigentlich wahr, wenn man etwas schön findet?"
       
        Kommentar: Quellenangabe fehlt. Im Arnheim (1965) "Kunst und Sehen" habe ich keinen Abschnitt gefunden, in dem sich das Zitat finden könnte. Merkwürdigerweise fehlt im Arnheim auch ein Kapitel "Wahrnehmung."


    Diese Frage nach dem Schönen in der Wahrnehmung ist in der  traditionellen Ästhetik  verhaftet und ist schon viel zu speziell. Allgemeiner und treffender wäre die Frage: welche spezifischen Wirkungen rufen Kunstwerke oder solche, die als Kunstwerke gelten, in RezipientInnen hervor? Das ist die Gretchenfrage der Kunstpsychologie. Und sie kann nur mit empirisch Untersuchungen beantwortet werden. Nimmt man vorweg, dass bei einer Untersuchung dieser Frage herauskommt, dass die Wirkungen, die durch Kunstwerke hervorgerufen werden, auch durch Nicht-Kunstwerke hervorgerufen werden können, steckt man in einer methodischen Sackgasse, weil es dann keine kunstwerkspezifischen Wirkungen gäbe. Was wäre es aber dann, das Spezifische des Erlebens eines Kunstwerks, wenn die Wirkung als Kriterium ausfällt?

    ___
    Fundstellen im Kontext

    erleb 38, e:= erleben 20, erlebt 9, E:= Erlebnis 9
    Lesebeispiel Indizierung der Fundstellen: MK498e1Erleben bblies bitte: MK := Metzger Der Beitrag der Gestalttheorie zur Frage der Grundlage des künstlerischen Erlebens (1965), der Gebrauch findet sich auf Seite 498, und auf dieser Seite ist es der erste Gebrauch von erleben (e1)
     

    Titel

    498: "..........  Es wäre sonderbar,
    wenn die Vertreter einer Lehre, die schon in der Theorie der alltäglichen Wahrnehmung
    mit im Grunde ästhetischen Begriffen arbeitet, in dieser langen Zeit nicht auch über das
    eigentlich künstlerische Schaffen und MK498e1Erleben und deren psychologische Voraussetzungen
    sich Gedanken gemacht hätten. Der Beitrag der Gestalttheorie — so wie er gedruckt
    der Allgemeinheit vorliegt — besteht aber bisher vorwiegend aus zerstreuten Bemerkungen.
    Bedeutsam scheinen mir unter anderem einige Arbeiten von Karl DUNCKER, dem
    vorzeitig verstorbenen hoffnungsvollsten Mitglied der Gruppe, die sich in den zwanziger
    Jahren im Berliner Psychologischen Institut zusammengefunden hatte, und von
    Rudolf ARNHEIM, dessen Werk „Art and Visual Perception" Ihnen vermutlich bekannt
    ist. Dort und in einem besonderen Aufsatz von ARNHEIM gibt es eingehendere
    Überlegungen, die ich nun im folgenden mit eigenen Gedanken zu einem halbwegs
    einheitlichen Ansatz zusammenfassen möchte.
        Ich beginne mit einer einfachen, man kann fast sagen banalen These. Sie lautet: Alle
    Kunst soll Freude machen. Man spricht im Deutschen auch von Kunstgenuß — ein
    unvermeidliches, aber von mir nicht sehr geschätztes Wort, weil es ein wenig an ein
    Delikatessengeschäft erinnert. Was ist das aber für eine besondere Art von Freude oder
    Genuß? Einiges Erleuchtende darüber hat Karl DUNCKER in seiner nachgelassenen
    Schrift über „Pleasure, Emotion, and Striving" gesagt. Er unterscheidet dort drei Arten
    von lustvollen MK498E1Erlebnissen.

    • Erstens den sinnlichen Genuß, der gegeben ist, etwa wenn man einen guten Wein trinkt.
    • Zweitens, wie er es formuliert, die Formen der Freude, die aus Gesinnungen hervorwachsen, etwa die Freude über die Heimkehr eines Sohnes aus der Fremde oder über den Sieg einer guten Sache.
    • Endlich einen dritten Typ von MK498E2Erlebnissen, den man vielleicht am besten einführt auf dem Weg über die eigenartigen Beziehungen, in denen sie zu den sinnlichen MK498E3Erlebnissen im engeren Sinne des Wortes stehen.


    500: "... ARNHEIM sucht nun unabhängig von DUNCKER
    weiter aufzuklären, worauf es hierbei vor allem ankommt. Er fragt ganz einfach, was
    nimmt man eigentlich wahr, wenn man etwas schön findet? Er nennt dann als Beispiele
    ein harmonisches Zueinander von Farben, einen musikalischen Akkord, ferner die
    wohlausgewogenen, zur Einheit zusammengeschlossenen Bewegungen, wie man sie an
    einem Tanzenden nicht nur als Zuschauer sieht, sondern vor allem wie sie der Tänzer
    selbst in den wechselnden Muskelspannungen seines Körpers und den gegenseitigen
    Verlagerungen seiner Glieder spürt, was sicher etwas ebenso Schönes ist wie die
    sichtbaren Figuren des Tanzes; endlich, was man MK500e1erlebt, wenn man die erfreuliche
    Übereinstimmung entdeckt zwischen dem Spannungsgefüge in einer Mannigfaltigkeit
    von Formen und Farben und demjenigen, das irgendeiner bedeutsamen Lebenssituation
    innewohnt. Von diesen Beispielen kann das erste und zweite — also der Akkord
    und das Farbzueinander — zweifellos etwas Schönes sein, aber erst das dritte und das
    vierte wird man als Kunstwerk bezeichnen, oder richtiger: es können Kunstwerke sein.
    Auch nach ARNHEIM bietet Kunst sinnliche Formen, Bilder und Gedanken nicht um
    ihrer selbst willen dar, sondern als Gefäße, die irgendetwas anderes enthalten; freilich
    in der merkwürdigen Art und Weise — um es nun mit meinen Worten zu sagen — daß es
    sich nicht aus ihnen herauslösen läßt. Es sind gewissermaßen Gefäße, die man nicht
    ausschütten kann. Aber was enthalten sie denn? Fragt man die älteren Theoretiker der
    Ästhetik, so ist ihre Meinung ziemlich einheitlich. ARNHEIM führt einige Engländer an,
    er hätte genausogut Deutsche nennen können. Er zitiert Roger FRY, D. W. PRALL.
    Das, was das Kunstwerk ausdrückt, sind nach ihrer Meinung ausnahmslos Gefühle und
    Emotionen. Ganz gleich welcher Art von Kunst es angehört, ob es ein Bild, ein
    Musikstück oder ein Gedicht ist, stets ist es eine Manifestation seelischer Zustände in
    wahrnehmbarer Form. Dies ist unter anderem auch die Meinung TOLSTOIS, der sich ja
    ebenfalls grundsätzlich mit ästhetischen Fragen beschäftigt hat. Er versteht Kunst als
    eine menschliche Tätigkeit, durch welche der eine Mensch mit Hilfe bestimmter
    äußerer Zeichen dem anderen Gefühle vermittelt oder an ihn weitergibt, die er selbst
    MK500e2erlebt hat. Wobei dann der andere von diesen Gefühlen angesteckt wird und sie
    ebenfalls MK500e3erlebt.
        In neuerer Zeit wird vielfach behauptet, das alltägliche und das ästhetiche Erfassen
    fremden Seins und Schicksals setze die Identifikation des MK500e4Erlebenden mit seinem
    Gegenstand voraus. Auf diese Annahme möchte ich nun etwas näher eingehen. Sicher
    kommen solche Identifikationen nicht selten vor. Doch sprechen genug Beobachtungen
    dagegen, daß die Identifikation eine notwenige Voraussetzung ästhetischen Auffassens
    sei. Wo etwa in einem Stück mehrere Personen zusammenspielen, kann man nicht
    fortgesetzt von dem einen in den anderen kriechen. Vielmehr ergibt sich je nach der
    Vergleichbarkeit mit dem Betrachter ganz von selbst eine aus dem Kreise der übrigen
    herausgehobene „Identifikationsperson". Meist — aber nicht immer und nicht bei jedem
    Betrachter — ist es diejenige Person, die der Dichter ohnehin als den Haupthelden
    gedacht hat. Diesen einen sieht man sozusagen von innen. ManMK500e5lebt in ihm, man denkt
    seine Gedanken mit. Aus ihm schaut man heraus auf die anderen, die man genau wie
    der Hauptheld nur von außen sieht. Aber, und das ist jetzt wichtig, man wird dabei
    durchaus nicht unfähig, die Handlungen der anderen, der Mitspieler ästhetisch zu
    erfassen und zu werten. Man kann auch von künstlerisch dargestellten menschlichen
    Seins- und MK500e6Erlebensweisen mitgerissen und erschüttert werden, mit denen man sich
    nicht wirklich identifizieren kann. Bei mir selbst zum Beispiel gelingt die Identifikation
    ausgezeichnet, oder richtiger gesagt, sie findet ganz ungewollt statt, etwa mit dem [501]
    Haupthelden von Bert BRECHTS „Galilei", was nicht bedeuten soll, daß ich mich mit
    ihm vergleichen möchte. Sie findet statt, besonders weil das Forscher- und Gelehrter-
    Sein übereinstimmt, und weil man nochmals in alle typischen Situationen mit den
    weltlichen und geistlichen Mächten, den Vorgesetzten, den erhofften Geldgebern und
    so weiter geführt wird. Man fühlt sich als Münsterscher Professor direkt in Düsseldorf,
    wenn man die Szenen in Florenz MK501e1miterlebt. Aber wichtiger ist in unserem theoretischen
    Zusammenhang die Möglichkeit künstlerischen MK501e2Miterlebens ohne eigentliche Identifikation,
    wie etwa beim Galileo GALILEI das Erfassen der Person des Inquisitors, der
    Schüler mit ihren verschiedenen Temperamenten oder der frömmelnden Tochter. Um
    ein vielleicht noch schlagenderes Beispiel zu nennen: Mit wem soll man sich in Max
    FRISCHS „Der Biedermann und die Brandstifter" identifizieren? Ich selber kann es
    weder mit dem einen noch mit dem anderen der beiden Gegenspieler. Ich habe es auch
    gar nicht erst versucht. Trotzdem ist da doch das Erregende, das Unaufhaltsame der
    Entwicklung des heraufziehenden Unheils aus dieser merkwürdigen, sogenannten
    Menschenfreundlichkeit, die weiter nichts als schlotternde und völlig egoistische Angst
    ist, die sich hier selber das Grab gräbt. Auch wenn diese Haltung dem Zuschauer völlig
    fremd ist, ebenso fremd wie die raffinierte Unverschämtheit des Bettlers, so geht
    dadurch doch das Überzeugende im Verhalten aller Beteiligten und in ihrem Zueinander
    nicht verloren. Um noch einiges andere zu nennen: Denken Sie an das Verständnis
    von BRECHTS „Mutter Courage" oder der Frauen in Jeremias GOTTHELFS Romanen,
    einer Heiligen Anna von LEONARDO, einer Madonna von MANTEGNA oder eines
    kleinen Mädchens von RENOIR. Kann man sich, wenn man ein 65jähriger Großvater
    ist, mit diesen Frauengestalten identifizieren? Ich glaube kaum. Doch kann man. nicht
    leugnen, daß man von diesen Verkörperungen reinsten und zartesten Frauentums
    ergriffen wird und sie irgendwie MK501e3miterlebt. Wie ist das möglich? Um das verständlich zu
    machen, muß ich etwas zurückgreifen.
        Infolge einer tief eingewurzelten theoretischen Voreingenommenheit haben wir
    lange Zeit nicht den Mut gehabt, zuzugeben, daß von uns nicht nur die im gegenwärtigen
    Augenblick herrschenden eigenen Gefühle unmittelbar MK501e4erlebt werden können.
    Neben diesem erfülltesten Modus des Fühlens, der in den Theorien gewöhnlich allein
    berücksichtigt wird, und vielfach sogar als der einzig mögliche gilt, gibt es noch
    mehrere andere Modi und unter diesen das unmittelbar wahrgenommene Gefühl des
    anderen Menschen. Das Bewußtsein fremden Gefühls besteht nicht etwa nur in einem
    Wissen auf Grund von Analogieschlüssen oder besonderen Akten der Hineinversetzung,
    sondern ist für uns in dem sichtbaren oder hörbaren Ausdrucksverhalten des
    anderen Wesens und ebenso in seiner gelungenen künstlerischen Darstellung — ganz
    gleich ob sie sich sprachlicher oder bildnerischer Mittel bedient — unmittelbar verkörpert.
    Genauer: Sie kann es wenigstens sein; unter welchen Bedingungen, möchte ich
    sogleich besprechen. Dieses unmittelbare, unreflektierte Innewerden fremder Innerlichkeit
    kann dann allerdings nachträglich durch das, was man Sich-Hineinversetzen,
    Sich-Einfühlen, Nachfühlen, MK501e5Miterleben, MK501e6Nacherleben und dergleichen nennt, noch
    verstärkt, stärker erfüllt und spezifiziert werden, freilich — wie schon früher gesagt — bei
    überlegenen und gefährlichen Gegenständen nur bei ihrer ästhetischen Ausgrenzung
    aus der Wirklichkeit. Man kann aber, was sich an dem Verhältnis zum wirklichen, im
    Leben angetroffenen Gegenstand besser verdeutlichen läßt als am Kunstwerk, ein
    solches Sich-Hineinversetzen auch ablehnen, von sich fernhalten, zum Beispiel, wenn
    man in einer bestimmten Realsituation befürchtet, dadurch weich zu werden. Schon
    hieraus folgt, daß das wahrgenommene Gefühl des anderen nicht ein aus dem Betrach-[>502]
    ter hinaus- und in jenen hineinverlegtes, eigenes Gefühl des Betrachters sein kann, wie
    es in der zwar verbreiteten, aber trotz aller ihr gewidmeten Gedankenarbeit völlig
    ungeklärten Annahmen einer sogenannten Projektion behauptet wird.
        Auch zur Projektionsannahme seien hier einige kritische Bemerkungen erlaubt.
    Natürlich kommt es vor, daß man, wie es heißt, von sich auf andere schließt. Das
    betrifft aber im allgemeinen gerade nicht den Gemütszustand des anderen, der ja meist
    zwingend in seinen Gebärden verkörpert ist, es betrifft vielmehr seine vom Betrachter
    vermuteten Beweggründe, die sich im Ausdrucksverhalten nicht ebenfalls abspiegeln.
    Und ebenso kommt es vor, daß man ,sich einfühlt'. Aber es gibt Realsituationen, in
    denen das völlig ausgeschlossen ist, weil hier gewissen wahrgenommenen fremden
    Gefühlen völlig entgegengesetzte eigene Gefühle unlösbar zugeordnet sind. Wenn ein
    wildgewordener Stier hinter uns her ist, so ist die Zerstörungswut, sein Drang, den
    vermeintlichen Feind oder Störenfried zu vernichten, ihn umzurennen, aufzuspießen
    und zu zertrampeln, ganz sicher nicht unsere aus uns in ihn hinausverlegte Wut. Denn
    in uns ist nur Todesangst und das dringende Verlangen, uns in Sicherheit zu bringen.
    Und was für diese gegensätzlichen Gefühle gilt, gilt ebenso für die gleichartigen. Die
    Liebe der Geliebten, die ich in ihren Worten, Blicken und Zärtlichkeiten spüre, ist
    nicht meine in sie hinausverlegte, sondern ihre ganz eigene Liebe, die der meinigen
    selbständig gegenübersteht und eigenartige Wechselbeziehungen mit ihr eingeht. Das
    Sich-Hineinversetzen und MK502e1Nacherleben setzt seiner Natur nach voraus, daß das fremde
    Gefühl als solches, und nicht nur das ihm zugeordnete leere Bewegungsschema wahrgenommen
    ist. Erst dann kann es im Betrachter zu eigenen Gefühlen und Strebungszuständen
    Anlaß geben, etwa zum Mitleid beim gütigen Menschen, zu gar nichts beim
    gleichgültigen, zur Schadenfreude beim hartherzigen und zur perversen Lust, den
    fremden Schmerz noch zu steigern, beim Quälgeist, zur begierdefreien Freude, zur
    Ergriffenheit und endlich zur selbstvergessenen Versenkung in den Gegenstand beim
    künstlerischen MK502e2Erleben.
        Daß die Vermittlung fremder Gefühle in echter und großer Kunst aller Arten
    vorkommt, steht außer Zweifel. Trotzdem ist eine Gefühlsübertragungstheorie des
    künstlerischen MK502e3Erlebens bei weitem zu eng. Es bleiben wesentliche künstlerische
    Erscheinungen in ihr unberücksichtigt. Schon beim Bildnis und bei der Menschenschilderung
    eines Romans kann man fragen, werden hier überhaupt in erster Linie Gefühle
    vermittelt? Oder ist das, was da vermittelt werden soll, nicht eine unwiederholbare und
    faszinierende Art des Seins? Noch eindeutiger muß die Antwort ausfallen, etwa bei der
    Lithographie eines Frosches, Katers oder Stieres von PICASSO oder eines Pferdes, einer
    Kiefer, eines Bambuszweiges, einer Meereswoge auf einem chinesischen oder japanischen
    Bild. Denken wir endlich an die Lyrik und Hymnik, an die Musik, an die
    abstrakte Struktur einer Metallplastik, sagen wir beispielsweise von Bruno MUNARI,
    oder eines Farb- und Formspiels von KLEE, SO ist hier nicht mehr die Rede von
    menschlichen MK502E1Erlebnissen, ja überhaupt nicht mehr von MK502E2Erlebnissen, die man im strengen Sinne des Wortes MK502E3nacherleben kann. Hier wird das Sein in seiner Tiefe
    aufgeschlossen und durchleutet in einer Weise, die zwar Gefühle erweckt, aber nicht im
    Sinne TOLSTOIS Gefühle des einen Menschen dem anderen übermittelt. Oder es wird zu
    der unabsehbaren Mannigfaltigkeit des Schönen, wie es unter anderem in Wolken und
    Kristallen, in Schmetterlingen und Blüten die Welt erfüllt, und das sich durch Mutationen
    noch heute immer weiter vermehrt, ungeahntes Neues gefügt, das, wie etwa eine
    Sammlung neuer Fugen, gewissermaßen auf dem Boden des menschlichen Geistes
    wächst und nur auf ihm wachsen kann. Wie ist das nun wieder möglich?"
    ...
    504: "Gestalten sind transponierbar. Das heißt, daß Gestaltqualitäten weitgehend unabhängig
    sind von dem Material, aus dem die sie tragenden Strukturen gebildet sind.
    Daher die merkwürdige Verwandtschaft der künstlerischen Äußerungen bestimmter
    geschichtlicher Epochen, daher die Möglichkeit, in Sprache, Bild und Musik nahe
    verwandte, ja, praktisch bedeutungsgleiche Werke zu schaffen, auch für Sachverhalte
    der verschiedensten Sinnesgebiete, ja auch für solche der inneren und äußeren Welt, für
    greifbar Sinnliches und rein Geistiges dieselben sprachlichen Bezeichnungen zu benutzen,
    wie wir es alle Tage ohne Bewußtsein des Metaphorischen ganz selbstverständlich
    tun, und übrigens nicht nur wir, sondern — wie Solomon ASCH feststellt — jedes bisher
    darauf untersuchte Volk auch der fremdesten Sprachfamilien. Daher endlich die
    Möglichkeit, wenigstens den Rahmen einer Theorie des künstlerischen Schaffens und
    MK504e1Erlebens für sämtliche Künste gemeinsam zu entwerfen.
        Sehen wir nun zu, in welcher Weise der eben vorgebrachte Ansatz auch auf die
    menschlichen Gefühle anwendbar ist. Wenn die menschlichen Gefühle Sonderfälle von
    Gestaltqualitäten sind, und wenn jede Gestaltqualität ihr strukturelles Korrelat hat, so
    müssen auch die Gefühle strukturelle Korrelate haben, worauf übrigens schon KLAGES
    mit seinem Begriff der ,Antriebsgestalt` der Gefühle hingewiesen hat, für die er einige
    eindrucksvolle Beispiele bringt. Diese Korrelate können aber auf keinen Fall die
    überdauernden Körperformen sein, denn diese bleiben ja beim Wechsel der Gefühle
    unverändert. Sie sind das Korrelat des seelisch Überdauernden der unverwechselbaren
    Individualqualität des einzelnen Menschen. Das gesuchte strukturelle Korrelat der
    wechselnden Gefühle sind, wie mir scheint, die ganz ebenso wechselnden Spannungsgefüge,
    die dynamischen Strukturen, die sich über das Subjekt hinaus auf die mit ihm in
    Wechselbeziehung stehenden Gegenstände und Wesen erstrecken und in den wechselnden
    Gebärden äußerlich sichtbar sind. Der eben schon erwähnte Ludwig KLAGES hat
    sie als wesentlichen, weil für das Ausdrucksgeschehen entscheidenden Bestandteil der
    Gefühle neben deren altbekannte ‚Färbung< gestellt. Die besondere Bedeutung der
    dynamischen Strukturen ist über das alltägliche Gefühlsverständnis hinaus auch für das
    künstlerische MK504e2Erleben allgemein grundlegend. ARNHEIM behauptet geradzu, die eigentlichen Vermittler ästhetischer Freuden seien allgemein, nicht nur bei der Erfassung des [>505]
    menschlichen Ausdrucks, die gerichteten Spannungen oder dynamischen Strukturen, die von eben denselben Reizmannigfaltigkeiten vermittelt werden wie die rein statischen
    Verteilungen, also in einer Zeichnung die Verteilung und der Verlauf der
    verschiedenen Striche. Die vollständigere Art des Wahrnehmens, bei der das Hauptgewicht
    auf den in dem wahrgenommenen Gebilde enthaltenen, gerichteten Spannungen
    liegt, sei die Voraussetzung alles ästhetischen MK505e1Erlebens. Faßt man ein Kunstwerk rein
    statisch auf, also ein Gemälde als geordnetes Nebeneinander bestimmt gewählter
    Farben oder auch als Nebeneinander bestimmter Gegenstände, ein Musikstück als Mitund
    Nacheinander bestimmter Tonhöhen von bestimmter Dauer oder auch als Mit- und
    Nacheinander bestimmter Intervalle, eine Dichtung als eine Folge von Aussagen
    und Szenen, so ist die Auffassung noch nicht ästhetisch. So aufgefaßt, ist der Gegenstand
    tot. Die Dynamik ist die wichtigste strukturelle Eigenschaft alles Lebenden, und
    erst wenn es Dynamik erhält, beginnt beispielsweise ein Musikstück zu leben. Hamlets
    Monolog, sagt ARNHEIM, würde, wenn man ihn rein inhaltlich als Folge von Einfällen,
    von Gedanken auffaßte, allenfalls von historischem oder psychologischem Interesse
    sein. Um ästhetisch zu wirken, muß er als Zickzack-Kurs widersprechender Tendenz
    verstanden werden, von denen der Held hin- und hergerissen wird.
        Besonders aufschlußreich erscheint mir, wie ARNHEIM seinen Gedanken am Beispiel
    des Tänzers oder Schauspielers durchführt. Dieser kann erstens die passenden Gesten,
    deren Bedeutung er kennt, auf der Bühne völlig kalt, äußerlich gewissermaßen statisch
    zur Schau stellen. Er kann aber zweitens auch seinem eigenen Körper so gegenüberstehen
    wie der Maler seiner Leinwand. Er kann also seinen Körper ebenso zum Träger von
    ausdruckshaltigen Bewegungskonfigurationen machen wie jener seine Komposition auf
    der Leinwand. Er kann die dynamische Gestaltung, etwa der Rücksichtslosigkeit des
    Tyrannen, der ängstlichen Verzagtheit des Flüchtlings, der Hingabe des Liebenden
    unmittelbar in diesen willkürlich gesteuerten Konfigurationen der Bewegungen seiner
    eigenen Glieder abbilden. Er kann drittens aber auch ganz vergessen, daß er zum
    Beispiel nicht Romeo ist, und als Romeo handeln, wobei er dann seinem eigenen Leib
    nicht mehr als einem Werkzeug gegenübersteht, sondern sich mit ihm identifiziert.
    Dies ist aber keineswegs eine notwendige Vorbedingung eines guten Spiels.
        Ebenso verschieden kann das MK505e2Erleben des Zuschauers sein. Er kann Romeos inneres
    Schicksal MK505e3miterleben, mit ihm fürchten, hoffen und verzweifeln, ohne zu vergessen,
    daß er es nicht selber ist. Aber beides andere, die stückhafte Kenntnisnahme der
    aufeinander folgenden Gesten und Äußerungen auf der einen Seite und das völlig
    selbstvergessene Sich-Hineinversetzen auf der anderen, ist auch bei ihm möglich. Die
    Freude an der ausdruckshaltigen dynamischen Qualität, etwa an dem Schwung einer
    auf ihre Beute herabstoßenden Möwe oder an dem Schwung der Verteidigungsrede
    eines gewandten Anwalts vor Gericht, ist aber nur eine Komponente des ästhetischen
    Genusses, wenn auch eine grundlegende. Andere Faktoren spielen eine nicht weniger
    bedeutsame Rolle, auf die ich aber hier nur kurz eingehen kann.
        Als zweites kommt hinzu die Freude an der Stimmigkeit der Komposition, des
    Aufbaus, an der Notwendigkeit und Geschlossenheit der Folge im Ganzen und im
    einzelnen, sofern es sich, wie bei einem Schauspiel, einem Roman oder einem Musikstück,
    um einen zeitlichen Ablauf handelt. Wir können diese Eigenschaften in allen
    Künsten unmittelbar erleben, sehen oder hören, genau wie die Farben oder Töne. Wir
    spüren unmittelbar das Gleichgewicht, die Einheit, den Rhythmus, die Proportionen,
    aber ebenso auch ihren Mangel. Als Beispiel einer ausgesprochenen Überfrachtung sei [>506]
    aus dem schon erwähnten Stück von Bert BRECHT die Schlußrede GALILEIS genannt.
    Hier ist in Bert BRECHT der Lehrer dem Künstler davongelaufen."
    ...
    507: "Dazu gehört etwa die sachlich nicht geforderte Gehobenheit, das
    gesucht Lyrische, Edle, Preziöse, Frömmelnde, Schwüle, Süßliche, Erhabene, Pathetische,
    das als solches gesucht und genossen werden kann, wofür ja in den letzten Jahren
    Beispiele genug aus der Literatur und auch der Kunst zusammengestellt worden sind.
    Dieses, daß man das Kunstwerk oder auch schon ein MK507e1miterlebtes tatsächliches Ereignis
    und die von ihm hervorgerufenen Gefühle gewissermaßen als warmes Bad benutzt, hat
    schon Philipp LERSCH als die Grundeigenschaft der Sentimentalität gekennzeichnet.
    Und KILLY hat es als die Technik des literarischen Kitsches geschildert, wobei es für
    mich als Leser eine schöne Pointe gewesen ist, daß die klassische Kennzeichnung dieser
    Verwendung von Sprache oder von akustischem Material aus dem Munde einer
    Klassikerin des sentimentalen Kitsches stammt. Es handelt sich um Agnes GÜNTHER,
    die Verfasserin eines von sentimentalen Damen ehemals sehr geschätzten Romanes,
    „Die Heilige und ihr Narr". Sie schildert, wie jemand am Klavier sitzt und spielt, und
    wie jemand anders zuhört, ganz hingegeben, „seine Seele bespült von der Flut der
    Töne". Hier sagt sie es selbst."
     



    Literatur (Auswahl)
     Metzger (1999) enthält S. 540-558, ein Gesamtverzeichnis mit 372 Titeln, der Veröffentlichungen Wolfgang Metzgers.

        Erleben/Erlebnis in den Titeln seiner 372 Verröffentlichungen:

    • 4. Psychologie. Referate über: Geist und Materie, Bewußtsein, Erlebnis, Wahrnehmungsprobleme u. a. Sozialistische Monatshefte 30, 1924, 592-596.
    • 21. Psychologische Mitteilungen. (Gemeinsame Qualitäten des Gesichts und des Gehörs. Helligkeit von Gerüchen. Die Haut als Aufnahmeorgan für Musik, für die Sprache. Identität vibratorischer und akustischer Erlebnisse. Laut und Sinn. Drucksinn und Vibrationssinn. Leistungsgrenzen des Vibrationssinns. Akustische und vibratorische Richtungswahrnehmung. Die kleinsten im Nervensystem wirksamen Zeitunterschiede.) Die Naturwissenschaften 17, 1929, 843-848.
    • 57. Zur Theorie der Rotationserlebnisse. Zeitschrift für Sinnesphysiologie 69, 1940, 94-96.
    • 197. Der Beitrag der Gestalttheorie zur Frage der Grundlagen des künstlerischen Erlebens. Exakte Ästhetik 1, 1965, 15-29.
    • 212. Urerlebnis der Geborgenheit. In: J. A. HARDEGGER (Hrsg.): Handbuch der Elternbildung, Bd. 2. Köln: Benzinger 1966, 45-59. (Wiederabdruck in: Pädagogische Blätter 333-346, auch in: Schutz dem Kinde 3/4, 1966, 5-12.)


        Bücher:

    • Metzger, Wolfgang (1954) Psychologie – Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. 6. Auflage. Wien: Krammer.  (Reprint der Ausgabe von 1954, mit einem Vorwort von Michael Stadler; 1. Auflage: Dresden/Leipzig: Steinkopff.
    • Metzger, Wolfgang ( 1975) Psychologie – Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. 5. Auflage. Berlin: Springer. (entspricht m. W. der 2. Auflage von 1954. Diese war die letzte von W. Metzger erarbeitete Auflage).
    • Metzger, Wolfgang (2008)  Gesetze des Sehens. 4. Auflage. Verlag Klotz, Eschborn 2008, englische Übersetzung der 2. Auflage: Laws of Seeing. Cambridge (USA): MIT Press.
    • Metzger, Wolfgang (1962) Schöpferische Freiheit. 2. Auflage. Frankfurt: Kramer.
    • Metzger, Wolfgang () Schöpferische Freiheit. Gestalttheorie des Lebendigen. 3. Auflage, hrsg. von Marianne Soff und Gerhard Stemberger. Wien: Krammer.
    • Metzger, Wolfgang (1999) Gestalt-Psychologie. Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950 bis 1988. 2. Auflage. Frankfurt:  Kramer. Enthält S. 540-558, ein Gesamtverzeichnis mit 372 Titeln, der Veröffentlichungen Wolfgang Metzgers
    • Metzger, Wolfgang ( 1976) Psychologie für Erzieher. 3., revid. Auflage. Kamp-Verlag, Bochum 1976,
    • Metzger, Wolfgang (1976) Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. In: Heinrich Balmer (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band 1, Kindler Verlag, Zürich 1976, S. 27–40.




    Links(Auswahl: beachte)
    • https://www.gestalttheory.net/index.php?page=wolfgang-metzger
    • https://www.ub.uni-freiburg.de/fileadmin/ub/referate/04/theologen/metzger_wolfg.htm
    • https://archive.org
    • https://sciendo.com/journal/GTH
    • https://www.gestalttheory.net/index.php?page=gestalt-theory-early-archives-1979-2008
    • https://www.oeagp.at/cms/index.php?page=phaenomenal




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    __


    Wolfgang Metzger und der Nationalsozialismus
    Metzger ist kein Lersch, aber immerhin hat er seine Rolle im Nationalsozialismus zu vertuschen versucht, wie Geuter nachweist.
       
      Geuter, Ulfried (1988) Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt: Suhrkamp.
      Registereinträge bei Geuter:
      Metzger, Wolfgang 32 ff., 39,76, in, 112,116, 125f., 132, 279, 358, 362f., 413, 470,477,507, 529, BR

      Anmerkung 17, S.477: "Metzger wollte damals mit den gestaltpsychologischen Gesetzen der Wahrnehmung die völkische Staatsauffassung untermauern (Metzger 1938, 1942). Ich komme auf diese Aufsätze in Kap. V zurück. Beide und ein weiterer von mir gefundener (Metzger 1938a) sind in der Metzger-Bibliographie nicht erwähnt (Psychologische Beiträge, 1960,5, S. 283 ff.). Auf den Aufsatz von 1942 angesprochen - die anderen waren mir seinerzeit noch nicht bekannt- äußerte Metzger 1979 in einem Gespräch, daß dies sein Primanerstandpunkt gewesen sei; er habe diesen Aufsatz nicht geschrieben, um den Lehrstuhl in Münster 1942 zu bekommen (ZS/A 37, f. 189). Metzger wollte mir eine Stellungnahme schicken und dazu diesen Aufsatz noch einmal lesen, der sich nicht mehr in seinem Besitz befand. Leider kam es dazu nicht mehr, da Metzger am 20.12.1979 verstarb. Die beiden Aufsätze von 1938 erschienen in der Zeitschrift des NS-Lehrerbundes im Gau Halle-Merseburg; 1937/38 hatte Metzger in Halle eine Lehrstuhlvertretung. Für eine erste These zu ihrer Interpretation vgl. Geuter 1983 a, S. 102; neuerdings ausführlicher auch Prinz 1984."

      Aus Geuters Literaturverzeichnis S.538

      • Metzger, W., »Ganzheit und Gestalt. Ein Blick in die Werkstatt der Psychologie«, Erzieher im Braunhemd, 1938, 6, S. 90-93.
      • Metzger, W., »Lebendiges Denken, nach Schopenhauer und v. Clausewitz«, Erzieher im Braunhemd, 1938a, 6, S. 193-196.
      • Metzger, W-, »Der Auftrag der Psychologie in der Auseinandersetzung mit dem Geist des Westens«, Volk im Werden, 1942, 10, S. 133-144.


    Prinz, W. (1985), »Ganzheits- und Gestaltpsychologie und Nationalsozialismus«, in: P. Lundgreen (1985, Hrsg.), Wissenschaft im 3. Reich. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    __
     


    Querverweise
    Standort: v-erleben.
    *
    Haupt- und Verteilerseite Die Erforschung des Erlebens und der Erlebnisse
    Zur  Methode der Fundstellen-Textanalyse  * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis  * Zusammenfassung *
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B. Inhaltsverzeichnis site:www.sgipt.org. 
    *
    Dienstleistungs-Info.
    *

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). v_erleben. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/erleben/v_GIPT.htm

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    01.01.2023    Vorläufig abgeschlossen fürs Netz.
    00.12.2022     Erfasst, gesichtet.