William James Erleben und Erlebnis
in der Psychologie 1909
mit einem Exkurs ob sich das deutsche
Wort Erleben in James The Principles of Psychology
(1890) als Fremdwort findet; mit einem zweiten Exkurs
zum Erfassen - gegen die fixen Ideen einer Wesenskonzeption und
einem dritten Exkurs zu I und Me
(M3)
Recherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Zusammenfassung-James1909:
William James betrachtet Erleben2 und
Erlebnis1, die er im psychologischen Sinne
gebraucht, in seiner Psychologie 1909 (Kürzel JP) als allgemeinverständliche
und nicht weiter erklärungs- und begründungsbedürftige Grundbegriffe.
Es finden sich zahlreiche sorgfältig beobachtete und interessante
Ausführungen zum Erleben und Erlebnis, wie z.B. S. 217:
Erste 10 Fundstellenkürzel erleben, erlebt(e,en,es)
Erste 10 Fundstellenkürzel Erlebnisse
S. 13: "Die Empfindungen besitzen Erkenntnischarakter. Eine Empfindung ist demnach etwas Abstraktes, was für sich allein selten vorkommt und das Objekt, welches die Empfindung erfaßt, ist ein abstraktes Objekt, das allein nicht existieren kann. G e g e n s t a n d d e r E m p f i n d u n g s i n d d i e s i n n l i c h e n Q u a l i t ä t e n. Die Empfindungen des Auges erfassen die F a r b e n der Dinge; die des Ohrs geben Kenntnis von ihrem K l a n g; die der Haut werden der Schwere, der Schärfe, der Wärme oder Kälte gewahr usw. Von allen Organen des Körpers können Erregungen ausgehen, welche uns die Qualität des Schmerzhaften und bis zu einem gewissen Grad auch die des Lustvollen zum Bewußtsein bringen. Qualitäten wie Zähheit, Rauheit usw. werden vermutlich auf Grund des Zusammenwirkens von Muskelempfindungen und Hautempfindungen erfaßt. Was ferner die geometrischen Qualitäten der Dinge anlangt, ihre Form, Dicke, Entfernung und was sonst in Betracht kommt (sofern wir sie vergleichen und unterscheiden), so nehmen die meisten Psychologen an, dieselben könnten nicht gegeben sein, ohne Inanspruchnahme der Erinnerung an vergangene JPE1Erlebnisse1 und man ist demgemäß der Meinung, daß die Erkenntnis dieser Eigenschaften die Kraft der reinen und einfachen Empfindung übersteige."
S. 58: "Harmonie und Dissonanz. Wenn mehrere Töne zusammen erklingen, können wir besondere Gefühle von Lust oder Unlust JPe1erleben2, die man als Konsonanz einerseits und als Dissonanz andererseits bezeichnet. ..."
S. 63: "... Wenn man mit der Spitze eines Bleistifts die Handfläche oder die Wange abtastet, JPe2erlebt2 man an gewissen Punkten eine plötzliche Kälteempfindung. Das sind die Kältepunkte der Haut; die Wärmepunkte lassen sich weniger leicht herausfinden. ..."
S. 73: "... Andererseits zeigt der heftige Schock, den wir JPe3erleben2, wenn wir fühlen, daß das Ding, auf dem wir sitzen, anfängt sich zu bewegen, das übertriebene Zusammenfahren, sobald wir merken, daß ein Insekt unerwartet über unsere Haut läuft, oder eine leise herangeschlichene Katze unsere Hand beschnüffelt und die außerordentliche Reflexwirkung des Kitzelns usw. wie erregend. die Bewegungsempfindung an sich ist. ..."
S. 95: "... Wenn ich beim Anblick einer Klapperschlange auf die Seite springe, weil ich weiß, was für ein gefährliches Tier sie ist, so sind die geistigen Materialien, aus denen sich meine vorsichtige Überlegung zusammensetzt, mehr oder weniger lebhafte Bilder von der Bewegung ihres Kopfes, einem plötzlichen Schmerz in meinem Bein, einem Zustand des Entsetzens, der Schwellung des gebissenen Gliedes, Fieber, Delirium, Tod usw. und dem Ruin all meiner Hoffnungen. Aber all diese Bilder sind aus meinen früheren Erfahrungen aufgebaut. Sie sind R e p r o d u k t i o n e n von dem, was ich selbst empfindungsmäßig JPe4erlebt2 habe oder wovon ich Zeuge gewesen bin. Sie sind, kurz gesagt, e n t f e r n t e Empfindungen; und der Hauptunterschied zwischen den Tieren mit und denen ohne Hemisphären kann dahin präzisiert werden, daß d i e e i n e n s i c h d u r c h a b w e s e n d e, d i e a n d e r e n n u r d u r c h g e g e n w ä r t i g e D i n g e bestimmen lassen."
S. 101: "... Es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß Lustgefühle im allgemeinen verknüpft sind mit fördernden, Schmerzgefühle mit nachteiligen JPE2Erlebnissen1. ..."
S. 152: "W a s u n s z w e i m a l g e g e b e n i s t, i s t d a s g l e i c h e Objekt. Wir hören den gleichen Ton immer und immer wieder; wir sehen die gleiche Q u a l i t ä t Grün, riechen den gleichen objektiven Wohlgeruch, oder JPe5erleben2 die gleiche Art von Schmerz. ..."
S. 154: "... Wir sind unversehens herausgewachsen aus der Möglichkeit, diesen Seelenzustand zu JPe6erleben2. Von Jahr zu Jahr sehen wir die Dinge in anderem Licht. ..."
S. 158: "... Warten wir aber bis das Endziel erreicht ist, dann übertrifft dieses die JPE3Übergangserlebnisse1 so sehr an Wucht und Stabilität, daß es dieselben in seinem Glanz vollständig verdunkelt und [>159] verschwinden läßt. ..."
S. 168: "... Im ganzen übrigen Verlauf des Bewußtseinsstromes bedeuten die JPE4Erlebnisse1 des Relationsbewußtseins alles, die inhaltlichen Träger dieser Relationen fast nichts. Diese JPE5Relationserlebnisse1, diese psychischen Obertöne, Höfe, Überzüge oder Fransen an den Inhalten, können dieselben sein, während sie sich auf das verschiedenartige Vorstellungsmaterial gründen. ..."
S. 177: "... Der Geizhals hat ähnliche Gefühle gegenüber seinem Geld; und wir alle JPe7erleben2 beim Verlust unseres Besitzes ein Gefühl der Depression, das zwar großenteils bedingt ist durch das Bewußtsein, daß wir nun bestimmte, mit dem betreffenden Besitz verknüpfte Vorteile entbehren müssen. ..."
S. 206: "... Von dem im Traum JPe8erlebten2 und von den Erfahrungen im hypnotischen Zustand bleibt selten eine Erinnerung übrig."
S. 212: "... Der Leonie I (wie Janet die Frau im Wachzustand nennt) ordnet sie andererseits ausschließlich diejenigen Ereignisse zu, die sie im Wachzustand JPe9erlebt2 hat. ..."
S. 217: "Zerstreute Aufmerksamkeit. Zuweilen scheint tatsächlich die normale Zentralisierung kaum vorhanden zu sein. In solchen Momenten ist die Gehirntätigkeit möglicherweise auf ein Minimum reduziert. Die meisten von uns JPe10erleben2 wahrscheinlich täglich mehrmals einen Zustand, der sich etwa folgendermaßen beschreiben läßt: die Augen starren ins Leere, die Geräusche der Außenwelt verschmelzen in eine verworrene Einheit, die Aufmerksamkeit ist derart zerstreut, daß der ganze Körper gleichsam auf einmal zum Bewußtsein kommt und im Vordergrund des Bewußtseins steht, wenn überhaupt etwas, eine Art feierlichen Gefühls der Hingabe an den leeren Zeitverlauf. In dem dunklen Hintergrund unseres Geistes wissen wir indessen was wir tun sollten: aufstehen, uns anziehen, der Person, die uns angesprochen hat, antworten, versuchen den nächsten Schritt in unserer Überlegung zu tun. ..."
S. 222: "Die willkürliche Aufmerksamkeit. - Carpenter spricht von einem Sich-selbst-Lancieren durch bestimmte A n s t r e n g u n g. Diese Anstrengung charakterisiert das, was wir a k t i v e oder w i l l k ü r l i c h e A u f m e r k s a m k e i t nennen. Es ist ein Bewußtseinszustand, den jedermann kennt, von dem man aber ziemlich allgemein annimmt, daß er sich jeder Beschreibung entziehe. Wir JPe11erlebenihn in der sensorischen Sphäre jedesmal dann, wenn wir versuchen, einen Eindruck von äußerster S c h w ä c h e, sei es auf dem Gebiet des Gesichts-, Gehörs-, Geschmacks-, Geruchs- oder Tastsinns aufzufassen, ferner überall da, wo wir versuchen, eine Empfindung aus einer Masse anderer ähnlicher a u s z u s o n d e r n; endlich dann, wenn wir den L o c k u n g e n stärkerer Reize w i d e r s t e h e n und unseren Geist auf irgendeinen Gegenstand gerichtet halten, der seiner Natur nach eindruckslos ist. Wir JPe12erleben ihn in der intellektuellen Sphäre unter ganz ähnlichen Umständen: sobald wir einen Gedanken, den wir nur in unbestimmten Umrissen zu haben scheinen, zu schärfen und, deutlich zu machen bestrebt sind; oder bei dem mühseligen Geschäft der [>223] Unterscheidung einer Begriffsnuance von anderen ähnlichen; oder wenn wir energisch einen Gedanken festhalten, der so wenig unseren natürlichen Impulsen entspricht, daß er, sich selbst überlassen, aufregenderen und eindrucksvolleren Vorstellungen sofort das Feld räumen würde. ..."
S. 244: "... Aber das ist ein irriger Glaube. Unleugbare Tatsache ist, daß je d e, d u r c h e i n e A n z a h l s i n n l i c h e r R e i z e v e r a n l a ß t e M e h r h e i t v o n E i n d r ü c k e n, d i e g l e i c h z e i t i g e i n e m B e w u ß t s e i n z u t e i l w e r d e n, welches sie noch nicht getrenntJPe13erlebt hat, d i e s e m B e w u ß t s e i n e i n e i n z i g e s u n g e t e i l t e s O b j e k t l i e f e r n w i r d. Das Gesetz lautet, daß alle Dinge, die verschmelzen k ö n n e n, verschmelzen und daß nichts auseinandertritt, ausgenommen das, was auseinandertreten muß. Was die Eindrücke auseinandertreten läßt, haben wir in diesem Kapitel zu untersuchen."
S. 246: "Ich habe gesagt, daß bei der unmittelbaren Aufeinanderfolge von n auf m ein Ruck infolge ihrer Verschiedenheit empfunden wird. Er wird wiederholt empfunden, wenn wir zwischen m und n hin und hergehen; und wir sorgen dafür, ihn wiederholt zu erhalten (indem wir zum mindesten die Aufmerksamkeit wandern lassen), immer dann, wenn der Ruck zu gering ist, so daß er mit Mühe wahrgenommen wird. Aber der Unterschied wird nicht nur in dem kurzen JPE6Übergangserlebnis1 erfaßt, sondern er scheint auch in dem zweiten Vergleichsglied irgendwie enthalten zu sein, indem dieses während der ganzen Dauer seines Vorhandenseins als verschieden-von-dem-ersten" empfunden wird. Es ist klar, daß in diesem Falle als zweites Vergleichsglied für unser Bewußtsein nicht einfach n, sondern etwas äußerst Kompliziertes anzusehen ist; und daß die Reihenfolge nicht einfach erst ,m", dann ,,Verschiedenheit« und schließlich ,,n«, sondern erst ,m«, dann ,,Verschiedenheit und zuletzt ,,n-verschieden-von-m ist. Der erste und dritte von diesen Bewußtseinszuständen ist substanzartig, der zweite transitiv. So wie unser Gehirn und Bewußtsein nun einmal beschaffen ist, können wir gar nicht ein bestimmtes n und ein bestimmtes m unmittelbar hintereinander JPe14erleben und dabei jedes ganz für sich auffassen. Sie für sich auffassen würde heißen, sie unverglichen lassen. ..."
S. 247f: "Das Isolieren einzelner Bestandteile
eines Zusammenhangs.[FNb)] Es läßt sich
sicher als fundamentales Prinzip der Satz [>248] aufstellen, daß
j e d e r T o t a l e i n d r u c k, d e n d e r
G e i s t e m p f ä n g t, s o l a n g e u
n a n a l y s i e r b a r b l e i b e n m u ß,
a l s s e i n e E l e m e n t e f r ü h e r
n i e m a l s f ü r s i c h o d e r a n d
e r s w o i n a n d e r e n K o m b i n a t i o n e n
JPe15erlebt2
worden sind.
...
S. 248 "... Wir erfahren, daß die U r s a c h e n
solcher Empfindungsgruppen vielfache sind und stellen deshalb Theorien
auf über das Zustandekommen der JPE7Erlebnisse1
selbst durch ,,Verschmelzung", ,,Integration", ,,Synthese" usw. Aber durch
direkte Introspektion kommt niemals eine Zerlegung der betreffenden
JPE8Erlebnisse1
zustande. ..."
S. 266: "Auch L e b h a f t i g k e i t einer ursprünglichen Erfahrung kann den nämlichen Effekt haben wie Häufigkeit oder geringes Alter, indem sie Wahrscheinlichkeit des Reproduziertwerdens bedingt. Wenn wir einmal einer Hinrichtung beigewohnt haben, wird jede spätere Unterhaltung oder Lektüre über die Todesstrafe fast mit Gewißheit Bilder jener besonderen Szene heraufbeschwören. So kommt es, daß Ereignisse, die nur einmal und in ferner Jugend JPe16erlebt2 worden sind, auf Grund ihrer erregenden Qualität oder ihrer emotionalen Stärke, in späteren Jahren wieder auftreten und als Typen oder Beispiele verwendet werden, um irgendein gerade angeschnittenes Thema zu illustrieren, das nur ganz entfernt mit ihnen zusammenhängt. Wenn jemand in seiner Kindheit einmal mit Napoleon gesprochen hat, wird jede Erwähnung großer Männer oder historischer Ereignisse, jede Nennung von Schlachten oder Thronen, oder Glückswendungen, oder Inseln im Meere geeignet sein, ihm die Vorfälle jener einen denkwürdigen Begegnung auf die Lippen zu drängen. Wenn plötzlich das Wort Z a h n auf dem Blatt vor den Augen des Lesers auftaucht und Zeit hat, ein Bild zu erwecken, so wird es unter hundert Fallen fünfzigmal das Bild irgendeiner zahnärztlichen Operation sein, in welcher der Leser selbst der leidende Teil gewesen ist. ..."
S. 284: "Dies führt uns ganz- natürlich
zur Behandlung einiger bekannter Variationen in unserer Schätzung
von Zeitgrößen. I m a l l g e m e i n e n
e r s c h e i n t u n s e i n e Z e i t, d i e
a u s g e f ü l l t i s t m i t m a n n i g f a
c h e n u n d i n t e r e s s a n t e n
JPE9E
r l e b n i s s e n1
k u r z, w ä h r e n d s i e v e r g e h t,
a b e r l a n g e w e n n w i r d a r a u f
z u r ü c k b l i c k e n. A n d e r e r s e i t s s c
h e i n t u n s e i n a n JPE10E
r l e b n i s s e n1
a r m e r Z e i t a b s c h n i t t l a n g
i n s e i n e m w i r k l i c h e n V e r l a u f,
a b e r k u r z i n r ü c k s c h a u e n d e r
B e t r a c h t u n g. Eine Woche, die wir auf Reisen und mit der
Besichtigung von Merkwürdigkeiten zubringen, kann in der Erinnerung
einen größeren Raum einnehmen wie drei andere Wochen und ein
Monat der Krankheit enthält kaum mehr Erinnerungen als ein Tag. Die
Länge einer Zeitstrecke in rückschauender Betrachtung hängt
offenbar ab von der Menge der Erinnerungen, die ihr zugehören. Viele
Objekte, Ereignisse, Veränderungen, viele Untereinteilungen innerhalb
derselben lassen sie sogleich größer erscheinen für unsere
rückschauende Betrachtung. Leere Monotonie, Vertrautheit lassen sie
zusammenschrumpfen.
D e r n ä m l i c h e Z e
i t r a u m e r s c h e i n t u n s k ü r z e r,
w e n n w i r ä l t e r w e r d e n. - Das heißt,
dies gilt von den Tagen, den Monaten und den Jahren; ob es auch von den
Stunden gilt, ist zweifelhaft, und die Minuten und Sekunden machen uns
allem Anschein nach immer ungefähr denselben Eindruck. Ein alter Mann
hat wahrscheinlich nicht das Bewußtsein, daß sein vergangenes
Leben irgendwie länger sei wie es ihm als Knabe erschien, obwohl es
tatsächlich ein dutzendmal so lang sein kann. Bei den meisten Menschen
sind alle JPE11Erlebnisse
des Mannesalters von so vertrauter Art, daß die individuellen Eindrücke
nicht haften bleiben. Gleichzeitig werden mehr und mehr von den früheren
JPE12Erlebnissen1
vergessen und die Folge ist, daß keine größere Menge verschiedener
Objekte in der Erinnerung sich anhäuft."
S. 285: "... Die V e r h a ß t h e i t der ganzen Erfahrung beruht auf ihrer Fadheit; denn A n r e g u n g ist die unumgängliche Voraussetzung dafür, daß wir Gefallen an einem JPE13Erlebnis1 finden, und das Bewußtsein der bloßen Zeit ist die am wenigsten anregende Erfahrung, die wir machen können. ..."
S. 287:
"Kapitel XVIII.
Erinnerung.
Analyse der Erinnerungserscheinung. Die eigentliche
oder sekundäre Erinnerung, wie sie genannt werden kann, ist ein Wissen
um einen früheren Geisteszustand, nachdem derselbe schon einmal aus
dem Bewußtsein entschwunden war; oder vielmehr e i n
W i s s e n u m e i n JPE14E
r l e b n i s1 o d
e r e i n e T a t s a c h e, an welche wir in der Zwischenzeit
nicht gedacht haben, v e r b u n d e n m i t d e m
B e w u ß t s e i n, d a ß w i r s i e
f r ü h e r s c h o n g e d a c h t o d e r
e r f a h r e n h a b e n.
Das erste Element, das ein solches Wissen enthält,
scheint das Wiederaufleben eines Bildes oder einer Kopie der ursprünglichen
Erfahrung im Bewußtsein zu sein. Und nach der Ansicht vieler Autoren
ist ein solches Wiederaufleben eines Bildes alles, was zur Konstitution
der Erinnerung an das ursprüngliche JPE15Erlebnis1
nötig ist. Aber ein solches Wiederaufleben ist, was es auch sonst
sein mag, sicherlich keine E r i n n e r u n g; es ist einfach ein
Duplikat, ein
zweites
JPE16Erlebnis1,
das mit dem ersten, dem es zufällig ähnlich sieht, absolut keinen
Zusammenhang hat. Die Uhr schlägt heute; sie schlug gestern; und kann
noch Mil-[>288]lionen Mal schlagen, bevor sie zugrunde geht. Der Regen
strömt diese Woche in die Gosse; er tat es letzte Woche und wird es
in s a e c u l a s a e c u l o r u m tun. Aber erfaßt
der gegenwärtige Glockenschlag nun die vergangenen, oder erinnert
sich der jetzige Regenguß des früheren, deshalb weil sie sich
wiederholen und einander gleichen? Sicherlich nicht. Man sage nicht, daß
das deshalb nicht der Fall sei, weil Glockenschläge und Regengüsse
physische und. keine psychischen Objekte sind; denn psychische Objekte
(z. B. Empfindungen), die bloß in sukzessiven Auflagen wiederkehren,
erinnern sich a u s d i e s e m G r u n d ebensowenig
an einander als es die Glockenschläge tun. Die bloße Tatsache
des Wiederauftretens enthält keine Erinnerung. Die sukzessiven Auflagen
eines Bewußtseinsinhalts sind ebensoviele
unabhängige
JPE17Erlebnisse1,
von denen jedes einzelne in seiner eigenen Haut steckt. Das JPE18Erlebnis1
von gestern ist tot und begraben; und die Gegenwart des heutigen JPE19Erlebnisses1
ist kein Grund weshalb es zu gleicher Zeit mit diesem wiedererstehen sollte.
Es muß eine weitere Bedingung erfüllt sein, bevor das gegenwärtige
Bild als Repräsentant eines f r ü h e r e n O r i
g i n a l s angesehen werden kann.
S. 292: "... Die körperliche Seite ist die Erregung der betreffenden Bahnen; die geistige Seite die bewußte Vorstellung des vergangenen Ereignisses und die Überzeugung, daß wir es früher schon JPe17erlebt haben."
S. 293: "... Wenn wir das frühere JPE20Erlebnis1 ohne andere damit assoziierte Bewußtseinsinhalte zurückrufen könnten, so würde dadurch die Möglichkeit der Erinnerung aufgehoben sein; wir würden dann einfach träumen, daß wir der betreffenden Erfahrung gegenüberstehen, nicht anders, wie wir ihr das erste Mal gegenüberstanden. ..."
S. 300: "... Daß die im Entstehen begriffenen Gehirnerregungen in solcher Weise das Bewußtsein beeinflussen können, das zeigt sich in dem JPE21Erlebnis1, das wir haben, wenn wir an einen Namen uns zu erinnern versuchen. ..."
S. 301: "Es gibt eine sonderbare Erfahrung, die jedermann schon gemacht haben dürfte, das Bewußtsein nämlich, daß der gegenwärtige Moment in seiner Gesamtheit früher schon JPe18erlebt2 worden ist - wobei wir von gerade diesem Ding, gerade diesem Platz, gerade diesen Leuten usw. sprechen möchten. Dieses Bewußtsein des Schon-dagewesen-seins ist als ein großes Rätsel behandelt worden und hat viel Anlaß zur Spekulation gegeben. Wigan versuchte es zurückzuführen auf eine Dissoziation der Tätigkeit der beiden Hemisphären, von denen die eine etwas später als die andere von der nämlichen Tatsache Kenntnis nimmt. Ich muß gestehen, daß mir die Rätselhaftigkeit des Vorgangs hier etwas übertrieben zu sein scheint. Es ist mir bei meinen eigenen JPE22Erlebnissen1 dieser Art immer wieder von neuem gelungen, die Erscheinung in einen Fall undeutlicher Erinnerung aufzulösen, wobei einige der früheren lJmstände wieder vorgestellt werden, andere nicht. Das was an dem vergangenen JPE23Erlebnis1 anders war, tritt zunächst nicht deutlich genug hervor, um den Zeitpunkt feststellen zu lassen. Alles was uns gegeben ist, ist die gegenwärtige Szene mit einem allgemeinen Etwas daran, das auf die Vergangenheit hinweist. Ein so zuverlässiger Beobachter wie Lazarus erklärt die Erscheinung in derselben Weise; und es ist bemerkenswert, daß das solche Erfahrungen begleitende Gefühl des Geheimnisvollen verschwindet, sobald der frühere Zusammenhang vollständig und bestimmt hervortritt."
S. 303:
"Kapitel XIX.
Phantasie.
Was ist die Phantasie? - D i e e i
n m a l JPe19e r l e b t e n2
E
m p f i n d u n g e n m o d i f i z i e r e n d a s N
e r v e n s y s t e m, s o d a ß A b b i l d e
r d e r s e l b e n i m G e i s t w i e d e r
a u f t a u c h e n k ö n n e n, n a c h d e m d
e r u r s p r ü n g l i c h e ä u ß e r e
R e i z v e r g a n g e n i s t. Aber es können keine
psychischen Abbilder von solchen Empfindungen im Geist auftreten, die noch
niemals direkt von außen her erregt worden sind.
Der Blinde kann von Licht, der Taube von Schall
träumen, Jahre nachdem sie ihr Gesicht oder Gehör verloren haben;
aber der taubgeborene Mensch kann niemals dahin gebracht werden, sich vorzustellen,
was wohl ein Ton ist, noch kann der Blindgeborene jemals eine geistige
Vision haben. Mit Lockes schon früher zitierten Worten: ,,der Geist
kann aus sich selbst heraus nicht eine einzige neue einfache Idee bilden".
Die Originale derselben müssen sämtlich von außen gegeben
sein. Die Fähigkeit, solche Abbilder früher JPe20erlebter2
Originale zu reproduzieren, wird Phantasie oder Einbildungskraft genannt.
Wir heißen die Phantasie ,,reproduktiv", wenn die Abbilder dem Original
genau entsprechen; ,,produktiv", wenn Elemente von verschiedenen Originalen
zusammengefügt werden, so daß ein neues Ganzes entsteht.
Werden diese Bilder mit Begleitumständen vorgestellt,
die konkret genug sind, um ein D a t u m zu konstituieren,
dann bilden sie, wenn sie erweckt werden, E r i n n e r u n g e n.
Den Mechanismus der Erinnerung haben wir soeben kennen gelernt. Wenn diese
geistigen Bilder sich aus frei kombinierten Gegebenheiten zusammensetzen
und keine frühere Kombination genau wiedergeben, dann haben wir es
mit eigentlichen Akten der Phantasie zu tun.
Die Menschen unterscheiden sich hinsichtlich
ihrer optischen Phantasie. - Unsere Ideen oder Bilder von vergangenen
sinnlichen
JPE24Erlebnissen1
können entweder deutlich und genau oder dunkel, verwischt und unvollständig
sein. Es hat den Anschein, als ob die verschiedenen Grade, in welchen die
verschiedenen Menschen fähig sind, scharfe und deutliche derartige
Bilder zu erzeugen, in gewissem Zusammenhang stünden mit der Stellungnahme
in solchen philosophischen Streitfragen, wie derjenigen zwischen Berkeley
und Locke über die allgemeinen Ideen. ..."
S. 306: "Meine Fähigkeit, psychische Bilder hervorzurufen, scheint, nach dem was ich von den Bildern anderer Leute gehört habe, mangelhaft und etwas eigentümlich zu sein. Der Prozeß, durch den ich mich eines besonderen Ereignisses zu erinnern scheine, besteht nicht in dem Auftreten einer Reihe distinkter Bilder, sondern im Vorhandensein eines gewissen Panoramas, dessen schwächste Eindrücke wie durch einen dichten Nebel wahrnehmbar sind. Ich kann nicht durch Schließen der Augen ein deutliches Bild von irgend etwas erhalten, obgleich ich bis vor wenigen Jahren dazu imstande gewesen bin, und es scheint als ob diese Fähigkeit sich allmählich verloren hätte. In meinen lebhaftesten Träumen, in denen die JPE25Erlebnisse1 wie realste Tatsachen erscheinen, stört mich häufig eine Dunkelheit des Gesichtsfeldes, welche die Bilder undeutlich erscheinen läßt. - Um auf die Frage nach dem Frühstückstisch zu kommen, so habe ich kein bestimmtes Bild von ihm. Alles ist verschwommen. Ich kann nicht sagen, w a s ich sehe. Ich könnte unmöglich die Stühle zählen, aber ich weiß zufällig, daß es zehn sind. Ich sehe nichts im Detail. - Die Hauptsache ist ein allgemeiner Eindruck davon, daß ich nicht genau beschreiben kann was ich sehe. Die Färbung ist ungefähr überall dieselbe, soweit ich sie mir vorstellen kann, nur ist sie sehr verwaschen. Vielleicht ist die einzige Farbe, die ich überhaupt deutlich sehen kann, die des Tischtuchs, und ich könnte wahrscheinlich die Farbe der Tapete sehen, wenn ich mich daran zu erinnern vermöchte, welche Farbe es war."
S. 325: "Das gleiche gilt für den Tastsinn. Jedermann wird es schon JPe21erlebt2 haben, wie sieh die sinnliche Qualität unter unseren Händen verändert, wenn der Ekel und Schrecken, den man bei der plötzlichen Berührung von etwas Nassem oder Haarigem im Dunkeln empfindet, in die beruhigende Erkenntnis eines bekannten Gegenstandes übergeht. Sogar ein so kleines Ding wie ein Kartoffelstückchen auf dem Tischtuch, das wir auflesen, weil wir meinen es sei eine Brosame, ruft einen auf Einbildung beruhenden, vorübergehenden Schauder hervor und erscheint uns als etwas ganz anderes, als was es ist.a)"
S. 326: "... Ich habe selbst eine auffallende Täuschung dieser Art JPe22erlebt2. ..."
S. 329: "... Wir JPe23erleben2 weder Neugierde noch Verwunderung in bezug auf Dinge, die uns so fern liegen, daß wir keine Begriffe haben, auf die wir sie beziehen und keine Maßstäbe, an denen wir sie messen [>330] können.1) ..."
S. 331: "... Die Halluzinationen treten gewöhnlich plötzlich
auf und tragen den Charakter aufgezwungener
JPE26Erlebnisse1.
Aber sie besitzen verschiedene Grade scheinbarer O b j e k t i v
i t ä t. Vor einem Irrtum muß man sich von vornherein
hüten. Sie werden oftmals als Bilder angesprochen, die irrtümlich
nach außen projiziert werden. Aber wo die Halluzination vollständig
ist, ist sie weit mehr als bloß ein psychisches Bild.
E i n e H a l l u z i n a t i o n i s t, s u b j e k
t i v b e t r a c h t e t, e i n e E m p f i n d u n
g, e i n e e b e n s o g u t e u n d w a h r e
E m p f i n d u n g w i e w e n n e i n r e a l
e r G e g e n s t a n d v o r h a n d e n w ä r
e. Der Gegenstand ist zufällig nicht vorhanden, das ist alles.
Die geringeren Grade der Halluzination sind. als
Pseudo-Halluzinationen bezeichnet worden. Erst seit wenig Jahren hat man
eine scharfe Unterscheidung zwischen den Pseudo-Halluzinationen und den
Halluzinationen gemacht. Die Pseudo-Halluzinationen unterscheiden sich
von den gewöhnlichen Erinnerungs- und Phantasiebildern dadurch, daß
sie viel lebhafter, besser ausgeführt, detaillierter, beständiger,
plötzlicher und spontaner in dem Sinne sind, daß jedes Bewußtsein
eigener Aktivität bei ihrer Erzeugung fehlt. Kandinsky hatte einen
Patienten, der nach dem Genuß von Opium oder Haschisch reichliche
Pseudo-Halluzinationen und Halluzinationen
JPe24erlebte2.
..."
S. 341 (Fußnotea): "... Das Raumbewußtsein gehört zu einer besonderen Klasse psychischer Elementarvorgänge, die sich von den Empfindungen prinzipiell uuterscheiden. Insbesondere dürfen JPE27Erlebnissse1 wie die Akte des Baumbewußtseins nicht mit ihren G e g e n s t ä n d e n identifiziert werden. Man mag darüber streiten, ob es richtig ist, zu sagen: Rot ist eine Empfindung. Aber daß man n i c h t sagen darf: Viereckig ist ein Akt des Raumbewußtseins, darüber besteht kein Zweifel. Man bezeichnet die Eigentümlichkeit psychischer Vorgänge, die darin besteht, daß sie Akte des Erfassens von etwas anderem als von sich selbst, von etwas von ihnen V e r s c h i e d e n e m, von einem ,,Gegenstand" sind, als ihre Transzendenz. Statt von dem ,,Voluminösen" der Empfindung zu sprechen, müßte man also sagen, daß der G e g e n s t a n d jeder Wahrnehmung etwas Voluminöses hat, weil Empfindungen ohne Akte des Raumbewußtseins, re i n e Empfindungen überhaupt nicht vorkommen. Nach dieser Auffassung ist natürlich auch das Wesen des Dinges nicht eine ,,Empfindung", sondern was wir Ding nennen, ist der Gegenstand von Akten der Raumwahrnehmung und der Identitätsauffassung. Auch die Identitätsauffassung ist nicht Identität, die Gleichheitsauffassung nicht Gleichheit usw. Auch diese Akte gehören zu der besonderen Klasse psychischer JPE28Erlebnisse1, wozu wir das Raumbewußtsein rechnen."
S. 366: "Nun ist es klar, daß ein Geist mit hochentwickelter Fähigkeit der Ähnlichkeitsassoziation zugleich ein Geist ist, der spontan derartige Instanzenreihen bildet. Nehmen wir eine gegenwärtige Tatsache A, die ein Merkmal m in sich schließt. Der Geist mag anfangs dies Merkmal m überhaupt nicht bemerken. Wenn aber A C, D, E und F' herbeiführt - Phänomene, die ihm darin gleichen, daß sie ebenfalls m enthalten, die aber seit Monaten nicht in der Erfahrung des Lebewesens, das jetzt A JPe25erlebt2, vorgekommen sind -, nun, dann spielt offenbar eine solche Asso-[>368]ziation die Rolle, die oben dem mit Überlegung vollzogenen raschen Vergleichen des Lesers und der systematischen Betrachtung ähnlicher Fälle durch den wissenschaftlichen Forscher zuerteilt wurde, und führt dazu, m in der Abstraktion zu beachten. ..."
S. 384: "Die feineren Gemütsbewegungen. In den ästhetischen JPE29Erlebnissen1 kann sowohl der körperliche Ausdruck, als auch das begleitende Gefühl schwach sein. ..."
S. 388: ",,In geringem Maße psychische Zustände haben, wie sie das Verwundetwerden begleiten oder wie sie während der Flucht JPe26erlebt2 werden, sagt er, heißt sich in einem Zustand befinden, den wir Furcht nennen. ...""
S. 420: "Wir haben allerdings noch d a s F i a t, das JPE30Erlebnis1 der Zustimmung oder des Entschlusses, daß die Handlung eintreten soll. Dieses macht, wie der Leser meinen wird und wie auch ich meine, zweifellos das Wesen der Willkürlichkeit einer Handlung aus. Dieses F i a t wird später eingehender behandelt werden. Es kann hier völlig beiseite gelassen werden, denn es ist ein konstanter Koeffizient, der bei allen willkürlichen Handlungen gleichmäßig in Betracht kommt und nicht geeignet ist, als Unterscheidungsmerkmal zu dienen. Niemand wird behaupten, daß sich seine Qualität verändert, je nachdem ob z. B. der rechte oder der linke Arm benützt wird."
Der Abschnitt über das Erfassen im Kapitel über das logische
Denken ist sehr interessant und liefert grund- und abschließende
Argumente gegen die Wesensforschung, insbesondere auch Husserls und der
PhänomenologInnen, S. 356:
"Alle Wege, eine konkrete Tatsache zu erfassen, sind, sofern sie überhaupt richtige Wege sind, gleich richtige Wege. E s g i b t k e i n e absolut w e s e n t l i c h e E i g e n t ü m l i c h k e i t f ü r i r g e n d e i n D i n g. Dieselbe Eigentümlichkeit, welche bei einer Gelegenheit als das Wesen des Dinges figuriert, wird bei einer anderen Gelegenheit zu einer Nebensache. Jetzt, da ich schreibe, ist es wesentlich, daß ich mein Papier als eine Schreibfläche auffasse. ..." |
S. 355: "Was versteht man unter einer Art des Erfassens? - Wenn
wir S nur als M auffassen (Zinnober z. B. nur als eine Queck-
silberverbindung), dann vernachlässigen wir alle anderen Merk-
male, die es haben mag, und beachten ausschließlich dieses eine.
(S. 356)
Wir verstümmeln die reiche Wirklichkeit von S. Jede Wirk-
lichkeit hat unendlich viele Aspekte oder Eigentümlichkeiten.
Sogar etwas so Einfaches wie eine in der Luft gezogene Linie
kann mit Rücksicht auf ihre Form, ihre Länge, ihre Richtung
und ihre Lage betrachtet werden. Wenn wir zu komplexeren
Tatsachen aufsteigen, dann wird die Zahl der Wege, auf denen
wir sie betrachten können, buchstäblich unendlich. Zinnober
ist nicht nur eine Quecksilberverbindung, er ist leuchtend. rot,
schwer, teuer, kommt von China und so fort a d i n f i
n i t u m.
Alle objekte sind unerschöpfliche Quellen von Eigentümlich-
keiten, von denen aber stets nur wenig auf einmal sich unserer
Erkenntnis enthüllen; und man hat mit Recht gesagt, daß
die
vollständige Erkenntnis eines Dinges die Erkenntnis des ganzen
Universums bedeuten würde. Mittelbar oder unmittelbar steht
dieses eine Ding mit jedem anderen in Verbindung; und um
alles über dasselbe zu wissen, müßte man alle seine
Relationen
kennen. Allein jede Relation bildet eines seiner Merkmale, einen
Angelhaken, mit Hilfe dessen man dasselbe erfassen kann, und
während man es so erfaßt, mag alles übrige vernachlässigt
wer-
den. Ein solch komplexer Tatbestand ist der Mensch. Aber
aus der Gesamtheit all seiner Eigentümlichkeiten faßt ein
Pro-
viantmeister als für seine Zwecke wichtig nur diejenige heraus,
[>356]
daß er so und soviel Pfund pro Tag ißt; der General die,
daß
er so und so viele Meilen täglich marschieren kann; der Stuhl-
macher, daß er die und die Gestalt besitzt, der Redner, daß
er
auf diese und jene Gefühle anspricht: der Theaterdirektor, daß
er gewillt ist, genau diesen Preis und nicht mehr für eine Abend-
unterhaltung zu bezahlen. Jede dieser Personen greift die be-
sondere Seite des gesamten Menschen heraus, die für i h
r e
e i g e n e n Absichten in Betracht kommt, und. erst wenn diese
Seite deutlich und gesondert erfaßt ist, können die dem
betreffen-
den Denker eigentümlichen praktischen Schlußfolgerungen
ge-
zogen werden; und dabei mögen dann die übrigen Merkmale
des Menschen außer acht gelassen werden.
Alle Wege, eine konkrete Tatsache zu erfassen, sind,
sofern
sie überhaupt richtige Wege sind, gleich richtige Wege.
E s
g i b t k e i n e absolut w e s e n t l i
c h e E i g e n t ü m l i c h k e i t f ü r
i r g e n d e i n D i n g. Dieselbe Eigentümlichkeit,
welche bei einer
Gelegenheit als das Wesen des Dinges figuriert, wird bei einer
anderen Gelegenheit zu einer Nebensache. Jetzt, da ich schreibe,
ist es wesentlich, daß ich mein Papier als eine Schreibfläche
auffasse. Würde ich das nicht tun, dann müßte ich meine
Ar-
beit einstellen. Aber wenn ich den Wunsch hätte ein Feuer
anzuzünden, und es wäre kein anderes Material zur Hand, dann
wäre es wesentlich, das Papier als Brennmaterial aufzufassen;
und ich brauchte dabei weiter keinen Gedanken an irgendeine
seiner anderen Bestimmungen zu haben. Es ist tatsächlich
a l l e s,
was es ist: ein Brennmaterial, eine Schreibfläche, ein kohlen-
wasserstoffhaltiges Ding, ein Ding, das acht Zoll breit und zehn
Zoll lang ist, ein Ding, das gerade eine achtel Meile östlich
von einem gewissen Stein in dem Feld meines Nachbars liegt,
ein amerikanisches Ding usw., a d i n f i n i t u m.
Jeder dieser
Aspekte seines Wesens, unter dem ich es vorübergehend klassi-
fiziere, macht mich ungerecht gegen seine anderen Aspekte. Aber
da ich es stets unter diesem oder jenem Aspekt klassifiziere, bin
ich immer ungerecht, immer parteiisch, immer exklusiv! Was
mich entschuldigt, ist die Notwendigkeit, - diejenige Notwendig-
keit, welche mir meine begrenzte und praktische Natur auferlegt.
Mein Denken vollzieht sich von A bis Z und stets um meines
Tuns willen, und ich kann immer nur ein Ding auf einmal tun.
Von einem Gott, von welchem angenommen wird, daß er das
ganze Weltall auf einmal regiert, kann man auch annehmen,
daß er, ohne seine Leistungen. zu beeinträchtigen, alle
Teile des
Weltalls auf einmal und ohne besondere Hervorhebung einzelner [>357]
erfaßt. Aber würde unsere menschliche Aufmerksamkeit sich
derart zerstreuen, dann würden wir einfach untätig auf die
Dinge im großen ganzen hinstarren und die Gelegenheit ver-
passen, irgendeine besondere Handlung zu vollbringen. In
seiner Erzählung Adirondack beschreibt Warner, wie er einen
Bären schoß, indem er nicht auf sein Auge oder Herz, sondern
,,im allgemeinen" auf ihn zielte, Aber wir können nicht ,,all-
gemein" auf das Universum zielen oder, wenn wir es tun, ver-
lieren wir unser Spiel. Unser Spielraum ist eng, und. wir müssen
die Dinge stückweise in Angriff nehmen, unter Vernachlässigung
der ganzen Fülle, in welcher die Elemente der Natur existieren,
und indem wir sie der Reihe nach vornehmen, um unsere kleinen
Interessen, so wie sie sich von Stunde zu Stunde gestalten, je-
weils zu befriedigen. Dabei wird die Parteilichkeit eines Augen-
blicks durch die andersartige Parteilichkeit des nächsten Augen-
blicks teilweise wieder gut gemacht. Mir erscheint jetzt, während
ich diese Worte niederschreibe, Betonung und Auswahl das
Wesen des menschlichen Geistes auszumachen. In anderen
Kapiteln sind es andere Qualitäten, die als die wichtigsten Teile
der Psychologie erschienen sind und weiterhin erscheinen werden.
Die menschliche Parteilichkeit ist so tief eingewurzelt,
daß
für den gesunden Menschenverstand. und die Scholastik (die ja
weiter nichts ist als der systematisierte gesunde Menschenverstand)
die Ansicht, wonach keine Qualität ursprünglich absolut und
aus-
schließlich wesentlich für irgend etwas ist, nahezu undenkbar
erscheint. ,,Das Wesen eines Dinges macht aus ihm, w a s
es ist.
Ohne ein ihm ausschließlich zukommendes Wesen würde es nichts
Besonderes, würde es ganz namenlos sein, wir könnten nicht
sagen es sei eher dieses als jenes. Warum von dem, worauf
wir schreiben, z. B. sagen, daß es ein Brennmaterial, oder recht-
winklig und ähnliches sei, wenn wir wissen, daß dies alles
bloße
Akzidenzien sind, und daß das, was es wirklich ist und wozu
es gemacht wurde, eben P a p i e r ist und sonst nichts?"
Der
Leser wird mit ziemlicher Gewißheit irgendeinen derartigen Ein-
wand machen. Aber er betont dabei selbst bloß einen Aspekt
des Dinges, der seinen eigenen momentanen Absichten das Ding
zu benennen entspricht; oder auch einen Aspekt, der im Zu-
sammenhang steht mit der Absicht des Fabrikanten: einen A r-
t i k e l z u f a b r i z i e r e n, f ü r d
e n e i n e a l l g e m e i n e N a c h f r a g e
v o r h a n d e n i s t. Jedoch die Wirklichkeit ist allenthalben
reicher
als das, worauf unsere besonderen Zwecke gerichtet sind. Auch
das, worauf unsere Absicht am häufigsten sich bezieht, unsere
[>358]
gewöhnlichste Bezeichnung für sie und die Eigentümlichkeiten,
die damit angedeutet werden, haben tatsächlich nichts Sakramen-
tales. Sie charakterisieren u n s mehr als sie das Ding
charak-
terisieren. Aber wir stecken so tief in unseren Vorurteilen, sind
intellektuell so verknöchert, daß wir unsern gewöhnlichsten
Namen
und dem, was sie bedeuten, ewigen und ausschließlichen Wert
zuschreiben. Das Ding muß, seinem Wesen nach, sein was der
gebräuchlichste Name bezeichnet; das was weniger gebräuch-
liche Namen bezeichnen, kann es nur in einem ,,akzidentellen«
und relativ unwirklichen Sinn sein.1)
Locke hat diese irrige Meinung untergraben. Aber keiner
seiner Nachfolger hat sie, soviel ich weiß, vollkommen vermieden,
oder hat gesehen, daß d e r e i n z i g e S
i n n d e s W e s e n s e i n
t e l e o l o g i s c h e r i s t, u n d d a ß
K l a s s i f i k a t i o n u n d B e g r i f f s-
b i l d u n g r e i n t e l e o l o g i s c h e W
a f f e n d e s G e i s t e s s i n d. Das
Wesen eines Dinges ist diejenige seiner Eigentümlichkeiten, die
so wichtig für meine Interessen ist, daß ich im Vergleich
zu ihr alle übrigen vernachlässigen kann. Ich reihe es ein
unter
diejenigen anderen Dinge, welche diese wichtige Eigentümlich-
keit ebenfalls besitzen, ich benenne es nach dieser Eigentüm-
lichkeit; ich begreife es als ein mit dieser Eigentümlichkeit
be-
gabtes Ding; und während ich es so einreihe, benenne und be-
greife, werden alle anderen Wahrheiten über dasselbe für
mich
zu nichts. Die Eigentümlichkeiten, welche wichtig sind, variieren
von Mensch zu Mensch und von Stunde zu Stunde. Daher die
verschiedenen Benennungen und Begriffe für das gleiche Ding.
Allein viele tägliche Gebrauchsgegenstände wie Papier, Tinte,
Butter, Überrock, haben Eigentümlichkeiten von so konstant
fest-
stehender Bedeutung, und. besitzen so stereotype Namen, daß
wir schließlich meinen, sie auf jene Weise begreifen, heiße
sie
auf die einzig wahre Weise begreifen. Dabei ist aber eine
solche Art des Erfassens um nichts richtiger, als irgendeine
andere Art, wir bedienen uns derselben nur häufiger.
1) Leser, welche populär-wissenschaftlich gebildet
sind, meinen viel-
leicht, daß der molekulare Aufbau der Dinge ihr
wirkliches Wesen in
absolutem Sinne ausmacht, und daß Wasser im Grunde
und in Wahrheit
mehr H-O-H ist, als ein Lösemittel für Zucker
oder etwas Durstlöschendes.
Nicht im geringsten! Es ist a l l e s das
gleich wirklich, und der einzige
Grund, warum es f ü r d e n C
h e m i k e r in erster Linie H-O-H und dann
erst etwas anderes bedeutet, ist der, daß
f ü r s e i n e n Z w e c k der Analyse
und Synthese im Laboratorium und der wissenschaftlichen
Behandlung,
die in Zusammensetzungen und Auflösungen besteht,
der H-O-H-Aspekt
des Wassers der für die Beachtung wichtigere ist."
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Inhaltsverzeichnis site: www.sgipt.org. |
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korrigiert: 10.12.2022 irs Rechtschreiobprüfung unmd gelesen