Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche
Gottfried Wilhelm Leibniz
Von der Unendlichkeit
(1765)
für das Internet aufbereitet von Rudolf Sponsel,
Erlangen
Quellen * Zur
Dialogform * § 8. *
"Capitel XVII.
Von der Unendlichkeit.
§. 1. Philal.
Einer der wichtigsten Begriffe ist der des Endlichen und des Unendlichen,
welche als Modi der Grösse betrachtet werden.
Theoph. Eigentlich zu sprechen,
giebt es allerdings eine Unendlichkeit von Dingen, d. h. stets mehr, als
man bezeichnen kann. Aber es giebt keine unendliche Zahl von Linien, noch
irgend eine andere unendliche Menge, wenn man sie für wirkliche Ganze
nimmt, wie leicht zu zeigen ist. Das haben die Schulen sagen wollen oder
sollen, indem sie ein syncategorematisches Unendliches, wie sie sich ausdrücken,
zuliessen.118) Das wahre Unendliche ist, streng genommen, nur
im Absoluten, welches jeder Zusammensetzung vorausgeht und nicht durch
Zusammenfügen von Theilen gebildet ist.
Philal. Wenn wir unsere Vorstellung
des Unendlichen auf das erste Seiende anwenden, so thun wir es gewöhnlich
in Hinsicht auf seine Dauer und seine Allgegenwart, und figürlicher
hinsichtlich seiner Macht, Weisheit, Güte und seiner übrigen
Attribute.
Theoph. Nicht figürlicher,
sondern weniger unmittelbar, weil die anderen Attribute ihre Grösse
durch die Beziehung zu denen zeigen, bei denen die Inbetrachtnahme der
Theile stattfindet.
§. 2. Philal.
Ich nahm es für ausgemacht, dass der Geist das Endliche und das Unendliche
als Modifikationen der Ausdehnung und der Dauer betrachtet.
Theoph. Ich finde nicht,
dass dies ausgemacht wäre. Die Inbetrachtnahme des Endlichen und des
Unendlichen findet überall da statt, wo es Grösse und Menge giebt.
Auch ist das wahrhafte Unendliche keine Modification; es ist das
Absolute; dagegen, so wie man modificirt, beschränkt man sich oder
bildet ein Endliches.
§. 4. Philal.
Wir haben geglaubt, dass, da die Macht des Geistes, seine Vorstellung des
Raumes durch neue Zusätze ohne Ende auszudehnen, immer dieselbe ist,
er die Vorstellung des unendlichen Raumes daher entlehnt.
Theoph. Man thut wohl, dabei
hinzuzufügen, dass dies der Fall ist, weil man sieht, dass dasselbe
Verhältniss immer bleibt. Nehmen wir eine gerade Linie und verlängern
wir sie dergestalt, dass sie das Doppelte von der ersten ist, so ist klar,
dass die zweite, welche der ersten vollkommen gleich ist, ebenso verdoppelt
werden kann, um eine dritte zu haben, welche auch den früheren gleich
ist, und da dasselbe Verhältniss immer statt hat, so wird man unmöglich
jemals aufgehalten; es kann also die Linie bis ins Unendliche dergestalt
verlängert werden, dass die Anschauung des Unendlichen aus der der
Aehnlichkeit oder des nämlichen Verhältnisses entspringt, und
ihr Ursprung derselbe ist, wie der der allgemeinen und nothwendigen Wahrheiten.
Dies zeigt, dass dasjenige, welches dem Erfassen dieser Vorstellung Vollzug
giebt, sich in uns findet und aus Sinneserfahrungen nicht kommen kann,
ganz so, wie die nothwendigen Wahrheiten weder durch Induction, noch durch
Sinnlichkeit bewiesen werden können. Die Vorstellung des Absoluten
ist innerlich in uns, wie die des Seins. Diese Bestimmungen des Absoluten
sind nichts Anderes, als die Attribute Gottes, und man kann sagen, dass
sie nicht weniger die Quelle der Vorstellungen sind, als Gott selbst das
Princip der Wesen. Die Vorstellung des Absoluten hinsichtlich des Raumes
ist nichts Anderes, als die der Unermesslichkeit Gottes, und so die anderen.
Aber man [140>] täuscht sich, wenn man sich einen absoluten Raum in
der Einbildung vorstellen will, der ein aus Theilen zusammengesetztes unendliches
Ganze sein soll. So Etwas giebt es nicht. Es ist das ein Begriff, der in
sich widersprechend ist, und jene unendlichen Ganzheiten und ihr Gegentheil,
die unendlichen Kleinheiten, haben nur in der mathematischen Berechnung
Sinn, ganz wie die eingebildeten Wurzeln der Algebra.
§ 6. Philal.
Man erkennt auch die Grösse, ohne in derselben Theile ausser den Theilen
anzunehmen. Wenn ich meiner vollkommensten Vorstellung vom blendendsten
Weiss eine andere von gleichem nicht minder lebhaftem Weiss hinzufüge
(denn ich kann derselben nicht die Vorstellung eines mehr Weissen als dessen,
wovon ich schon die Vorstellung habe, hinzuzufügen, da ich das schon
als das blendendste voraussetze, was ich wirklich vorzustellen vermag),
so vermehrt oder vergrössert dies meine Vorstellung in keiner Weise;
man nennt darum die verschiedenen Vorstellungen des Weissen Grade.
Theoph. Ich verstehe nicht die
Beweiskraft dieser Betrachtung, denn es hindert doch Nichts, dass man die
Wahrnehmung eines noch blendenderen Weissen empfangen mag, als die, welche
man wirklich hat. Die wahre Ursache, warum man Grund zu glauben hat, dass
die Weisse nicht bis ins Unendliche gesteigert werden kann, ist, dass es
keine ursprüngliche Eigenschaft ist, indem die Sinne nur eine verwirrte
Erkenntniss davon geben und man, wenn man eine deutliche davon haben würde,
sehen würde, dass sie von der Structur der Körper stammt und
sich auf die des Sehorgans beschränkt. Hinsichtlich der ursprünglichen
oder deutlich erkennbaren Eigenschaften sieht man aber, dass man mitunter
bis zum Unendlichen nicht nur da gehen kann, wo Ausdehnung (Extension)
stattfindet oder wenn Sie wollen, Ausbreitung (Diffusion) oder das,
was die Schule „partes extra partes" nennt (Theile ausser den Theilen),
wie bei der Zeit und dem Orte, sondern auch da, wo Intension ist
oder Grade sind, wie z. B. hinsichtlich der Schnelligkeit.
§. 8. Philal.
Wir haben nicht die Vorstellung eines unendlichen Raumes, und Nichts ist
klarer, als der Widersinn einer wirklichen Vorstellung einer
unendlichen Zahl. [141>]
Theoph. Ich bin derselben Ansicht.
Aber das ist nicht der Fall, weil man nicht die Vorstellung des Unendlichen
haben kann, sondern weil ein Unendliches nicht ein wahres Ganze sein kann.
§ 16. Philal.
Aus dem nämlichen Grunde haben wir also keine positive Vorstellung
einer unendlichen Dauer oder der Ewigkeit, ebenso wenig wie der Unermesslichkeit.
Theoph. Ich glaube, dass wir
die positive Vorstellung der einen und der anderen haben, und dass diese
Vorstellung wahr ist, falls man sie nicht als ein unendliches Ganze versteht,
sondern als ein absolutes oder schrankenloses Attribut, welches sich hinsichtlich,
der Ewigkeit in der Nothwendigkeit des Daseins Gottes findet, ohne
dass man darin Theile wahrnimmt oder den Begriff davon durch eine Zusammenzählung
der Zeiten bildet. Man sieht daraus auch, wie ich schon gesagt habe, dass
der Ursprung des Begriffs des Unendlichen aus derselben Quelle stammt,
wie der der nothwendigen Wahrheiten."
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