Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    IP-GIPT DAS=00.10.2004 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 17.10.4
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    Willkommen in der Abteilung Wissenschaft in unserer Internet-Publikation GIPT 1) Bereich Geschichte der Wissenschaften, hier Mathematik speziell zum Thema:

    Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche

    Gottfried Wilhelm Leibniz
    Von der Unendlichkeit
    (1765)

    für das Internet aufbereitet von Rudolf Sponsel, Erlangen
    Quellen * Zur Dialogform * § 8. *

    "Capitel XVII.
    Von der Unendlichkeit.

        §. 1.   Philal.   Einer der wichtigsten Begriffe ist der des Endlichen und des Unendlichen, welche als Modi der Grösse betrachtet werden.
        Theoph.   Eigentlich zu sprechen, giebt es allerdings eine Unendlichkeit von Dingen, d. h. stets mehr, als man bezeichnen kann. Aber es giebt keine unendliche Zahl von Linien, noch irgend eine andere unendliche Menge, wenn man sie für wirkliche Ganze nimmt, wie leicht zu zeigen ist. Das haben die Schulen sagen wollen oder sollen, indem sie ein syncategorematisches Unendliches, wie sie sich ausdrücken, zuliessen.118) Das wahre Unendliche ist, streng genommen, nur im Absoluten, welches jeder Zusammensetzung vorausgeht und nicht durch Zusammenfügen von Theilen gebildet ist.
        Philal.   Wenn wir unsere Vorstellung des Unendlichen auf das erste Seiende anwenden, so thun wir es gewöhnlich in Hinsicht auf seine Dauer und seine Allgegenwart, und figürlicher hinsichtlich seiner Macht, Weisheit, Güte und seiner übrigen Attribute.
        Theoph.   Nicht figürlicher, sondern weniger unmittelbar, weil die anderen Attribute ihre Grösse durch die Beziehung zu denen zeigen, bei denen die Inbetrachtnahme der Theile stattfindet.

        §. 2.   Philal.   Ich nahm es für ausgemacht, dass der Geist das Endliche und das Unendliche als Modifikationen der Ausdehnung und der Dauer betrachtet.
        Theoph.   Ich  finde nicht, dass dies ausgemacht wäre. Die Inbetrachtnahme des Endlichen und des Unendlichen findet überall da statt, wo es Grösse und Menge giebt. Auch ist das wahrhafte Unendliche keine Modification; es ist das Absolute; dagegen, so wie man modificirt, beschränkt man sich oder bildet ein Endliches.

        §. 4.  Philal.   Wir haben geglaubt, dass, da die Macht des Geistes, seine Vorstellung des Raumes durch neue Zusätze ohne Ende auszudehnen, immer dieselbe ist, er die Vorstellung des unendlichen Raumes daher entlehnt.
        Theoph.   Man thut wohl, dabei hinzuzufügen, dass dies der Fall ist, weil man sieht,  dass dasselbe Verhältniss immer bleibt. Nehmen wir eine gerade Linie und verlängern wir sie dergestalt, dass sie das Doppelte von der ersten ist, so ist klar, dass die zweite, welche der ersten vollkommen gleich ist, ebenso verdoppelt werden kann, um eine dritte zu haben, welche auch den früheren gleich ist, und da dasselbe Verhältniss immer statt hat, so wird man unmöglich jemals aufgehalten; es kann also die Linie bis ins Unendliche dergestalt verlängert werden, dass die Anschauung des Unendlichen aus der der Aehnlichkeit oder des nämlichen Verhältnisses entspringt, und ihr Ursprung derselbe ist, wie der der allgemeinen und nothwendigen Wahrheiten. Dies zeigt, dass dasjenige, welches dem Erfassen dieser Vorstellung Vollzug giebt, sich in uns findet und aus Sinneserfahrungen nicht kommen kann, ganz so, wie die nothwendigen Wahrheiten weder durch Induction, noch durch Sinnlichkeit bewiesen werden können. Die Vorstellung des Absoluten ist innerlich in uns, wie die des Seins. Diese Bestimmungen des Absoluten sind nichts Anderes, als die Attribute Gottes, und man kann sagen, dass sie nicht weniger die Quelle der Vorstellungen sind, als Gott selbst das Princip der Wesen. Die Vorstellung des Absoluten hinsichtlich des Raumes ist nichts Anderes, als die der Unermesslichkeit Gottes, und so die anderen. Aber man [140>] täuscht sich, wenn man sich einen absoluten Raum in der Einbildung vorstellen will, der ein aus Theilen zusammengesetztes unendliches Ganze sein soll. So Etwas giebt es nicht. Es ist das ein Begriff, der in sich widersprechend ist, und jene unendlichen Ganzheiten und ihr Gegentheil, die unendlichen Kleinheiten, haben nur in der mathematischen Berechnung Sinn, ganz wie die eingebildeten Wurzeln der Algebra.

        § 6.   Philal.   Man erkennt auch die Grösse, ohne in derselben Theile ausser den Theilen anzunehmen. Wenn ich meiner vollkommensten Vorstellung vom blendendsten Weiss eine andere von gleichem nicht minder lebhaftem Weiss hinzufüge (denn ich kann derselben nicht die Vorstellung eines mehr Weissen als dessen, wovon ich schon die Vorstellung habe, hinzuzufügen, da ich das schon als das blendendste voraussetze, was ich wirklich vorzustellen vermag), so vermehrt oder vergrössert dies meine Vorstellung in keiner Weise; man nennt darum die verschiedenen Vorstellungen des Weissen Grade.
        Theoph.   Ich verstehe nicht die Beweiskraft dieser Betrachtung, denn es hindert doch Nichts, dass man die Wahrnehmung eines noch blendenderen Weissen empfangen mag, als die, welche man wirklich hat. Die wahre Ursache, warum man Grund zu glauben hat, dass die Weisse nicht bis ins Unendliche gesteigert werden kann, ist, dass es keine ursprüngliche Eigenschaft ist, indem die Sinne nur eine verwirrte Erkenntniss davon geben und man, wenn man eine deutliche davon haben würde, sehen würde, dass sie von der Structur der Körper stammt und sich auf die des Sehorgans beschränkt. Hinsichtlich der ursprünglichen oder deutlich erkennbaren Eigenschaften sieht man aber, dass man mitunter bis zum Unendlichen nicht nur da gehen kann, wo Ausdehnung (Extension) stattfindet oder wenn Sie wollen, Ausbreitung (Diffusion) oder das, was die Schule „partes extra partes" nennt (Theile ausser den Theilen), wie bei der Zeit und dem Orte, sondern auch da, wo Intension ist oder Grade sind, wie z. B. hinsichtlich der Schnelligkeit.

    §. 8.  Philal.   Wir haben nicht die Vorstellung eines unendlichen Raumes, und Nichts ist klarer, als der Widersinn  einer  wirklichen Vorstellung einer unendlichen Zahl. [141>]
        Theoph.   Ich bin derselben Ansicht. Aber das ist nicht der Fall, weil man nicht die Vorstellung des Unendlichen haben kann, sondern weil ein Unendliches nicht ein wahres Ganze sein kann.

        § 16.   Philal.   Aus dem nämlichen Grunde haben wir also keine positive Vorstellung einer unendlichen Dauer oder der Ewigkeit, ebenso wenig wie der Unermesslichkeit.
        Theoph.   Ich glaube, dass wir die positive Vorstellung der einen und der anderen haben, und dass diese Vorstellung wahr ist, falls man sie nicht als ein unendliches Ganze versteht, sondern als ein absolutes oder schrankenloses Attribut, welches sich hinsichtlich, der Ewigkeit in der Nothwendigkeit des Daseins Gottes findet, ohne dass man darin Theile wahrnimmt oder den Begriff davon durch eine Zusammenzählung der Zeiten bildet. Man sieht daraus auch, wie ich schon gesagt habe, dass der Ursprung des Begriffs des Unendlichen aus derselben Quelle stammt, wie der der nothwendigen Wahrheiten."

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    Anmerkungen und Endnoten.
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    Quellen: Leibniz, Gottfried Wilhelm (orig. 1765; 1873 ff). Über Unendlichkeit. In: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Kapitel 17. Neue Auflage und Übersetzung von C. Schaarschmidt. Berlin: Heimann's Verlag. Philosophische Bibliothek. Philosophische Werke in vier  Bänden. Bd. 3, 129-132. Hamburg: Meiner. Der Text wurde aus der 1873er Auflage, S. 138 - 141, eingescannt. Zwischen den Paragraphen Absätze gesetzt.
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    §.4. Die 1873er Ausgabe enthält eine Reihe von §-Weglassungen: 3, 5, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15 . Der §. 4. in der 1873er Ausgabe hat in der neuen Übersetzung von Cassirer die Zuordnung  § 3 erhalten, ansonsten fehlen auch dort die §- Weglassungen. Es ist hierbei unklar, ob in der Originalarbeit ebenfalls Auslassungen der §-Zeichen vorliegen oder nicht. Letztendlich ist also unklar, das ist das Entscheidende, ob Text weggelassen wurde nicht. Um dies festzustellen, müßte man das französische Original vorliegen haben.
        Nachtrag 17.10.4: Durch eine Originalquelle [1,], die Hermann Kremer (de.sci.mathematik) ausfindig machte (danke), konnte zwar der Originaltext aus dem 2. Buch nicht verglichen werden, aber eine Betrachtung des ersten Buches zeigt, daß auch hier die Paragraphierungen mehrfach Lücken aufweisen, so daß vermutlich keine Übersetzungskürzungen vorliegen, sondern als Eigenart Leibnizens, möglicherweise ohne besondere Bedeutung, anzusehen ist.
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    Zur Dialogform des Leibniz von Volker Müller (fette Hevrorhebung von RS): "Ein weiterer klassischer philosophischer Text, in dem die Dialogform gewählt wurde, ist die Nouveaux essais sur l’entendement humain“ (Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand). G. W. Leibniz setzt sich mit dem Werk Essay "concerning human understanding“ von J. Locke auseinander. Bei beiden Texten handelt es sich nicht um Essays im heutigen Sinne, sondern eher um das Gegenteil. Leibniz hat sich entschlossen, seine Abhandlung in Dialogform abzufassen, weil er meint, besonders gut Referat, Zustimmung und Kritik zu Lockes Argumenten geben zu können, wenn er sie als Rede und Gegenrede darstellt. In diesem Werk gibt es den Gottesfreund Theophil, der das Sprachrohr Leibniz ist, und den Wahrheitsfreund Philalethes, der Lockes Auffassung repräsentiert. Hier schafft die Dialogform die Möglichkeit, daß Theophil die Auffassung von Leibniz entwickelt, kommentiert und kontrastiert, womit sie die Funktion hat, Argument und Gegenargument formal zu gliedern."
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    Änderungen - wird unregelmäßig überarbeitet, kleine Änderungen werden nicht extra dokumentiert
    17.10.04    Nachtrag zur Paragraphierung von Leibniz.


    Querverweise
    * Materialien zur Kontroverse um das Unendliche *


    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Leibniz zur Unendlichkeit (1765). Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche. Abteilung Geschichte der Wissenschaften, Bereich Mathematik. Internet Publikation - General and Integrative Psychotherapy. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/wisms/geswis/mathe/uleibniz.htm
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