Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    IP-GIPT DAS=21.12.2004 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 29.12.4
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
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    Willkommen in der Abteilung Wissenschaft in unserer Internet-Publikation GIPT 1) Bereich Geschichte der Wissenschaften, hier Mathematik speziell zum Thema:

    Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche

    Leopold Kronecker - Wie alles anfing
    Beiträge zur Geschichte des Konstruktivismus und des Intuitionismus

    von Hermann Kremer (de.sci.mathematik)

        Angefangen hat es wohl mit Leopold Kronecker (7.12.1823 - 29.12.1891), der 1887 seine Vorstellungen vom Wesen der Zahlen explizit in einem Aufsatz beschrieb, der unter dem Titel  "Über den Zahlbegriff"  in den  "... Herrn Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmeten philosophischen Aufsätzen, Leipzig 1887, unter No. VIII, S. 241-273 ..."  erschien.
        Eduard Zeller (22.1.1814 Kleinbottwar/Württemberg - 19.3.1908 Berlin) war evangelischer Theologe, Altphilologe und Philosoph und Professor in Tübingen, Bern, Marburg, Heidelberg und Berlin. Leopold Kronecker war mit ihm durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der Berliner "Philologischen Gesellschaft Graeca" bekannt.
        Nach einer "... theilweisen Umarbeitung und Erweiterung ..." veröffentlichte Kronecker diesen Aufsatz im gleichen Jahr auch in der damals wichtigsten deutschsprachigen mathematischen Zeitschrift:
     

      Leopold Kronecker: Über den Zahlbegriff. [Crelle's] Journal für die reine und angewandte Mathematik 101 (1887),  S. 337-355. Nachdruck in: Leopold Kronecker's Werke. Herausgegeben auf Veranlassung der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften von K. Hensel. Leipzig: B. G. Teubner 1892. Bd. 3/1, S. 250 - 274. Internet-Quelle (3. Eintrag).


    Der Aufsatz liest sich über weite Strecken wie der Entwurf eines Programms für die konstruktivistische Mathematik, und das sollte er wohl auch sein. Darauf spielt der Mathematiker Heinrich Weber in seinem Nachruf auf Kronecker an:
     

        "... Eine wesentliche Lücke würde aber in dem Bilde des Mathematikers Kronecker bleiben, wenn ich seine Stellung zu den fundamentalen, philosophischen Fragen der Mathematik mit Stillschweigen übergehen wollte. Es ist ein Standpunkt, der besonders in seinen späteren Jahren hervortrat, vielleicht mehr noch im persönlichen Verkehr als in der Oeffentlichkeit; aber auch öffentlich hat er seine Anschauungen nicht verleugnet und z.B. in der Festschrift zu Zeller's Jubiläum scharf hervorgekehrt.
      In Bezug auf Strenge der Begriffe stellt er die höchsten Anforderungen und sucht alles, was Bürgerrecht in der Mathematik haben soll, in die krystallklare eckige Form der Zahlentheorie zu zwängen. Manche von Ihnen werden sich des Ausspruchs erinnern, den er in einem Vortrag bei der Berliner Naturforscher-Versammlung im Jahre 1886 that:
      'Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk'.
       
      So war ihm alles, was sich nicht seines arithmetischen Ursprungs unmittelbar bewusst war, unsympathisch, und sein Streben ging dahin, nicht nur in der Algebra, sondern auch in der Functionentheorie die arithmetische Abstammung deutlich hervortreten zu lassen.
      Aber freilich hat er auch an jenem 'Menschenwerk' manches bekämpft und verworfen, was sich seit der Zeit des alten Euklid als gut und brauchbar und als logisch richtig erwiesen hat, wenn er z.B. eine Definition nur dann für zulässig erklärt, wenn sie in jedem Falle durch eine endliche Anzahl von Schlüssen erprobt werden kann. Er bricht damit den Stab nicht nur über alle die neueren Versuche, zu einer logisch verständlichen Auffassung der Irrationalzahlen zu gelangen, sondern auch über Euklid's darauf bezügliche Definitionen. ..."


    Den vollständigen Nachruf kann man nachlesen unter:
     

      Heinrich Weber: Leopold Kronecker.
      Jahresberichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 2 (1891/92), S. 5-31 [1:S.19/ 2: S.19]
      Nachdruck in: Math. Annalen 43 (1893), S. 1 - 25. [1: S.15/ 2: S.15]


    Dieser Nachruf ist übrigens die Quelle für Kroneckers wohl bekanntesten Ausspruch  "... Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk ..."  aus seinem Vortrag über elliptische Funktionen auf der Berliner Naturforscher-Versammlung 1886, der leider nicht gedruckt vorliegt.

    Der Mathematiker Adolf Kneser (1862 - 1930), der 1884 bei L. Kronecker und E. E. Kummer in Berlin promoviert hatte, brachte es in einer Rede anläßlich der am 19. Dezember 1923 von der Mathematischen Gesellschaft in Berlin abgehaltenen Hundertjahrfeier des Geburtstags von Leopold Kronecker ebenfalls auf den Punkt:
     

       "... Ich greife lieber [...] in den Schatz meiner persönlichen Erinnerungen und führe Ihnen eine Bewegung vor, die für Kronecker charakteristisch ist, wenngleich sie keineswegs eine große Leistung, in gewissem Sinne einen Mißerfolg bedeutet; ich meine den Kampf gegen die Irrationalzahlen.
      ...
      Die Vorlesungen von Karl Weierstraß [in Berlin in den achtziger Jahren] wurden allgemein bewundert [...]. Hier wurde die endgültig strenge Methode gelehrt, hier wurde das Geheimnis des Irrationalen entschleiert, und man freute sich unbändig an der Existenz der oberen und unteren Grenze sowie an der Weierstraß-Bolzano'schen Schlußweise. Da trat eines schönen Tages auch Kronecker auf dieses Gebiet über und tat den Ausspruch:

      'Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht; alles andere ist Menschenwerk'.

      Mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit verlangte er nichts Geringeres als den Ersatz der Bruchrechnung und des Rechnenns mit dem Imaginären durch Kongruenzen nach Moduln, die Unbestimmte enthalten, [...] und die Abschaffung des Irrationalen.
      Die ganzen Zahlen, auf die sich alles zurückführen läßt, sollten auch allein als unmittelbar gegebene Wesen nicht nur in der Arithmetik, sondern sogar in der Analysis gelten und herrschen.

      Das war, so würde man heute sagen, die Revolution. Aber Kronecker  [...] war ein Revolutionär wie Tiberius Grachus: Aristokrat durch und durch, dachte er nicht daran, zugunsten seiner plebejischen Schützlinge, der ganzen Zahlen, von seinen analytisch-aristokratischen Gewohnheiten zu lassen, und während er das Irrationale zu verfemen schien, veröffentlichte er zu derselben Zeit in den Sitzungsberichten der Akademie jene bewundernswerte Reihe von Abhandlungen zur Theorie der elliptischen Funktionen, in denen mit allen Raffiniertheiten der transzendenten Analysis gearbeitet wird und durchaus nicht abzusehen ist, wie man die angewandten Hilfmittel ohne Irrationalzahlen herstellen und begreifen soll.
      Man nahm wohl im ganzen Kroneckers temeramentvollen Aussprüche und Verbote nicht allzuschwer und hielt sie mehr für eine heitere Laune des großen Mannes. Aber wir wissen doch aus von Herrn Mittag-Leffler veröffentlichten Briefen von Weierstraß an Sonja Kowalewskaja, daß Weierstraß schwer unter Kroneckers Aussprüchen gelitten und sie gewissermaßen recht übel genommen hat.
       
      In der Tat war es ja wohl, wie Herr Hilbert bezüglich einer ähnlichen  neueren Bewegung sehr treffend gesagt hat, keine Revolution, sondern ein Putsch, der unter dem Generalstreik der analytischen Arbeiter zusammenbrechen mußte.
      ...
      [Es] ist wohl als wahrscheinlich hinzustellen, daß Kronecker keine andern Infinitesimalbegriffe zulassen wolte, als den der einfachen, aus abzählbar unendlich vielen Gliedern bestehenden Größenreihe, die unter gewissen gleichheitsbedingungen einen Grenzprozeß definiert.
      Die unendliche Kardinalzahl, die unendliche Menge nach Dedekind, die ihrem Teil ähnlich [das war die Dedekind'sche Bezeichnung für das Thomae-Cantor'sche 'gleichmächtig'] ist, die Weierstraß-Bolzano'sche Schlußweise [...], dies alles fällt weg. ...
       ...
      Daß bei Kronecker die Mengenlehre, die sich damals unter Cantors und Dedekinds Händen zu entwickeln begann, keinen Beifall fand, ist hiernach begreiflich; nicht persönliche Gründe leiteten ihn, wie man geglaubt hat, sondern das sachlich begründete Gefühl, daß in der Mengelehre für die konkrete Analysis, wie er sie trieb, nichts zu gewinnen war. ..." [S. 220 ff]


    Die vollständige Rede findet man unter:
     

      Adolf Kneser: Leopold Kronecker. Jahresberichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 33 (1925), S. 210-227 [1:S.210/ 2: S.210]


    Der Kronecker'sche Aufsatz  "Über den Zahlbegriff"  beginnt mit einer ziemlich philosophisch angelegte Einleitung, die neben Zitaten aus Briefen von Carl Gustav Jacob Jacobi an Alexander v. Humboldt und von Carl Friedrich Gauß an Friedrich Wilhelm Bessel auch Zitate von Schiller enthält, und die mit
     

      "... Dabei ist aber das Wort "Arithmetik" nicht in dem üblichen beschränkten Sinne zu verstehen, sondern es sind alle mathematischen Disciplinen mit Ausnahme der Geometrie und Mechanik, also namentlich die Algebra und Analysis, mit darunter zu begreifen. Und ich glaube auch, dass es dereinst gelingen wird, den gesammten Inhalt aller dieser mathematischen Disciplinen zu "arithmetisieren", d.h. einzig und allein auf den im engsten Sinne genommenen Zahlbegriff zu gründen, also die Modificationen und Erweiterungen dieses Begriffs - ich meine hiermit namentlich die Herausnahme der irrationalen sowie der continuirlichen Größen - wieder abzustreifen, welche zumeist durch die Anwendungen auf die Geometrie und Mechanik veranlasst worden sind. ..."


    schließt. Das klingt in der Tat wie ein Programm zur praktischen Durchführung des zweiten Halbsatzes seines Ausspruchs vom lieben Gott und den ganzen Zahlen, und wirklich folgt auch jetzt eine Konstruktion der negativen, rationalen und von ihm in Anführungszeichen gesetzten "irrationalen" Zahlen aus den natürlichen Zahlen mittels zahlentheoretischer Methoden. Unter "irrationalen" Zahlen versteht er dabei ausschließlich die algebraisch irrationalen Zahlen; über die für ihn nicht existierenden transzendenten Zahlen verliert er kein einziges Wort. Die arithmetische Konstruktion der imaginären Rationalzahlen wird in diesem Aufsatz nicht behandelt.

    Im ersten Paragraphen des Aufsatzes

       §1. Definition des Zahlbegriffs.

    definiert Kronecker die natürlichen Zahlen, und interessanterweise macht er das mengentheoretisch:
     

      "... Den naturgemässen Ausgangspunkt für die Entwickelung des Zahlbegriffs finde ich in den /Ordnungszahlen/. In diesen besitzen wir einen Vorrath gewisser, nach einer festen Reihenfolge geordneter Bezeichnungen, welche wir einer Schaar verschiedener und zugleich für uns unterscheidbarer Objecte beilegen können - Die Objecte können in gewissem Sinne einander gleich und nur räumlich, zeitlich oder gedanklich unterscheidbar sein, wie z.B. zwei gleiche Längen oder zwei gleiche Zeittheile.
      Die /Gesammtheit der hierbei verwendeten Bezeichnungen/ fassen wir in dem Begriffe der "Anzahl der Objecte", aus denen die Schaar besteht, zusammen, und wir knüpfen den Ausdruck für diesen Begriff unzweideutig an die /letzte/ der verwendeten Bezeichnungen an, da deren Aufeinanderfolge fest bestimmt ist. ...
      ... Die Gesammtheit der Bezeichnungen "erster", "zweiter", u.s.f. bis "fünfter", oder die "Anzahl" der Buchstaben a, b, c, d, e kann demgemäß in Anknüpfung an die letzte der verwendeten Ordnungszahlen durch die Zahl "Fünf" bezeichnet werden. ..."


    Es folgt ein längerer philologischer Einschub, wie auf altgriechisch die Namen der Ordnungszahlen gebildet wurden, explicirt am Beispiel 32456 --> tris'mýrioi dis'chílioi tetra'kósioi penté'konta hex , der in der Erkenntnis gipfelt, daß man  "... mit Hülfe von nur 13 verschiedenen Bezeichnungen, nämlich neun Anfangs- und vier Endungsbezeichnungen, alle Zahlen bis 99999 deutlich unterscheidbar auszudrücken ..."  vermochte.

    Mathematisch schließt der Abschnitt mit
     

      "... Man kann aus den Ordnungszahlen selbst eine Schaar von Objecten bilden. Für diejenige Schaar, welche aus einer bestimmten (n-ten) Ordnungszahl und aus allen vorhergehenden Ordnungszahlen besteht, wird die "Anzahl" gemäss der oben gegebenen Definition durch die der n-ten Ordnungszahl entsprechende "Cardinalzahl"  n  ausgedrückt, und es sind diese Cardinalzahlen, welche auch schlechthin als "Zahlen" bezeichnet werden.
      Eine Zahl  m  heisst "kleiner" als eine andere Zahl  n,  wenn die zu  m  gehörige Ordnungszahl der zu  n  gehörigen vorangeht. Die sogenannte natürliche Reihenfolge der Zahlen ist nichts Anderes als die Reihenfolge der entsprechenden Ordnungszahlen. ..."


    Mit diesen Definitionen verbaute Kronecker natürlich sich und seinen Nachfolgern den Übergang von endlichen zu unendlichen Mengen (Schaaren), denn jede seiner Mengen mußte zwangsläufig ein größtes Object (Ordnungszahl) enthalten. Da der Aufsatz mehr als 10 Jahre nach den ersten Veröffentlichungen von Georg Cantor über die transfinite Mengenlehre geschrieben wurde, muß man wohl annehmen, daß Kronecker dies in voller Absicht tat.

    Die nächsten drei Paragraphen
     

      §2. Die Unabhängigkeit der Zahl von der beim Zählen befolgten Anordnung.
      §3. Die Addition der Zahlen.
      §4. Die Multiplikation der Zahlen.


    sind nicht weiter interessant; es werden dort die Unabhängigkeit der Mächtigkeit (Kardinalzahl) einer (endlichen) Menge von der Ordnung ihrer Elemnente sowie die Kommutativität und Assoziativität der Addition und Multiplikation natürlicher Zahlen gezeigt.

    Im letzten Paragraphen
     

      §5. Die Buchstabenrechnung.


    führt Kronecker schließlich die negativen ganzen Zahlen, die rationalen Zahlen und seine Version der algebraisch irrationalen Zahlen ein:
     

      "... Die Gesetze der Addition und der Multiplikation der Zahlen sind hiermit aus den Definitionen vollständig entwickelt. Dieselben Gesetze mussten für die sogenannte Buchstabenrechnung als massgebend angenommen werden, sobald man anfing, die Buchstaben zur Bezeichnung von Zahlen zu verwenden, deren Bestimmung vorbehalten bleiben kann oder soll. Aber mit der /principiellen/ Einführung der "Unbestimmten" (indeterminatae), welche von Gauss herrührt, hat sich die specielle Theorie der ganzen Zahlen zu der allgemeinen arithmetischen Theorie der ganzen ganzzahligen Funktionen von Unbestimmten erweitert. Diese allgemeine Theorie gestattet alle der eigentlichen Arithmetik fremden Begriffe, den der negativen, der gebrochenen, der reellen und der imaginären algebraischen Zahlen, auszuscheiden.
      I. Der Begriff der /negativen/ Zahlen kann vermieden werden, indem in den Formeln der Factor  -1  durch eine Unbestimmte  x  und das Gleichheitszeichen durch das Gauss'sche Congruenzzeichen modulo  (x+1)  ersetzt wird.
      ...
      II. Der Begriff der /gebrochenen/ Zahlen ist zu vermeiden, indem man in den Formeln den Factor  1/m  durch eine Unbestimmte x_m und das Gleichheitszeichen durch das Gauss'sche Congruenzzeichen modulo (m*x_m - 1)  ersetzt.
            ... "

    Kronecker schlägt also vor, die, die negative Zahl  z = -b  definierende, Gleichung z + (a + b) = a  bzw. deren formale Lösung  z = a - (a + b) durch die Kongruenz

    z == a + (a + b)*x  (mod (x + 1))

    zu ersetzen; dann ist  z  diejenige Zahl, für die die Kongruenz bei allen natürlichen Zahlen  x  gültig ist. Die Kongruenz liefert in der Tat das richtige Ergebnis, denn  z  ist diejenige Zahl, für die

    z - a - (a + b)*x  =  -(a + b)*[x + (a - z)/(a + b)]

    für alle  x  ohne Rest durch  x + 1  teilbar sein muß, woraus  z = -b  folgt.

    Entsprechend soll die, eine (gekürzte) rationale Zahl definierende Gleichung, b*z = a  bzw. deren formale Lösung  z = a/b
    durch die Kongruenz

    z == a*x  (mod (b*x - 1))
    ersetzt werden, und das bedeutet, daß
    z - a*x  =  -(a/b)*[b*x - (b/a)*z]

    für alle  x  ohne Rest durch  b*x - 1  teilbar sein muß, woraus  z = a/b  folgt.

    Negative und rationale Zahlen werden somit durch Kongruenzen in "Unbestimmten", im wesentlichen also durch erzeugende Funktionen, definiert.

    Der eigentlich spannende Abschnitt dieses Paragraphen ist aber der folgende, in dem Kronecker seinen Begriff der algebraisch irrationalen Zahlen einführt.
     

      "...
      III. Dass die Einführung und Verwendung der /algebraischen/ Zahlen überall da entbehrlich ist, wo nicht die Isolirung der unter einander conjugirten erfordert wird, habe ich in einem früheren Aufsatze
      L. Kronecker: Ein Fundamentalsatz der allgemeinen Arithmetik.
      [Crelle's] Journal für die reine und angewandte Mathematik 100 (1887), S. 490-510. Nachdruck in: Leopold Kronecker's Werke. Bd. 3/1, S. 209 - 240. [1: 3.Eintrag]
      gezeigt; dass diese Isolirung selbst aber auch ohne Einführung neuer Begriffe geschehen kann und nur dann, wenn sie so geschieht, das Wesen der Sache klar hervortreten lässt, soll hier in derselben Weise, wie ich es seit zehn Jahren in meinen Universitätsvorlesungen zu thun pflege, dargelegt und damit zugleich jene "genauere Analyse des Begriffs der reellen Wurzeln algebraischer Gleichungen"  gegeben werden, welche ich am Schlusse des ersten Theiles der [Festschrift für Ernst Kummer anläßlich dessen 50-ten Doctor-Jubiläums]
      L. Kronecker: Grundzüge einer arithmetischen Theorie der algebraischen Grössen. [Crelle's] Journal für die reine und angewandte Mathematik 92 (1882), S. 1-122. Nachdruck in: Leopold Kronecker's Werke. Bd. 2, S. 237 - 388. [1: 2.Eintrag] angekündigt habe ...".


    Zur "Isolirung" der irrationalen Zahlen betrachtet Kronecker die algebraische Gleichung

    f(x) = a_n*x^n + ... + a_1*x + a_0  =  0

       
      mit ganzen Koeffizienten  a_k,  von der er voraussetzt, daß sie mindestens eine reelle Wurzel besitzt und sämtliche Wurzeln einfach sind. Er berechnet dann aus den Koeffizienten eine rationale Zahl  t  so, daß sämtliche reellen Wurzeln im Intervall  -t < x < t  liegen, und eine ganze Zahl  s  so, daß in jedem der Teilintervalle  -t + (k-1)/s < x < -t + k/s  höchstens eine Wurzel liegt. Damit hat er die Wurzeln isoliert und kann dann die wurzelträchtigen Intervalle dadurch bestimmen, daß an deren Rändern  f(x)  unterschiedliches Vorzeichen besitzt. Jedes dieser Intervalle der Breite  1/s  kann er dann wiederum in  r  Teilintervalle der Breite  1/(r*s)  unterteilen, von denen eins, z.B. das h-te, die Wurzel enthält. Da die Intervallbreite  1/(r*s)  ein Maß für die Anzahl der gültigen Ziffern sämtlicher in diesem Intervall liegenden reellen Zahlen ist, so kann er algebraisch-irrationale Zahlen in dieser Weise beliebig genau durch rationale Intervalle annähern. Er bemerkt dazu:
      "... Aber auch die sogenannte Berechnung der reellen Wurzeln selbst wird durch das angegebene Verfahren ersetzt ...
      Anstatt also die ihm äußerst suspekten "irrationalen" Zahlen sogenannt (!) zu berechnen, charakterisiert sie Kronecker durch das (n+6)-Tupel aus den Koeffizienten  a_k  und den ganzen Zahlen t, s, r, k, h und hat sie damit in seinem Verständnis "arithmetisiert":
      "... Die sogenannte Existenz der reellen irrationalen Wurzeln algebraischer Gleichungen ist einzig und allein in der Existenz von Intervallen der angegebenen Beschaffenheit begründet; die Zulässigkeit der Rechnung mit den einzelnen Wurzeln einer algebraischen Gleichung beruht ganz und gar auf der Möglichkeit sie zu isoliren, also auf der Möglichkeit eine Zahl, wie die oben mit  s  bezeichnete, zu bestimmen. Ist eine solche Zahl  s  bestimmt, welche die Eigenschaft hat, dass die Intervalle von der Grösse  1/s  hinreichend klein sind, um die verschiedenen Wurzeln derselben Gleichung zu isoliren, so wird das "Grösser" und "Kleiner" der Wurzeln einfach durch die Aufeinanderfolge der bezüglichen Isolierungs-Intervalle deduirt. Das "Grösser" und "Kleiner" irgend welcher irrationaler algebraischer Zahlen bestimmt sich hiernach auch, wenn man - wie es offenbar zulässig  ist - die beiden ihrer Grösse nach zu vergleichenden algebraischen Zahlen sich als zwei Wurzeln einer und derselben Gleichung denkt.
      Das eigentliche Wesen der Sache tritt aber erst dann in der obigen Deduction vollkommen scharf hervor, wenn man darin auch die Benutzung von Brüchen vermeidet und ausschliesslich von ganzen Zahlen Gebrauch macht. ..."


    Dies macht er dann auch durch Einführung der Hilfsgleichung

    F(y, z)  :=  y^n * f(z/y) ,

    rechnet noch etwas und bemerkt dann:
     

      "... Jede der reellen Wurzeln der Gleichung  f(x) = 0  wird also durch je eine bestimmte Zahl  k  vollkommen charakterisiert; alsdann aber gehört zu jeder beliebig angenommenen Zahl  r  noch je eine bestimmte Zahl  h,  und man kann also die Zahlen  h  als  'Functionen der unbestimmten ganzen Zahlen  r'  auffassen, welche durch die ganzzahlige Function  F(y, z)  definirt werden. ..."


    Sein Verfahren ist natürlich eine konstruktivistische Variante des seit mindestens 15 Jahren bekannten Dedekind'schen Schnitts
     

      Richard Dedekind: Stetigkeit und irrationale Zahlen. Braunschweig: Vieweg 1872


    aber darüber verliert er kein Wort. Statt dessen schreibt er zum Schluß:
     

      "... und alle Ergebnisse der tiefsinnigsten mathematischen Forschung müssen schliesslich in jenen einfachen Formen der Eigenschaften ganzer Zahlen ausdrückbar sein. ..."


    Die Abhandlung endet dann mit einer wieder philosophischen Aussage über die Leistungen des Menschengeistes bei der Erforschung der ganzen Zahlen seit grauer Vorzeit.

    Wie es dann weiterging, kann man u.a.. in
     

      Luitzen E. J. Brouwer: Intuitionistische Zerlegung mathematischer Grundbegriffe. Jahresberichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 33 (1925), S. 251-256 [1 / 2]


    nachlesen.

    ***


    Die IP-GIPT bedankt sich bei Hermann Kremer für die Erlaubnis zur Publikation auf unseren Seiten.


    Anmerkungen und Endnoten
    Briefen. Der erwähnte Briefwechsel zwischen Karl Theodor Weierstraß und Sofia (Sonja) Kowalewskaja steht in: Gösta Mittag-Leffler, Gösta (1923). Weierstraß und Sonja Kowalewsky. Acta Mathematica 39 (1923), S. 133 - 198.
        Die Briefstelle, auf die sich Adolf Kneser bezieht, stammt aus einem Brief vom 24. März 1885 von K. Weierstraß in Berlin an S. Kowalewskaja in Stockholm und ist ebenfalls in
        Otto Stamfort: Leopold Kronecker (1823 - 1891). In:  Hans Wussing; Wolfgang Arnold (Hrsg): Biographien bedeutender Mathematiker. Berlin: VEV Volk und Wissen 1975,  Köln: Aulis-Verlag Deubner 1985, S. 438
    abgedruckt; sie lautet:
      "... Wenn aber Kronecker den Ausspruch tut, den ich /wörtlich/ wiederhole:
      'Wenn mir noch Jahre und Kräfte genug bleiben, werde ich selber der mathematischen Welt noch zeigen, daß nicht nur die Geometrie, sondern auch die Arithmetik der Analysis die Wege weisen kann, und sicher die strengeren. Kann ich es nicht mehr tun, so werden es die tun, die nach mir kommen, und sie werden auch die   Unrichtigkeit aller jener Schlüsse erkennen, mit denen jetzt die /sogenannte/ Analysis arbeitet',
    so ist ein solcher Anspruch von einem Manne, dessen hohe Begabung für mathematische Forschung und eminente Leistungen von mir sicher ebenso aufrichtig und freudig bewundert werden wie von allen seinen    Fachgenossen, nicht nur beschämend für diejenigen, denen zugemutet wird, daß sie als Irrtum anerkennen und abschwören sollen, was den Inhalt ihren unablässigen Denkens und Strebens ausgemacht hat, sondern es ist auch ein direkter Appell an die jüngere Generation, ihre bisherigen Lehrer zu verlassen und sich um ihn als Jünger einer neuen Lehre, die freilich erst begründet werden /soll/, sich zu scharen ...".



    Änderungen - wird unregelmäßig überarbeitet, kleine Änderungen werden nicht extra dokumentiert
    tt.mm.tt


    Querverweise
    * Materialien zur Kontroverse um das Unendliche *


    Zitierung
    Kremer, Hermann (DAS). Leopold Kronecker - Wie alles anfing. Beiträge zur Geschichte des Konstruktivismus und des Intuitionismus. Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche.  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/wisms/geswis/mathe/kroneck0.htm
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