Terminologische Probleme in der Geschichte der Chemie
August Kekulé Im Neuen Handwörterbuch der Chemie von Hermann von Fehling (1871, S. 77-88 ) zu den Problemen der Chemischen Terminologie anhand der Begriffe Aequivalent und Aequivalenz
Namen in der Originalarbeit gesperrt geschrieben, hier kursiv. Fette Hervorhebungen von uns. Auszug. Sekundärquelle.
"Aequivalent und Aequivalenz.'' l)
Die Ausdrücke aequivalent und Aequivalenz sind schon seit den ersten
Jahren dieses Jahrhunderts in der Chemie in Gebrauch, aber erst in den
letzten Jahrzehnten sind die Begriffe, welche durch sie ausgedrückt
werden, scharf und bestimmt festgestellt, und damit der Gebrauch der Ausdrücke
geregelt worden. In Uebereinstimmung mit dem ethymologischen Sinn der Worte
spricht man jetzt von Aequivalenz nur bei Substanzen, die eine mehr oder
weniger ähnliche Rolle zu spielen, die also annähernd denselben
Effect hervorzubringen im Stande sind, und man nennt die relativen Mengen
chemisch ähnlicher Substanzen, welche nahezu dieselbe Wirkung ausüben,
äquivalente Mengen.
Die ersten Versuche zur Ermittelung derjenigen relativen
Mengen gewisser chemisch ähnlicher Substanzen, welche denselben chemischen
Effect hervorbringen, die wir also jetzt als äquivalente Mengen bezeichnen,
sind, selbst wenn die von Homberg schon 1699 ausgeführten Versuche
als zu ungenau und mit zu unreinen Substanzen angestellt, unberücksichtigt
bleiben, vor jetzt nahezu 100 Jahren von Bergmann, Kirwan, Wenzel und
Richter
ausgeführt worden. Wenn Bergmann (1775) und nach ihm Kirwan
(1780) diejenigen relativen Gewichtsmengen verschiedener Basen ermittelten,
die sich mit derselben Menge einer gewissen Säure zu vereinigen vermögen,
wenn sie andererseits die relativen Mengen verschiedener Säuren feststellten,
welche sich mit einer und derselben Menge einer gewissen Base verbinden,
so bestimmten sie das, was wir jetzt äquivalente Mengen der verschiedenen
Säuren oder der verschiedenen Basen nennen. Wenn Bergmann weiter
erforschte, in welchen relativen Mengen ein Metall ein anderes aus der
neutralen und neutral bleibenden Lösung eines Salzes zu fällen
vermag, so ermittelte er diejenigen relativen Mengen der verschiedenen
Metalle, die wir jetzt als äquivalente Mengen bezeichnen. Auch die
Untersuchungen von Wenzel (1717), obgleich sie zu manchen irrigen
Schlußfolgerungen führten, hatten nach unserer jetzigen Ausdrucksweise
wesentlich die Bestimmung äquivalenter Mengen zum Gegenstande.
Richter, der in derselben Richtung ausführliche
Experimentaluntersuchungen anstellte, kam der Erkenntniß der Aequivalenz
noch näher. Seine Betrachtungen über die Neutralsalze zeigen
deutlich, daß ihm der Begriff der Aequivalenz eigentlich schon geläufig
war, wenn er sich auch des Ausdrucks nicht bediente. Er stellte diejenigen
Mengen von Basen, welche durch dasselbe Gewicht einer gegebenen Säure
neutralisirt werden, und ebenso die Mengen von Säuren, welche durch
dieselbe Quantität gewisser Basen gesättigt werden, in Reihen
zusammen und nannte solche Reihen Neutralitäts- oder Massenreihen.
Fischer
vereinigte dann (1802) die verschiedenen Reihen von Richter in eine
einzige Tabelle, in welcher in einer Columne die wichtigsten Basen, in
der anderen die damals bekannten Säuren aufgeführt waren; die
beigesetzten Zahlen geben die relativen Mengen an, nach welchen die verschiedenen
Basen sich mit den verschiedenen Säuren zu Neutralsalzen vereinigen.
Fischer'
s Tabelle kann füglich die erste Aequivalentgewichtstafel genannt
werden; die eine Spalte gab die Aequivalentgewichte der Basen, die andere
die Aequivalentgewichte der Säuren. Der Ausdruck "Aequivalent" wird
freilich immer noch nicht gebraucht, Fischer bedient sich vielmehr der
Bezeichnung "Verhältnißmengen".
Nachdem dann durch Dalton (1804) die atomistische
Theorie in die Chemie eingeführt worden war, hatten der englische
Chemiker Davy und der Physiker Wollaston, obgleich sie die
Grundidee dieser Atomtheorie billigten und annahmen, doch gewisse Bedenken.
Sie meinten, alle Grundsätze und Betrachtungen, [886] durch welche
man die Anzahl der Atome in den Verbindungen bestimme, seien an sich unsicher,
und diese Unsicherheit übertrage sich natürlich auf die relativen
Gewichte der einzelnen Atome, also auf die sogenannten Atomgewichte; es
sei daher geeigneter, sich für chemische Betrachtungen nicht der Atome
und der Atomgewichte zu bedienen. Davy bezeichnete die relativen
Gewichtsmengen, welche Dalton und seine Anhänger Atomgewichte
nannten, als "proportions", also Verhältnisse, ein Ausdruck, der mit
Fischer's "Verhältnißmengen" zusammenfällt, und statt dessen
man sich später auch der Ausdrücke "Verbindungsgewichte" (combining
proportions), oder "Mischungsgewichte" bediente. Wollaston dagegen
schlug 1814 den Ausdruck "Aequivalent" vor. Dabei hatte Wollaston
unverkennbar die Versuche von Bergmann und Richter, und andere
Versuche, durch welche wirklich äquivalente (d. h. gleichwerthige)
Mengen bestimmt worden waren, im Auge; aber indem er den Ausdruck Aequivalent
geradezu an die Stelle des Ausdrucks Atomgewicht setzte, benutzte er von
Anfang an das Wort Aequivalent in einem Sinn, den es seiner ethymologischen
Ableitung nach nicht in allen Fällen ausdrücken konnte. Er nannte
ebensowohl diejenigen relativen Mengen verschiedener Körper, die sich
gegenseitig ersetzen, Aequivalente als auch diejenigen relativen Mengen
verschiedener Stoffe, die sich zu einfachen und bekannten Verbindungen
vereinigen, und die man zweckmäßiger, mit Davy, proportions
oder Verbindungsgewichte genannt hätte.
So gab Wollaston selbst zu der Verwirrung der Begriffe Veranlassung,
die sich Jahrzehnte lang erhielt, und die einen so nachtheiligen Einfluß
auf die Entwickelung der Wissenschaft ausübte. In der nächstfolgenden
Zeit wurde zwar von Berzelius und seiner Schule die atomistische
Hypothese streng durchgeführt und weiter ausgedehnt, und man bediente
sich vorzugsweise und sogar ausschließlich der Atomgewichte. Als
aber verschiedene der Anhaltspunkte, die man zur Bestimmung der Atomgewichte
benutzen zu können geglaubt hatte, sich für den damaligen Stand
der Wissenschaft als unzureichend erwiesen (specifische Gewichte, specifische
Wärmen etc.), glaubte man, "man würde wohl niemals darüber
einig werden, durch welche Gewichtsverhältnisse die relativen Atomgewichte
auszudrücken seien, und es sei deshalb zweckmäßiger, auf
sie Verzicht zu leisten und sich der Aequivalente zu bedienen.'' 2)
Von jetzt an wurden von den meisten Chemikern
die Ausdrücke: Atomgewicht, Aequivalent und Verbindungsgewicht (oder
Mischungsgewicht) neben einander und für dieselben Begriffe gebraucht.
Was man durch sie bezeichnete, waren weder in allen Fällen die Atomgewichte,
noch waren es wahre Aequivalente; es war bald das eine, bald das andere,
bisweilen auch keins von beiden. Es waren willkürlich gewählte,
oder durch Uebereinkunft für gewisse Perioden festgestellte Verbindungs-
oder Mischungsgewichte; also [887] Zahlenwerthe, mit Hülfe derer man
Formeln schreiben und die empirischen Gesetze darstellen konnte, die aber
keine durch irgend welche Thatsachen oder Speculationen feststellbare Größen
ausdrückten. Die Begriffe von Atom und von Aequivalent waren beide
noch nicht mit voller Klarheit erkannt; man verwechselte sie vielfach und
man unterschied von beiden noch nicht den Begriff des Molecüls.
Erst nachdem durch Gerhardt und namentlich
durch Laurent 3) (1846) die
Begriffe von Atom und Molecül von einander getrennt, klar erfaßt
und scharf definirt worden waren konnte auch der Begriff des Aequivalents
bestimmt erkannt und consequent durchgeführt werden (1849). Man sah
jetzt, daß für die Elemente die Aequivalente zwar bisweilen,
aber durchaus nicht immer mit den Atomgewichten zusammenfallen; daß
die relativen Mengen, welche man durch die damals gebräuchlichen Symbole
ausdrückte, weder in allen Fällen Atomgewichte noch auch Aequivalente
waren. Man entschloß sich, der atomistischen Schreibweise wieder
den Vorzug zu geben: man sah die Nothwendigkeit ein, die drei völlig
verschiedenen Begriffe: Atom, Molekül und Aequivalent scharf von einander
zu unterscheiden, und man bemühte sich, jeden der drei Ausdrücke
möglichst consequent nur für einen der drei verschiedenen Begriffe
anzuwenden. Dabei übte freilich die alte Gewohnheit den nachtheiligsten
Einfluß aus. Sie veranlaßte, daß die frühere Unklarheit
und Verwirrung noch längere Zeit fortdauerte und noch jetzt nicht
vollständig verschwunden ist.
Während man jetzt in der Chemie mit Atom die
chemisch kleinsten, also chemisch nicht weiter spaltbaren Theilchen von
Materie bezeichnet, so daß von Atomen nur für die Elemente die
Rede sein kann: während man unter Molecül die kleinste, der freien
Existenz fähige Menge von Substanz, also das chemische Individuum
versteht; hat der Begriff Aequivalent mit diesen aus der atomistischen
Hypothese entsprungenen Anschauungen direct durchaus nichts gemein. Aequivalent
nennt man vielmehr, in Uebereinstimmung mit dem ethymologischen Sinn des
Wortes diejenigen relativen Mengen, die von einem gewissen Gesichtspunkt
aus als gleich- oder ähnlich-werthig erscheinen, die also in gewissen,
gerade berücksichtigten Fällen, denselben Effect hervorzubringen
im Stande sind. Von Aequivalenz kann also nur für Körper die
Rede sein, die von irgend einem chemischen Gesichtspunkt aus in Bezug auf
Wirkungswerth mit einander verglichen werden können. Da man nun in
Bezug auf chemischen Effect die Atome der verschiedenartigsten Elemente
wohl untereinander und ebenso die Molecüle der mannigfaltigsten Substanzen
miteinander nie aber Atome mit Molecülen vergleichen kann, so ist
es jedenfalls einleuchtend daß von der Aequivalenz von Atomen mit
Molecülen niemals die Rede sein kann. Wie weit man aber für diejenigen
Substanzen, für welche überhaupt von Aequivalenz gesprochen werden
darf den Begriff der Aequivalenz ausdehnen will, hängt wesentlich
von den Gesichtspunkten ab, von welchen aus man gerade Vergleiche anstellt."
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