Die wissenschaftlichen Ziele und Leistungen der Chemie1)
Rede, gehalten beim Antritt des Rectorates
der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität am
18. Oktober 1877
von August Kekulé.
Vorwort.
Der Vortrag, den ich hiermit dem grösseren Publikum übergebe, ist wesentlich dazu bestimmt gewesen, dem Nicht-Chemiker von den wissenschaftlichen Zielen der Chemie und von dem, was die Chemie in höherwissenschaftlicher Richtung bis jetzt geleistet hat, eine gewisse Vorstellung zu geben. Der Fachmann wird daher etwas wesentlich Neues weder erwarten noch finden. Manches ist wohl in anderer Form, Einiges vielleicht auch bestimmter gesagt, als es bisher geschehen war. Dem Charakter einer akademischen Festrede entsprechend, musste das, was gesagt werden sollte, in kurze Sätze zusammengefaßt, auf eingehendere Entwicklungen und Begründungen aber Verzicht geleistet werden. Gedanken, die schon von Anderen in, wie ich glaube, guter Form ausgesprochen waren, habe ich so weit als thunlich in das schon benutzte Gewand gekleidet und es sind so, nicht ohne Absicht, zahlreiche Anklänge an andere Veröffentlichungen aus dem Gebiet der theoretischen Chemie entstanden.
Mehr als ein Menschenalter ist verstrichen seit mein Vorgänger auf dem Lehrstuhl der Chemie, der für die chemische Geologie so verdiente B i s c h o f f , das hohe Amt bekleidete, welches das wohlwollende Vertrauen meiner Collegen für das beginnende Studienjahr in meine Hände gelegt hat. Seit jener Zeit hat die Chemie tiefgreifende Aende-[904]rungen erfahren, und auch ihre Stellung auf den deutschen Hochschulen ist eine wesentlich andere geworden.
Damals hatte eine allgemeine Entmuthigung grade die am meisten tonangebenden Chemiker erfasst. Weil ganze Kategorien von Thatsachen weder untereinander, noch mit den allgemein theoretischen Ansichten jener Zeit in Uebereinstimmung gebracht werden konnten, glaubte man alle Speculation aus der Chemie verbannen und namentlich allen atomistischen Betrachtungen entsagen zu müssen.
Damals wurde die Chemie auf unseren Hochschulen meist nur vom Katheder gelehrt; vielfach von Lehrern, die wesentlich für andere Fächer berufen waren. Auf den meisten Universitäten konnte die Jugend nur durch Gunst der Lehrer zu praktischen Arbeiten zugelassen werden, und selbst L i e b i g ' s Laboratorium in Giessen, das erste aller Unterrichtslaboratorien, erhielt erst grade damals seine innere Einrichtung.
Wie anders jetzt.— Ihrer Aufgabe und ihrer Ziele bewusst, schreitet die wissenschaftliche Chemie, in engem Anschluss an die Physik, zwar langsam, aber mit Selbstvertrauen und einer gewissen Sicherheit, vorwärts.
Jede Universität hat einen besonderen Lehrstuhl der Chemie, viele sogar mehrere. Reich ausgestattete Laboratorien und vielfach luxuriöse Gebäude stehen auf nahezu allen deutschen Universitäten dem chemischen Unterricht zur Verfügung, und die chemischen Vorträge gehören fast überall zu den am meisten besuchten.
Alles dies und auch der Umstand, dass es grade dem Chemiker vergönnt ist, heute als Vertreter der Gesammtuniversität von dieser Stelle zur gesammten Universität zu reden, beweist wohl, dass unsre Wissenschaft die verdiente Anerkennung jetzt im Allgemeinen gefunden hat. Aber so wie sie von mancher Seite überschätzt wird, so wird von andrer Seite, selbst jetzt, ihre wissenschaftliche Berechtigung noch öfter in Zweifel gezogen. Während der Laie, der gelegentlich ein chemisches Experiment gesehen oder von den grossartigen Anwendungen der Chemie auf die Praxis gehört hat, die Chemie für die schönste aller Wissenschaften erklärt, obgleich er von ihren wissenschaftlichen Zielen sich keinerlei Vorstellung zu machen vermag, neigen andrerseits einseitige Vertreter so genannt humanistischer Fächer, indem sie ebenfalls die Anwendungen der Chemie mit ihrer wissenschaftlichen Aufgabe verwechseln, zu der unberechtigten Ansicht, die Chemie gehöre doch [905] eigentlich auf die Polytechniken, nicht aber auf die universitas litterarum.
Die Verbreitung derartiger irriger Auffassungen macht es dem Chemiker zur Pflicht, als Vertheidiger der Wissenschaft aufzutreten, deren Vertretung ihm obliegt, und man wird es daher wohl gerechtfertigt finden, wenn ich heute die wissenschaftliche Stellung der Chemie und ihre Betheiligung an den großen Fortschritten des Gesammtwissens Ihnen darzulegen mich bemühe.
Man hat die Chemie vielfach als Schwester der Physik bezeichnet, und in der That sind beide Disciplinen so eng verwandt, und ihre Gebiete berühren sich so nahe, dass der Laie den Unterschied nicht zu verstehen und auch der Fachmann nur schwer die Grenzen festzustellen vermag.
Die Chemie bildet mit der Physik diejenige Gruppe naturwissenschaftlicher Disciplinen, die man als a l l g e m e i n e N a t u r w i s s e n s c h a f t bezeichnen kann, insofern das Vorkommen der Studienobjecte für sie unwesentlich ist und die von ihnen erkannten Gesetze überall Geltung haben. Astronomie, Geographie, Geologie, Botanik und Zoologie (die letztere mit Einschluss jener specielleren, vom Menschen handelnden Disciplinen, die den wissenschaftlichen Theil der Medicin bilden), alle diese Disciplinen, die man als s p e c i e l l e N a t u r w i s s e n s c h a f t zusammenfassen sollte, sind an gewisse Kreise von Studienobjecten gebunden, und die von ihnen erkannten Wahrheiten haben nur für diese Kreise Geltung. Selbst jene Verallgemeinerung der sogenannten organischen Naturwissenschaften, die man als Biologie bezeichnet, wird eine allgemeine Naturwissenschaft nicht wohl genannt werden können, denn wenn es überhaupt anderwärts als auf der Erde etwas giebt, was mit dem, was wir hier Leben nennen, Aehnlichkeit hat, so liegt doch geringe Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass die Gesetze des irdischen Lebens auf jenes Leben andrer Welten sich werden übertragen lassen.
Die gemeinsame Aufgabe der a l l g e m e i n e n N a t u r w i s s e n s c h a f t — der Physik und Chemie also — ist die Erforschung der Materie, ihrer Eigenschaften, ihrer Aenderungen und der Gesetze dieser Aenderungen; und die von ihnen erkannten Gesetze müssen überall da anwendbar sein, wo es überhaupt Materie giebt.
Was nun den U n t e r s c h i e d zwischen P h y s i k und C h e m i e angeht, so fällt es bei oberflächlicher Betrachtung auf, dass die heutige Physik in mehr allgemeiner Weise die Eigenschaften und Eigenschafts- [906] änderungen der Körper behandelt, und dabei die einzelnen Körper nur als Träger der Eigenschaften in den Kreis der Betrachtung zieht; während die Chemie grade die einzelnen in ihrem Stoff verschiedenen Körper studirt, indem sie die Eigenschaften meist nur insofern berührt, als sie zum Signalement der Körper nothwendig erscheinen. Man könnte geneigt sein, auf diese Unterschiede eine Definition der beiden Disciplinen zu begründen. Bei tieferem Eindringen zeigt sich, dass die wesentlichen Unterschiede anderswo zu suchen sind.
Von allen Vorstellungen, die der menschliche Geist über das Wesen der Materie bisher sich zu bilden vermochte, hat nur die Annahme d i s c r e t e r Massentheilchen, also die a t o m i s t i s c h e H y p o t h e s e , zu einer verständlichen Erklärung der Thatsachen geführt. Wenn auch Niemand, der den wissenschaftlichen Discussionen der neuesten Zeit gefolgt ist, in Abrede stellen kann, dass das Streben des naturwissenschaftlichen Denkens gerade jetzt wieder darauf hingeht, die Verschiedenheiten der Stoffe auf dynamische Ursachen zurückzuführen, so wird doch jedenfalls das zugegeben werden müssen, dass d e r m a l e n nur aus der Atomtheorie die beobachteten Thatsachen sich als nothwendige Folgen ableiten lassen. Darüber dürften jedenfalls Physiker und Chemiker einig sein. Und wenn selbst moderne Vertreter der speculativen Philosophie der Ansicht beistimmen, dass alles Naturerkennen in letzter Instanz auf Mechanik der Atome ziele, so wird man wohl innerhalb der Naturwissenschaften die Atomtheorie v o r l ä u f i g als Grundlage weiterer Betrachtungen benutzen und, f ü r j e t z t w e n i g s t e n s , auch der Definition der einzelnen Zweige der Naturwissenschaft zu Grund legen dürfen, sei es auch nur, um von dem Inhalt und den Grenzen ihrer Gebiete sich klarere Rechenschaft zu geben.
Die Summe aller in Betreff der Materie erworbenen Kenntnisse hat nun zu folgenden G r u n d - S ä t z e n der Atomtheorie geführt.
Man muss sich vorstellen, die Materie bestehe aus kleinen, in ihrem Stoff einheitlichen und auch bei chemischen Vorgängen nicht mehr weiter spaltbaren Theilchen, aus A t o m e n. Diese Atome häufen sich, vermöge der ihnen innewohnenden oder der auf sie einwirkenden Kräfte, zusammen, und erzeugen so Atomsysteme, oder M o l e k e l n. Im gasförmigen Zustand bewegen sich solche Molekeln als isolirte Wesen im Raum, in den anderen Aggregatzuständen macht sich eine Anziehung auch der Molekeln geltend und so entstehen die M a s s e n , welche direct auf unsre Sinne zu wirken vermögen. [907]
Wenn diese Vorstellung über das Wesen der Materie zu Grund gelegt wird, so wird man die Chemie als die W i s s e n s c h a f t d e r A t o m e und die Physik als die W i s s e n s c h a f t d e r M o l e k e l n definiren dürfen, und es liegt dann nahe, denjenigen Theil der heutigen Physik, der von den M a s s e n handelt, als besondere Disciplin loszulösen und für ihn den Namen M e c h a n i k zu reserviren. Die Mechanik erscheint so als Grundwissenschaft der Physik und der Chemie, insofern beide ihre Molekeln und resp. Atome bei gewissen Betrachtungen und namentlich Rechnungen als Massen zu behandeln haben. Mechanik, Physik und Chemie aber sind Grundlagen aller speciellen Naturwissenschaften, denn es ist einleuchtend, dass alle Veränderungen, gleichgültig, ob sie im grossen Kosmos oder im Mikrokosmos des Pflanzen- oder Thierkörpers vorgehen, nur mechanischer, physikalischer oder chemischer Art sein können.
Daraus nun, dass es die Chemie mit dem Studium der Atome zu thun hat, also der Bausteine, aus welchen sich die Molekeln zusammensetzen, die die Physik als Ganzes behandelt, ergiebt sich direct, dass die theoretische Forschung der Chemie mehr Schwierigkeiten bietet als die der Physik, und dass die theoretische Chemie nach gewissen Richtungen hin erst fortschreiten kann, wenn die theoretisch-physikalischen Kenntnisse hinlänglich ausgebildet sind. Der verhältnissmässig niedere Stand der theoretischen Chemie erscheint nicht nur verzeihlich, sondern natürlich, und es wird verständlich, warum die theoretisch- chemische Forschung sich vorläufig wesentlich der Bearbeitung derjenigen Fragen zugewandt hat, die von der Physik mehr oder weniger unabhängig sind. So erklärt es sich, warum die c h e m i s c h e D y n a m i k ein noch nahezu unbebautes Feld ist, auf welchem das in unübersehbarer Menge angehäufte Material eine theoretische Bearbeitung bis jetzt nicht finden konnte, während auf dem Gebiet der c h e m i s c h e n S t a t i k reife oder wenigstens entwickelte Früchte in reichlicher Anzahl geerntet wurden.
Dass die Chemie und dass die Chemiker, nach dieser Richtung hin, nicht unwesentlich zur Förderung der allgemeinen Atomlehre, also zur Förderung unsrer Kenntnisse über die Natur der Materie beigetragen haben, wird sich unschwer zeigen lassen.
Seit der, so weit wie wir wissen, ersten Begründung wissenschaftlicher Naturbetrachtung durch D e m o c r i t sind die elementarsten Sätze der Theorie der Materie dieselben geblieben. "Aus Nichts wird [908] Nichts; nichts was ist kann vernichtet werden; alle Veränderung ist nur Verbindung oder Trennung von Theilchen." Aber die atomistische Theorie des Alterthums war mehr ein Vorläufer der Ansichten, die wir jetzt in der Physik als Moleculartheorie bezeichnen, sie enthielt, selbst in ihrer weiteren Entfaltung, keinen Grundgedanken einer speciell chemischen Theorie.
Der erste Fundamentalsatz der wissenschaftlichen Chemie wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts von dem Chemiker B o y l e ausgesprochen, der zuerst den Begriff des c h e m i s c h e n E l e m e n t e s a l s d e s n i c h t w e i t e r i n m a t e r i e l l V e r s c h i e d e n e s S p a l t b a r e n feststellte. Mögen immerhin manche, und vielleicht alle die Körper, die wir jetzt für chemische Elemente ansehen, durch die Fortschritte der Erkenntniss als chemisch zerlegbar erkannt werden,— wofür indessen keinerlei thatsächliche Andeutung vorliegt —; der B e g r i f f des chemischen Elementes wird immer bestehen bleiben.
Mit diesem Begriff des Elementes trat dann jene alte Vorstellung von der Unzerstörbarkeit der Materie in Verbindung, und so entstand der weitere Fundamentalsatz der Chemie von der Unwandelbarkeit der Elemente, der seit L a v o i s i e r ' s berühmten Versuchen über die vielbehauptete Umwandlung von Wasser in Erde nicht mehr bestritten worden ist, und der in allen chemischen Thatsachen seine Bestätigung findet.
Aus diesen Ansichten erwuchs zu Beginn des 19. Jahrhunderts die c h e m i s c h e A t o m t h e o r i e , als deren Begründer mit Recht der englische Chemiker D a l t o n angesehen wird. Denn während nach Democrit die Verschiedenheit aller Dinge von der Verschiedenheit ihrer Atome an Zahl, Grösse, Gestalt und Ordnung herrührt, eine q u a l i t a t i v e Verschiedenheit der Atome aber nicht stattfindet, nahm Dalton zuerst in bestimmter Weise die Existenz q u a l i t a t i v v e r s c h i e d e n e r Elementaratome an. Er, zuerst, schrieb diesen qualitativ verschiedenen Atomen bestimmte, für die verschiedenen Elemente c h a r a k t e r i s t i s c h e G e w i c h t e zu; er zeigte zuerst, dass diese relativen A t o m g e w i c h t e durch chemische Studien ermittelt werden können.
Wie der Begriff des chemischen Elementes, so wird auch der Begriff des chemischen Atoms, a l s d e r d u r c h c h e m i s c h e V o r g ä n g e n i c h t w e i t e r s p a l t b a r e n M e n g e e l e m e n t a r e r M a t e r i e , immer bestehen bleiben. Für die Chemie ist die Frage, ob die chemischen Atome ursprünglich einheitliche und absolut untheilbare Wesen [909] seien, von keinem Belang. Mag immerhin der Nachweis geliefert werden, dass die chemischen Atome aus Theilchen feinerer Ordnung gebildet sind, oder mag die von William Thomson begründete Theorie der Wirbelringe, oder irgend eine ähnliche Vorstellung, die die Atome als aus continuirlicher Materie entstanden auffasst, durch die Fortschritte der Erkenntniss ihre Bestätigung finden, der Begriff der chemischen Atome wird dadurch nicht aufgehoben. Der Chemiker wird eine Erklärung seiner Einheiten stets mit Freude begrüssen, denn die Chemie bedarf nur zunächst, nicht aber zuletzt der Atome.
Dalton's Atomtheorie litt nun gleich von Anfang an einer gewissen Unvollkommenheit, die darin bestand, dass sie sowohl von elementaren als von zusammengesetzten Körpern von Atomen sprach, und die Begriffe von Atom und Molekel nicht schied. Aus dieser Unklarheit erwuchs für die nächste Zeit, in welcher die Fundamente der chemischen Wissenschaft ausgebaut werden mussten, kein wesentlicher Nachtheil, aber sie rief später, als der Bau sich weiter entfalten sollte, beträchtliche Verwirrung hervor.
Zwar stellte schon 1811 A m a d e o A v o g a d r o den Satz auf: gasförmige Substanzen enthielten in gleichen Räumen eine gleiche Anzahl von Molekeln, und die Molekeln bestünden selbst bei elementaren Substanzen aus mehreren Atomen, und der französische Physiker A m p è r e kam 1814 zu denselben Vorstellungen; aber diese für später so fruchtbringende Idee fand zunächst wenig Beachtung. Sie führte in ihrer Anwendung zu damals unlösbar scheinenden Widersprüchen, und sie wurde deshalb, obgleich der grosse Chemiker D u m a s sie längere Zeit seinen Betrachtungen zu Grund gelegt hatte, verlassen. Mehr als das, sie wurde vergessen, bis vierzig Jahre später der italienische Chemiker C a n n i z z a r o die Verdienste seines Landsmanns den Fachgenossen in's Gedächtniss zurückrief.
Inzwischen waren z u n ä c h s t die Chemiker und s p ä t e r auch die Physiker, von neuen und völlig unabhängigen Gesichtspunkten aus, zu ganz denselben Vorstellungen gelangt.
Die Chemiker, L a u r e n t und G e r h a r d t an der Spitze, wurden durch r e i n c h e m i s c h e Betrachtungen, und wesentlich durch Gründe der Systematik, dazu geführt, die Begriffe von Atom und Molekel scharf zu unterscheiden und Methoden aufzufinden, welche, i n d e r V e r v o l l k o m m n u n g, d i e s i e j e t z t e r f a h r e n h a b e n , für alle genauer untersuchten Substanzen die Bestimmung der relativen Gewichte der [910] Atome und der Molekeln und selbst der a b s o l u t e n Anzahl der Atome in den Molekeln durch Discussion rein chemischer Thatsachen möglich machen. Sie gelangten, unter Anderem, zu dem Resultat: die Molekeln auch der Elemente bestünden in der Regel aus zwei Atomen.
In der Physik aber führte die m e c h a n i s c h e W ä r m e t h e o r i e dazu, dem Grundgedanken der Avogadro'schen Hypothese eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit zuzuerkennen; und als unser berühmter College C l a u s i u s im Verlauf seiner klassischen Untersuchungen zu der Vorstellung gelangt war, auch bei den Elementen seien mehrere Atome zu einer Molekel verbunden, da konnte er seine Befriedigung darüber aussprechen, dass die Chemiker v o r i h m auf völlig verschiedenen Wegen schon zu denselben Resultaten gelangt seien.
Nachdem so Avogadro's Hypothese über die Natur der Gase zur Anerkennung gekommen war und man somit aus den specifischen Gewichten der Gase die relativen Gewichte der Gaspartikeln herleiten konnte; nachdem man andrerseits gelernt hatte, durch chemische Betrachtungen die relativen Gewichte der chemischen Molekeln festzustellen; da ergab sich, dass beide Werthe zusammenfallen, und man kam so zu der ihrer Einfachheit wegen ohnedies wahrscheinlichen, aber doch vorher nicht nothwendigen Vorstellung, dass die G a s p a r t i k e l n mit den c h e m i s c h e n M o l e k e l n identisch seien, dass also die Wärme die Materie bis zu den chemischen Molekeln zu zerstäuben vermag.
Eine wesentliche Erweiterung erfuhr der c h e m i s c h e T h e i l der Atomtheorie vor etwa zwanzig Jahren durch die von Chemikern aufgestellte Hypothese, die als Theorie vom c h e m i s c h e n W e r t h der Atome bezeichnet worden ist. In ihrem Grundgedanken besagt diese Hypothese nur, dass den Atomen n e b e n dem charakteristischen Atomgewicht, welches die Veranlassung davon ist, dass sich die Elemente in bestimmten G e w i c h t s v e r h ä l t n i s s e n vereinigen, noch eine w e i t e r e Grundeigenschaft zukommen müsse, die es bedingt, dass sich die A t o m e gerade n a c h d e r A n z a h l mit einander verbinden, nach welcher sie es thun. Da man sich von dieser Grundeigenschaft zunächst keine klare Vorstellung zu machen vermochte, so hat man einfach den materiell verschiedenen Atomen eine bestimmte Anzahl chemischer Anziehungseinheiten zugeschrieben, und sie danach als 1-, 2-, 3- oder 4-werthig bezeichnet.
Diese Hypothese vom chemischen Werth der Elementaratome bietet nun freilich noch manche dunkle Punkte, aber sie hat doch zur Erkennt- [911] niss eines Gesetzes geführt, welches nicht nur für die Chemie, sondern für die gesammte Atomtheorie von fundamentaler Bedeutung ist, und welches die Chemiker als Gesetz d e r V e r k e t t u n g d e r A t o m e bezeichnen. D i e e i n z e l n e n A t o m e e i n e r M o l e k e l s t e h e n n i c h t a l l e m i t a l l e n o d e r a l l e m i t e i n e m i n V e r b i n d u n g , j e d e s h a f t e t v i e l m e h r n u r a n e i n e m o d e r a n w e n i g e n N a c h b a r a t o m e n , s o w i e i n d e r K e t t e G l i e d a n G l i e d s i c h r e i h t.
Dabei ist es einleuchtend, dass die Atome innerhalb der Molekeln sich in fortwährender B e w e g u n g befinden, und wenn auch über die Art dieser Bewegung Nichts Bestimmtes bekannt ist, so ergiebt sich doch aus eben diesem Gesetz der Verkettung, dass die intramoleculare Atombewegung der Art sein muss, dass die einzelnen Atome sich um gewisse Gleichgewichtslagen bewegen, ohne dieselben — so lange die Molekeln chemisch bestehen bleiben — jemals zu verlassen. Die Bewegung der Atome hat also jedenfalls Aehnlichkeit mit derjenigen der Molekeln im festen Aggregatzustand und man kann demnach sagen, d i e M o l e k e l n d e r b e s t e h e n d e n S u b s t a n z e n seien f e s t e A t o m a g g r e g a t e. Ein Bewegungszustand demjenigen ähnlich, den die Molekeln flüssiger Körper besitzen, tritt — und offenbar nur vorübergehend und nur für einzelne Atome — nur bei chemischen Umlagerungen ein, durch welche Molekeln von anderer Atomstructur gebildet werden. Ein solcher Zustand spielt gewiss eine wichtige Rolle nicht nur bei den Gährungserscheinungen, sondern auch bei den chemischen Vorgängen in lebenden Organismen.
Die A r t d e r B e w e g u n g der Atome ist, wie schon gesagt, vorläufig unbekannt. Vielleicht darf sie als eine schwingende aufgefasst werden in der Weise, d a s s d i e i n d e r Z e i t e i n h e i t a u s g e f ü h r t e A n z a h l v o n S c h w i n g u n g e n gerade den chemischen Werth darstellt, und dass in functioneller Schwingung befindliche und vielleicht aneinander anprallende Atome in chemischer Bindung erscheinen. Dann würde der chemische Werth der Atome, mit noch grösserer Wahrscheinlichkeit als bisher, als ein c o n s t a n t e r zu betrachten sein. Man würde immerhin sich vorstellen können, dass mehrwerthige Atome, bei Temperaturen, die für die betreffenden Substanzen u l t r a - h e i s s genannt werden könnten, während einer oder auch mehrerer Schwingungsphasen mit keinem Atom zusammentreffen, indem sie einen Theil ihrer Bewegungsenergie der Molecularbewegung hinzufügen; eine Auf- [912] fassung, die mit der jetzigen Vorstellung ungesättigter Verwandtschaften zusammenfiele. Man würde es weiter für wahrscheinlich halten müssen, dass, bei noch mehr gesteigerter Hitze, auf diesen Zwischenzustand einer partiellen Dissociation der einer totalen Dissociation folgt, bei welchem isolirte Atome sich im Raum bewegen, wie dies für das dampfförmige Quecksilber schon bei leicht erreichbaren Temperaturen nachgewiesen ist.
Das auf die Hypothese vom chemischen Werth begründete Gesetz der Atomverkettung giebt vorläufig nur von der c h e m i s c h e n A n e i n a n d e r r e i h u n g der Atome Rechenschaft, nicht von ihrer r ä u m l i c h e n L a g e und der dadurch veranlassten F o r m d e r M o l e k e l n. Aus den Studien über die Molecularvolume ergiebt sich indessen schon jetzt, dass die Art der Bindung der Atome auf die m i t t l e r e n A t o m a b s t ä n d e von Einfluss ist.
Der Umstand, dass bei isomeren Substanzen der Siedepunkt derjenigen Modification am höchsten liegt, für welche das Gesetz der Verkettung eine gradlinig fortlaufende Kette annimmt, während die Flüchtigkeit um so grösser wird, je mehr Verzweigungen die Kette zeigt, je gedrungener also die Molekel von chemischem Gesichtspunkt aus erscheint; zusammengenommen mit dem an sich wahrscheinlichen Satz, dass die Lage des Schwerpunkts und das Trägheitsmoment der rotirenden Molekel auf die Flüchtigkeit von Einfluss sein müsse; scheint darauf hinzudeuten, dass die Ansichten über die chemische Verkettung der Atome gleichzeitig auch über die m i t t l e r e L a g e d e r s e l b e n i m R a u m e einigen Aufschluss geben. Auch die von E m i l M e y e r ausgeführten Berechnungen der Moleculardurchmesser, Molecularquerschnitte und Molecularvolume scheint dieser Ansicht als Stütze zu dienen. Dadurch steigert sich dann die Wahrscheinlichkeit der von L e B e l ausgesprochenen und von v a n ' t H o f f weiter ausgebildeten Hypothese vom u n s y m m e t r i s c h e n K o h l e n s t o f f, nach welcher die vier Verwandtschaften des Kohlenstoffatoms, die man seither schon tetraedrisch darstellte, auch r ä u m l i c h in tetraedrischer Lage gedacht werden. Eine Hypothese, die zwar vielleicht nicht das unbedingte Lob verdient, welches Wislicenus ihr gezollt hat, aber jedenfalls noch weniger den herben Spott, welchen Kolbe über sie hat ergiessen wollen.
Die Hypothese vom chemischen Werth führt weiter noch zu der Annahme, dass auch eine beträchtlich grosse Anzahl von Einzelmolekeln sich durch mehrwerthige Atome zu n e t z - und, wenn man so sagen will, [913] s c h w a m m a r t i g e n M a s s e n vereinigen könne, um so jene der Diffusion widerstrebenden M o l e c u l a r m a s s e n zu erzeugen, die man, nach G r a h a m ' s Vorschlag, als c o l l o i d a l bezeichnet. Dieselbe Hypothese führt in natürlichster Weise zu der von unserem genialen Collegen P f l ü g e r schon ausgesprochenen Ansicht, dass eine solche Molecular-anhäufung noch weiter gehen und so die F o r m e l e l e m e n t e der lebenden Organismen bilden könne. M a s s e n - m o l e k e l n, von welchen man vielleicht die weitere Annahme machen darf, dass sie, durch fortwährende Umlagerung mehrwerthiger Atome, einen steten Wechsel der verknüpften Einzelmolekeln zeigen, so dass sich das Ganze — und selbstverständlich unter Elektricitätserregung — in einer Art von Leben befindet, indem überdiess, da und dort, durch ebensolche Umlagerung, naheliegende Molekeln in den Kreis der Verknüpfung hineingezogen und neu gebildete ausgeschieden werden. Es hiesse indessen den Boden des Thatsächlichen allzusehr verlassen, wollte man derartige Speculationen schon jetzt weiter verfolgen.
Ueber die N a t u r d e r K r a f t, welche die Vereinigung der Atome hervorbringt, sind wirklich fruchtbringende Hypothesen bis jetzt nicht aufgestellt worden. Die von dem grossen B e r z e l i u s in so geistreicher Weise entwickelte e l e k t r o c h e m i s c h e T h e o r i e , von welcher man während Jahrzehnten glaubte, sie werde zu einer befriedigenden Erklärung der chemischen Thatsachen und zu deren Verknüpfung mit den physikalischen Erscheinungen führen, hat sich als unzulänglich erwiesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie in einer demnächstigen Entwicklungsperiode der Wissenschaft wieder aufgegriffen werden, um dann, in verjüngter Form, auch Früchte zu bringen.
Jedenfalls ist neben dem c h e m i s c h e n W e r t h , der die A n z a h l der sich bindenden Atome bedingt, noch die s p e c i f i s c h e I n t e n s i t ä t zu berücksichtigen, mit welcher diese Bindung geschieht. Dabei muss angenommen werden, dass die zu einer Molekel vereinigten, also in Bezug auf ihren Werth gesättigten Atome nicht nur aufeinander, sondern auch auf Atome benachbarter Molekel Anziehung ausüben, und dass so eine M o l e c u l a r - A t t r a c t i o n zu Stande kommt, die durch die Anziehung der Einzel-Atome veranlasst und demnach durch deren Qualität bedingt ist. Nur so erklärt sich der Vorgang bei chemischen Zersetzungen und die Existenz jener endlosen Anzahl complicirterer Dinge, die man als M o l e c u l a r a d d i t i o n e n oder als Molekel h ö h e r e r O r d n u n g auffasst. Dieselbe Ursache spielt unstreitig eine [914] Rolle bei den sogenannten M a s s e n w i r k u n g e n und k a t a l y t i s c h e n Zersetzungen. Auf sie ist die Bildung der L ö s u n g e n zurückzuführen, die man bisher als chemische Verbindungen nach wechselnden Verhältnissen bezeichnete, und die jetzt zweckmässiger m o l e k u l a r e G e m e n g e genannt werden. Dieselbe Grundursache veranlasst weiter die Erscheinungen der Cohäsion, der Adhäsion und der Capillarität, und es will also scheinen, als ob die Annahme besonderer Molecularkräfte in keiner Weise mehr nöthig sei.
Da aber die Anziehung der Atome abhängig ist von ihrer Q u a l i t ä t , so ist es ausserdem klar, dass die durch solche Atomanziehung veranlasste Molecular-Attraction in geeigneten Bedingungen ein O r i e n t i r e n aller sich aneinander fügenden Molekeln erzeugen und so zu Körpern von regelmässiger Molecalar-Structur, also zu K r y s t a l l e n führen muss.
Die Frage endlich, ob die Eigenschaften der Atome abhängig seien von ihrem G e w i c h t , hat die Chemiker der Neuzeit vielfach beschäftigt. Sichere und in wenig Worten klar zu legende Resultate sind noch nicht gewonnen worden, aber nach den von L o t h a r M e y e r und M e n d e l e j e f f angestellten Betrachtungen will es scheinen, als ob nicht nur die c h e m i s c h e n Eigenschaften und speciell der chemische Werth der Atome und die Intensität der gegenseitigen Bindung, sondern auch die p h y s i k a l i s c h e n Eigenschaften, die jetzt noch für die stofflich verschiedenen Dinge als C o n s t a n t e n behandelt werden, eine Function, und zwar eine p e r i o d i s c h e F u n c t i o n des Atomgewichts seien. Die mathematische Form dieser Function dürfte allerdings eigenthümlicher Art sein, aber das Eine scheint sicher, dass der Z a h l e n w e r t h d e s A t o m g e w i c h t s d i e V a r i a b l e i s t , d u r c h w e l c h e d i e s u b s t a n t i e l l e N a t u r u n d a l l e v o n i h r a b h ä n g i g e n E i g e n s c h a f t e n b e s t i m m t w e r d e n.
Somit scheint jetzt wieder Hoffnung vorhanden, dass es gelingen werde, a l l e Eigenschaften der Materie, mit Einschluss der Schwere, auf e i n e und dieselbe Kraft zurückführen.
Die Berechtigung aller solcher Speculationen in den exacten Wissenschaften ist nun vielfach bestritten worden. Man giebt wohl allgemein zu, dass das Aufstellen von Hypothesen auf dem der exacten Forschung zugänglichen Gebiet, als Methode der Forschung, insofern zweckmässig sei, als es oft das Fortschreiten des exacten Wissens zu beschleunigen vermöge. Aber man ist dabei häufig der Meinung, über eine gewisse [915] Grenze hinaus seien Speculationen nicht zulässig. Man hat namentlich den wissenschaftlichen Werth aller atomistischen Betrachtungen von jeher und auch in neuester Zeit vielfach angezweifelt. Man hat besonders behauptet, dass die Annahme der Atome keine Eigenschaft der Körper erkläre, die man nicht vorher den Atomen selbst beigelegt habe.
Man muss zugeben, dass derartige Einwände manches Wahre enthalten, aber gerade desshalb scheint es nöthig, sich von der Grenze ihrer Richtigkeit Rechenschaft zu geben.
Dass die Resultate exacter Beobachtung den Werth von Thatsachen besitzen, also denjenigen Grad von Sicherheit, den das menschliche Erkennen überhaupt erreichen kann, wird allgemein anerkannt. Es ist weiter unbestritten, dass allen denjenigen Gesetzen, die, unabhängig von Hypothesen über die Natur der Materie, aus den Thatsachen abgeleitet sind, nahezu dieselbe Sicherheit zukommt, wie den Thatsachen selbst. Ebenso unbestreitbar ist es aber, dass der menschliche Geist in der positiven Erkenntniss des Thatsächlichen keine volle Befriedigung findet, und dass desshalb die Naturwissenschaften noch ein weiteres, höheres Ziel zu verfolgen haben: d a s d e r E r k e n n t n i s s d e s W e s e n s d e r M a t e r i e u n d d e s u r s ä c h l i c h e n Z u s a m m e n h a n g s a l l e r E r s c h e i n u n g e n.
Das Wesen der Materie aber entzieht sich jedem directen Studium. Es kann nur aus den unsrer Beobachtung zugänglichen Erscheinungen erschlossen werden. Und somit ist es einleuchtend, dass es eine bestimmte und überdies durch den jeweiligen Stand des Wissens beeinflusste Grenze giebt, über welche hinaus die positive Forschung den Boden verliert und nur für die speculative noch Bahn bleibt.
Wenn also auch der Einzelne, seiner inneren Natur entsprechend, sich mit positiver Forschung begnügen und auf speculative Verzicht leisten mag, so ist es doch klar, dass der Wissenschaft als solcher dies nicht gestattet ist.
Auf dem Weg der Hypothese müssen, auf Grundlage des thatsächlich Erkannten, Vorstellungen über die Natur der Materie gebildet, die Consequenzen dieser Vorstellungen müssen logisch und wenn erforderlich, unter Zuziehung der Rechnung entwickelt, und die Resultate dieser Theorien müssen mit den der Beobachtung zugänglichen Erscheinungen verglichen werden.
Die v o l l e Wahrheit wird sich in dieser Weise freilich nie erreichen lassen, oder es wird wenigstens niemals Gewissheit dafür vorhanden [916] sein, dass unsere Vorstellungen mit der Wahrheit wirklich zusammenfallen. Die an sich einfachste Vorstellung aber, die in einfachster Weise die grösste Anzahl und schliesslich alle Erscheinungen deutet, wird nicht nur für die beste und wahrscheinlichste zu halten sein, man wird sie sogar als relativ, und, man darf sagen, als menschlich wahr bezeichnen müssen.
Damit ist wohl die wissenschaftliche Berechtigung der speculativen Forschung auch in den sogenannten exacten Wissenschaften nachgewiesen, denn über eine gewisse Grenze hinaus hören dieselben eben auf exact zu sein.
Gleichzeitig aber ist auch der wissenschaftliche Werth der jetzigen Atomtheorie dargethan, denn es ist unbestritten, dass dieselbe, selbst in ihrer jetzigen, noch ausnehmend unvollständigen Form, besser als irgend eine andere Vorstellung von einer ungemein grossen Anzahl von Thatsachen befriedigende Rechenschaft giebt.
Eines weiteren Ausbau's, und auch eines tieferen Unterbau's, wird sie sicher bedürfen; aber es liegt dermaßen wenig Wahrscheinlichkeit dafür vor, dass sie von wesentlich verschiedenen Vorstellungen völlig werde verdrängt werden.
Der Chemie speciell, und mehr noch den Chemikern, sind nun — und seit Baco von Verulam's Zeiten — noch andre Vorwürfe gemacht worden; und selbst der Chemiker kann es nicht läugnen, nicht ganz mit Unrecht.
Man hat ihr vorgeworfen, sie mache mit Willkühr zahllose Einzelhypothesen, die weder untereinander noch mit dem Ganzen in Zusammenhang stünden; sie überschätze den Werth der Hypothesen, indem sie selbst wenig berechtigten allzugrosse Sicherheit zuschreibe und sie gradezu als thatsächlich erwiesen behandle; und endlich, sie erhebe ihre Hypothesen allmälig zu Glaubensartikeln und verfolge als Ketzer Jeden, der gegen das Dogma verstosse.
Die neuere Zeit hat auch in dieser Hinsicht eine erhebliche Besserung gebracht. Die Berechtigung und der Werth der Hypothesen sind auch in der Chemie anerkannt, gleichzeitig aber ist der wahre Werth der Hypothesen auch von den Chemikern erkannt worden.
Wie auf allen Gebieten des Wissens, so ist auch in der Chemie der Autoritätsglauben gebrochen und dadurch schon die Gefahr des Dogmatisirens gemindert. Und sollte etwa ein Einzelner, der mit seinen Ansichten gealtert, der fortschreitenden Wissenschaft sein Dogma als [917] Hemmschuh anzulegen versuchen, so wird er stets die strebsame Jugend, die Vertreterin der Zukunft, bereit finden, unberechtigte Hindernisse hinwegzuräumen. Sollten Andre, grade im Feuereifer der Jugend, gewagte Phantasiegebilde für wissenschaftliche Hypothesen anzusehen und auszugeben geneigt sein, so werden die an sich oder durch die reifere Erfahrung des Alters Gemässigten stets die Verpflichtung fühlen als Regulatoren einzugreifen.
Die Schule der selbstständig und dabei ruhig Denkenden hat jetzt auch unter den Chemikern so viele Vertreter, dass eine stetige Entwicklung der Wissenschaft in sicherer Aussicht steht und ein Ueberwuchern durch Unkraut nicht mehr zu befürchten ist. Auch in der Chemie ist man jetzt der Continuität menschlicher Geistesarbeit sich bewusst; die gegenwärtige Generation blickt nicht mehr mit verächtlicher Geringschätzung auf die Arbeit der Vorgänger; weit davon entfernt sich selbst für unfehlbar zu halten, weiss sie, dass es zu jeder Zeit der Zukunft vorbehalten bleibt, das Werk der Generationen weiter zu führen.