Drei frühe gestalttheoretische Beiträge zur Krankheitslehre
Psychische Störungen im Ich-Welt-Verhältnis.
Gestalttheorie und psychotherapeutische
Krankheitslehre.
In mehreren Teilen präsentiert von Rudolf Sponsel,
Erlangen
Internet-Erstausgabe Teil 1, 14.07.2002, Letztes Update
TT.MM.JJ
Der folgende Beitrag der Gestalttheorie zu psychopathologisch wichtigen
Phänomenen erscheint mir so interessant, daß ich auf die Ideen,
Modelle und Konstruktionen im Laufe Zeit näher und tiefer eingehen
möchte. Hier zunächst Teil 1:
Die beiden anderen frühen gestalttheoretischen Arbeiten in diesem Band stammen von Erwin LEVY, einem Assistenten und Mitarbeiter von Max WERTHEIMER: Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen (1936) und Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung (1943) [RS-Intern]. Im Gefolge der durch den Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland erzwungenen Emigration von LEVY in die USA erschienen diese beiden Aufsätze ursprünglich in englischer Sprache. Sie sind hier nun in deutscher Übersetzung zugänglich. [> S. 6]
An diese drei frühen Beiträge, insbesondere an den von Heinrich SCHULTE, knüpfte 1995-97 in der Sektion Psychotherapie der Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen (GTA) [FN-S6-1] eine Diskussion um die Aktualität der gestalttheoretischen Thesen zur Entstehung und Heilung psychischer Störungen an. Diese Diskussion bildet den zweiten Teil dieses Buchs.
Dem Abdruck dieser Diskussionsbeiträge ist die deutsche Übersetzung eines Kommentars von E. LEVY zu den WERTHEIMER-SCHULTE-Thesen vorangestellt. Dieser Kommentar des gestalttheoretisch orientierten Psychoanalytikers LEVY entstand 1986 im Zusammenhang mit seiner Übersetzung des Aufsatzes von SCHULTE ins Englische für die Gestalt Theory (bis dahin lag der Beitrag von SCHULTE in englischer Sprache nur in einer auszugsweisen Übersetzung im Sammelband Source Book of Gestalt Psychology 1938 vor).
1995 griff Michael RUH den Ansatz SCHULTEs in einem Vortrag bei der 9. Wissenschaftlichen Arbeitstagung der GTA in Osnabrück erneut auf. Eine bearbeitete Fassung dieses Vortrags ist in diesem Band unter dem Titel Phänomenale Ordnung bei psychischen Störungen enthalten. An der durch diesen Vortrag und seine Veröffentlichung ausgelösten Diskussion beteiligten sich mit kritischen und weiterführenden Beiträgen und Kommentaren Abraham S. LUCHINS (Troy/ NY, USA), Daniel J. LUCHINS (Chicago, USA), Michael RUH (Frankenberg, D), Marianne SOFF (Karisruhe, D), Gerhard STEMBERGER (Purkersdorf u. Wien, A), Paul THOLEY (Frankfurt, D) und Peter VITECEK (Wien, A). Ergänzend zum Beitrag von A. S. LUCHINS sind in diesem Band darüber hinaus Auszüge aus Max WERTHElMERs Seminaren an der New School for Social Research, New York, in deutscher Ubersetzung enthalten, aus denen hervorgeht, in welcher Weise Max WERTHEIMER in den USA auf die SCHULTE-Thesen Bezug nahm.
Im Anhang zu diesem Band geben eine Kurzbiographie und Bibliographie zu Heinrich SCHULTE von Gerda ENGELBRACHT (Bremen, D) und eine Biographische Notiz und Biblingraphie zu Erwin LEW von Gerhard STEMBERGER Einblick in Leben und Werk der beiden Autoren der hier vorgestellten frühen gestalttheoretischen Arbeiten zur Psychopathologie. Informationen zu den Autoren der weiteren Beiträge und das Literaturverzeichnis beschließen diesen Band."
Gerhard STEMBERGER, Zur Einführung
Übersichts-Beitrag 5
Gerhard STEMBERGER, Gestalttheoretische Beiträge zur Psychopathologie 7
Drei frühe gestalttheoretische Beiträge zur Krankheitslehre
Heinrich SCHULTE, Versuch einer Theorie der paranoischen Eigenbeziehung
und Wahnbildung 27
Erwin LEVY, Ein Fall von Manie und seine sozialen Implikationen
49
Erwin LEVY, Einige Aspekte der schizophrenen formalen Denkstörung
55
Kommentare und Diskussion zu den WERTHEIMER-SCHULTE-Thesen
Erwin LEVY, Eine Gestalttheorie der Paranoia. Kommentar anläßlich der Übersetzung der WERTHEIMER-SCHULTE-Thesen ins Englische 81
Michael RUH, Phänomenale Ordnung bei psychischen Störungen 91
Paul THOLEY, Die Thesen von RUH / SCHULTE im Lichte des Verständnisses der "Multiple Personality Disorder" 101
Marianne SOFF, Zur Problematik des Wir-Surrogats nach sexuellem Mißbrauch 105
Peter VITECEK, Anmerkungen zu den Thesen der Entstehung von Wahn und endogenen Psychosen 109
Paul THOLEY, Zur Bedeutung der Wir- und Ichhaftigkeit in der Gestalttheoretischen Psychotherapie 113
Gerhard STEMBERGER, Anmerkungen und Vorschläge zur SCHULTE-Kontroverse 129
Abraham S. LUCHINS, Zu SCHULTE, WERTHEIMER und Paranoia Diskussion des Falles des Tataren in Max WERTHEIMERs Seminaren 133
Daniel J. LUCHINS, Einige formiose Anmerkungen eines biologisch orientierten Psychiaters zu SCHULTEs Theorie der Paranoia 141
Michael RUH, Anmerkungen zu den Diskussionsbeiträgen zu SCHULTE: "Versuch einer Theorie der paranoischen Eigenbeziehung und Wahnbildung" 145
Anhang
Gerda ENGELBRACHT, Kurzbiographie und Bibliographie Heinrich SCHULTE 159
Gerhard STEMBERGER, Biographische Notiz und Bibliographie zu Erwin LEVY 167
Über die Autoren 171
Literatur 179
Gestalttheoretische Beiträge zur Psychopathologie [EN-S7-1]
1. Einleitung
Gibt es eine Krankheitslehre der Gestalttheoretischen Psychotherapie? Gibt es eine gestalttheoretische Psychopathologie?
Auf diese Fragen kann man unterschiedliche Antworten geben. Man wird sie mit Nein beantworten, wenn man als Krankheitslehre nur ein mehr oder weniger umfassend ausgearbeitetes Lehrgebäude verstehen will, mit mehr oder weniger festgefügter Klassifikation all dessen, was im psychischen Geschehen als Störung auftreten kann, und mit mehr oder weniger festgefügten Vorstellungen und Modellen über die Entstehung und den Entwicklungsgang dieser Störungen. Man wird sie mit Ja beantworten, wenn man von der Tauglichkeit und Fruchtbarkeit der verschiedenen allgemeinen Teilansätze der Gestalttheorie (METZGER 1986, 134) auch für das Gebiet der Psychopathologie ausgeht und diese zusammen mit der auf ihrer Grundlage bereits geleisteten Arbeit an psychopathologischen Fragestellungen als Gegenentwurf zu anderen Krankheitslehren und zugleich als mögliche Integrationsbasis für richtige Ansätze und Erkenntnisse in diesen anderen Krankheitslehren auffaßt.
Das Charakteristische an diesem Ansatz wird vielleicht schon an der folgenden kleinen Geschichte aus den Anfängen der Gestalttheorie deutlich:
In seiner Zeit in Wien (um 1906) forschte Max WERTHEIMER an der Wiener Neuro-Psychiatrischen Klinik. Deren Direktor, WAGNER-JAUREGG, beauftragte ihn damit, herauszufinden, ob bestimmte Patienten, Kinder (einige davon taubstumm), tatsächlich schwachsinnig wären. WERTHEIMER überprüfte das nicht mit den damals üblichen Tests, sondern indem er den Kindern bestimmte Aufgaben stellte und ihnen für die Lösung dieser Aufgaben möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen suchte (LUCHINS & LUCHINS 1982, S.160f; vgl. auch LUCHINS & LUCHINS 1986, S.16).
Fähigkeiten eines Menschen auf einem bestimmten Gebiet werden von WERTH EIMER also so getestet, daß die Bedingungen untersucht werden, unter denen sie entfaltet werden bzw. unter denen sie nicht zur Entfaltung kommen. Der Mensch wird nicht als Ansammlung fester, unveränderlicher Teileigenschaften oder psychischer Apparaturen betrachtet, die in immer gleicher, festgelegter Weise auf einen äußeren Reiz, auf eine bestimmte Anforderung reagiert. [FN-S7-2] Vielmehr kommt im Vorgehen WERTHEIMERS bereits die für die Gestalttheorie grundlegende Überzeugung zum Ausdruck, daß dem Menschen die Fähigkeit zu geordnetem, der Situation anmessenem Erleben und Verhalten innewohnt, wie gestört und verschüttet diese Fähigkeit in bestimmten Situationen und Konstellationen auch sein mag, und dalli es folglich darauf ankommt, sich mit den Bedingungen zu befassen, die zu schaffen sind, um diese Fähigkeit freizulegen. Zugleich kommt darin auch zum Ausdruck, dals krankes und gesundes Geschehen nicht als grundsätzlich verschieden geartet, von ganz verschiedenen Gesetzmähigkeiten bestimmt angesehen wird, sondern als den gleichen Gesetzen unterliegend, die unter förderlichen Randbedingungen auch in den Dienst der Heilung auf der Grundlage innerer Kräfte gestellt werden können. Macht man sich diese Implikationen von WERTHEIMERS Herangehen an seine damalige Aufgabe für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit voll bewußt, kann man daran unschwer bereits alle wesentlichen Merkmale ablesen, die in den weiteren gestalttheoretischen Ausarbeitungen auch zu Fragen der Psychopathologie entfaltet wurden."
EN-S6-1 In Österreich wird die internationale
Sektion Psychotherapie der GTA durch die Österreichische Arbeitsgemeinschaft
für Gestalttheoretische Psychotherapie (ÖAGP) , in Deutschland
durch die deutsche Arbeitsgemeinschaft für Gestalttheoretische Psychotherapie
(DAGP) vertreten.
EN-S7-1 Überarbeitete Fassung des Vortrags
"Gestalttheorie und Psychopathologie bei der 11. Wissenschafflichen Arbeitstagung
der GTA in Graz, 11.-14.3.1999.
EN-S7-2 Vgl dazu auch WERTHEIMERs (1927) Ausführungen
zur sogenannten "moral insanity" als Schutzreaktion des Kindes gegen eine
inadäquate und ständig verletzende Atmosphäre, deren Symptome
verschwinden können, wenn das Kind wieder in ein passendes Milieu
gebracht wird (vgl. dazu auch SCHERRER 1931, 298).
Gestaltpsychologische
Psychopathologie