Der Kampf um die Medien
Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung
Ein Buchhinweis mit Inhaltsverzeichnis und Leseproben
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Dieter Prokop ist Professor für kritische Medienforschung am Fachbereich Gesellschafts- Wissenschaften - Schwerpunkt Kulturindustrie - der Universität Frankfurt. Er publizierte viele Bücher über Medien. |
In modernen Gesellschaften kommt den Medien in Friedenszeiten die zentrale politische Machtfunktion zu. PolitikerInnen, die gewählt werden wollen, müssen medioform sein. Wer medioform keine gute Figur macht, hat wenig Chancen. PolitikerInnen werden daher in den modernen mediokratischen Gesellschaften in erster Linie gute SchauspielerInnen sein müssen, die ein Bild und eine Rolle mit Hilfe der Medien gut verkaufen können, um entsprechende Stimmen einzufangen. Gute FriseurInnen, ModedesignerInnen und Medien- BeraterInnen sind daher oft viel wichtiger als Charakter, Kreativität und echte gesellschaftswissenschaftliche Fachkenntnisse. Es verwundert daher nicht, daß im Heimat- und Erfindungsland der Hollywood- Demokratie Schauspieler zunehmende Chancen für die Besetzung von politischen Ämtern erhalten. Und die KandidatInnen werden zunehmend mehr von den Mächtigen und Reichen der Gesellschaft für ihre Zwecke gekauft. In den USA, dem Land der unbegrenzten Hollywood- Demokratie, wo Recht und Demokratie gut in Szene gesetzt, inszeniert und gespielt werden, wird gewöhnlich derjenige gewählt, der das meiste Geld für seine Medieninszenierung aufbringen kann. Damit dürfte allmählich jedem klar werden, von welcher Bedeutung die Medienforschung und die Medienkritik ist. Ohne Zweifel gehören die Medien- Forschungsarbeiten Dieter Prokops zu den grundlegenden und wichtigen Pionierarbeiten, die von der Psychologie bislang leider nicht angemessen bedacht und rezipiert werden. Ich denke, das sollte sich schleunigst ändern. |
Vorwort 7
Vorspiel: 500 - 300 v.u.Z.
Athenische Demokratie: Subjektbildung der Bürger 15
Teil I: 40 v.u.Z - 1400
Öffentliche Bilder, öffentliche Spiele zwischen Repräsentanz
von Macht, dionysischem Fest und Identitätsbildung
40 v.u.Z. - 400 u. Z.
Römisches Kaiserreich: Repräsentanz zentralistischer Macht
26
400 - 1000
Feudalismus: Repräsentanz der Idee des Göttlichen 42
1000 - 1400
Früher Handels-Kapitalismus, Spät-Feudalismus: Ausbildung
von Individualität 54
Teil II: 1400 - 1880
Öffentliche Bilder, frühe Zeitungen, populäre Bücher,
Zirkus, Penny-Presse, Music Hall zwischen Propaganda, Sensationen und standardisierten
Gefühlen
1400 - 1650
Handels-Kapitalismus, früher Produktions-Kapitalismus, Absolutismus:
Hinwendung zur realen Welt 78
1650 - 1770
Bürgerliche Zivilgesellschaft, Merkantilismus, Absolutismus: Human
Interests und öffentliche Kritik 126
1770 - 1820
Produktions-Kapitalismus, bürgerliche Revolution: Interessenvertretung
der politischen Parteien 158
1820 - 1880
Laissez-faire-Kapitalismus, Massengesellschaft, Bürger-Macht,
Kämpfe um Pressefreiheit: Unterhaltung und Meinungsbildung der neuen
»Massen« 189
Teil III: 1880 bis Anfang 21. Jahrhundert
Sensationspresse, Film, Radio, Fernsehen, Internet zwischen irrationalistischer
Marktsegmentierung und denkendem Publikum
1880 - 1914
Oligopol-Kapitalismus, Massenproduktion, Aufstieg der Werbung: Klarheit
und Einfachheit des Medien-Erlebens 240
1914 - 1945
Fordismus, Massenkaufkraft, stabilisierter Oligopol-Kapitalismus: Stabilisierung
der Konsumenten-Märkte, sicheres Spiel mit dem Unvertrauten
285
1945 - 1970
Soziale Marktwirtschaft, Motorisierung, Freizeitgesellschaft: Privatisierung
des Lebens 346
1970 - 1990
Postfordismus, Dienstleistungsgesellschaft: Segmentierung der
Konsumenten-Märkte, Grenzerweiterungen im Spiel mit dem Unvertrauten
381
1990 bis Anfang 21. Jahrhundert
Supranationaler Kapitalismus, ungeduldiges Kapital, Gegenreform:
Flexibilisierung, Lebenskampf und das neue Zeitalter der Medien-Taylorisierung
403
Literatur
Index
Aus dem
"Vorwort
Dies ist ein Geschichtsbuch über die Medien-Inszenierung von Macht
und menschlichen Interessen, Leiden und Lachen, Sensationen und Spaß.
Es ist ein Buch über populäres Theater, Gladiatorenkämpfe,
Tierhetzen, öffentliche Propagandabilder, kommerzielle Kirchenbilder,
Newe Zeytungen, Flugblätter, populäre Bücher, Zirkus, Penny-Presse,
Music Hall, investigative Massenpresse, Film, Radio, Fernsehen, Internet.
Es ist das Buch eines Soziologen, der die Grenzen der Fachwissenschaften
überschreitet.
Wozu Geschichte?
Genügt es nicht, über weltweite Netze Fakten abzurufen? Ist
nicht Geschichte etwas fürs Museum, für Touristen und für
Hollywoodfilme? Leben wir nicht in einer Zeit, in der historischer Ballast
nicht gebraucht wird, im Posthistoire, in dem es keine Geschichte gibt,
sondern Standard-Systeme und Standard- Systemlösungen?
Die Antwort: Zurück zu gehen in der Geschichte
hat den Sinn, zu überlegen, was anders hätte verlaufen können.
Mehr Wahrheitssuche? Mehr Realismus? Mehr Demokratie? Bessere Information?
Mehr Vielfalt? Mehr Kreativität? Mehr Qualität? Bessere Unterhaltung?
Mehr Spaß? Mehr Verrücktes? Alles von diesem »Anderen«
wäre wünschenswert. Wer das Andere will, muss die historischen
Interessenkonstellationen erforschen, die dafür verantwortlich sind,
dass es nicht mehr davon gab und gibt.
Aber gibt es nicht genug aktuelle Kämpfe? Haben
wir nicht genug daran, den globalen Krieg der Konzerne um die Neuen Medien
zu verstehen? Bietet nicht das Internet neue Aufregungen? Blicken wir doch
vorwärts!
Die Antwort: Nicht ohne Grund wird die Macht der
heutigen supranationalen Konzerne, auch der Medienkonzerne, mit der Macht
absolutistischer Fürsten verglichen. Seit den 60er Jahren wird die
»Refeudalisierung der Öffentlichkeit« kritisiert (Habermas
1962), und heute wird die Frage aufgeworfen, ob sich die Welt auf einen
»Neofeudalismus« hin bewegt (Zinn 2000b).
Deshalb ist es nützlich, zu sehen, was Feudalismus
- und Absolutismus - mit den damaligen Massen und Massenmedien anstellten.
Es gab damals nicht nur Folter und Scheiterhaufen, sondern auch subtile
Mittel der Manipulation der Gefühle und des Verstands, die den heutigen
gleichen. Und woher sollen die Vorstellungen darüber kommen, was heute
besser sein könnte und wie das begründbar ist, wenn nicht aus
der Analyse der historischen Entwicklung von Identität, Öffentlichkeit,
Raisonnement und Amusement?
Ich beginne mit der Antike ab ca. 500 vor unserer
Zeitrechnung und beziehe das Mittelalter ein. Das ist ungewöhnlich.
Man erwartet eher, dass eine Geschichte der Massenmedien mit der Erfindung
des Buchdrucks im 15. Jahrhundert beginnt oder mit dem Aufkommen regelmäßig
erscheinender Zeitungen im frühen 17. Jahrhundert. Man konzentriert
sich auf die Schrift und vergisst die öffentlichen Bilder und Spiele.
In der Antike, in Athen im 5. Jahrhundert v.u.Z.,
entstand das Theater. Bei den Römern gab es öffentliche Bilder,
eine staatliche Repräsentanzkultur; außerdem gab es Gladiatorenkämpfe
und Wagenrennen. Bei Platon, den Judäern und frühen Christen
findet man die Anfänge der Bilderfeindlichkeit, an der bis heute die
visuellen Medien zu leiden haben. Und im Mittelalter gab es mit gefühlvollen
Kirchenbildern und dem Ablasshandel die erste kommerzielle Kulturindustrie.
Und es gab populäe Balladen und Erzählungen. Warum also erst
mit dem Buchdruck beginnen?
Aber gehört nicht das Theater in die Theaterwissenschaft,
die Kirchenbilder in die Kunstgeschichte und die Balladen und Erzählungen
in die Klassische Philologie? Was mischt sich ein Soziologe ein?
Die Antwort: Wissenschaftliche Arbeitsteilung muss
sein, doch ist es notwendig über deren Ränder zu blicken. Für
die Publizistik- und Kommunikationswissenchaft jedenfalls kann es kein
Schaden sein, wenn man von der Welt mehr erfährt als Zeitungsgeschichte
und systemtheoretische Schablonen.
Wieso »Kampf um die Medien«?
Muss man wirklich von »Kampf« sprechen? Führt das
nicht in eine unangemessene Parteilichkeit? Wäre »Evolution«
nicht der bessere, neutralere, Begriff?
Die Antwort: Heute, in einer Zeit, in der die Wegrationalisierung
von Arbeitsplätzen »Freisetzung« oder »Abrundung«
genannt wird, kann man den sich neutral gebenden Begriffen nicht trauen
- ganz abgesehen davon, dass der Begriff »Evolution« falsch
ist, denn damit wird vorausgesetzt, Mediengeschichte sei primär eine
Entwicklung der Kommunikationstechnik und des Überlebens des Stärkeren.
Das passt zwar in die heutigen neoliberalen Vorstellungen über neue
Informations- und Medientechnologien und Globalisierung - doch damit geraten
die entscheidenden Inhalte aus dem Blickfeld: Die Welt wird nicht nur durch
Macht und Geld zusammen gehalten, sondern auch durch freiheitliche Moral
und Solidarität. Die Geschichte der Massenmedien ist - in Information
und Unterhaltung - auch eine Geschichte des Kampfs um Meinungsfreiheit,
Rationalität, Individualität, Kreativität, Solidaität,
Demokratie, Emanzipation. Der kritische Theoretiker Jürgen Habermas
vermeidet die pathetischen Worte, er spricht von »Deliberation«
und meint damit Emanzipation in die Richtung demokratischer, beratschlagender,
besonnener, kooperierender Politik (1999, S. 277ff.). Aber auch Deliberation
ist ein Kampf.
Wieso »neue kritische« Medienforschung?
Von Kritik erwartet man, wenn es um Medien geht, nicht mehr als die
alten Klagen über Standardisierung, Verflachung, niveaulose Unterhaltung
der Kulturindustrie und über das unpolitische, ichschwache, subjektlose,
dumme Publikum. Der Anatz der neuen kritischen Medienforschung, den ich
vertrete (Prokop 2000), hat etwas anderes im Sinn. Jürgen Habermas
schreibt: »Die Umstellung des kommunikativen Handelns auf mediengesteuerte
Interaktionen und die Verformung von Strukturen einer versehrbaren Intersubjektivität
sind keineswegs vorentschiedene Prozesse, die sich auf wenige Begriffe
abziehen lassen. Die Analyse von Lebensweltpathologien erfordert die unvoreingenommene
Untersuchung von Tendenzen und Gegentendenzen.« (1981, Bd.2, S. 575).
Das
ist das »neue kritische« Programm: die Analyse nicht nur der
Verformungen, sondern auch dessen, was sich dagegen wehrt.
Die neue kritische Medienforschung untersucht
- und sie bezieht den Unterhaltungsbereich und die Bilder mit ein -, wo
und wie sich in der Mediengeschichte identitäts-stärkende, solidarische,
rational diskursive Kommunikations- und Entscheidungsformen entwickelten,
durch welche Macht- und Wirtschafts-Strukturen und durch welche Theorien
sie verhindert wurden und in welchen strukturellen Konstellationen sie
sich trotz aller Macht- und Wirtschafts-Interessen - und oft auch über
sie vermittelt- durchsetzten.
Worin besteht das kritische Vorgehen?
Die neue kritische Medienforschung präsentiert ein strukturanalytisches
Vorgehen, das die historischen Medien-Strukturen, deren Existenz und Dauerhaftigkeit,
aus wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Interessenlagen erklären
möchte, also aus den Vorteilen, die der Gesellschaft oder Teilen der
Gesellschaft aus den betreffenden Medien-Strukturen entstanden. Dabei geht
es auch um deren Ergebnisse, um die Produktstrukturen, d.h. die Inhalte
und die Gestaltungsweisen.
Manche nennen das, was ich Interessen oder Vorteile
nenne, »Funktionen«. Wenn sie feststellen, dass die Medien
die Gefühle der Menschen bewegt haben, nennen sie das »Gefühlsfunktion«.
Wenn mittels Medien Propaganda gemacht wurde, sprechen sie von einer »Propagandafunktion«.
Wenn mittels Medien öffentliche Debatten geführt wurden, gilt
das als »Diskursfunktion«. Oft ist von »gesellschaftlichen
Steuerungs- und Orientierungsfunktionen« oder von »gesellschafts-
und herrschaftsstabilisierenden Funktionen« der Medien die Rede.
Wenn man jedoch alles und jedes als »Funktionen«
benennt, hat man außer der Befriedigung, alles benannt zu haben,
keine weitere Erkenntnis. Was haben wir davon, wenn uns angesichts
des Reformationslieds »Nun treiben wir den Papst hinaus« ein
Medienwissenschaftler erklärt, dass dieses Lied die »Funktion
des Kampfs« hat? (Faulstich 1998, S. 171). Meist wird hinzugefügt,
das analysierte Objekt habe »normierende und damit gruppenstabilisierende
Funktion«, und man merkt die Zufriedenheit des Wissenschaftlers damit,
dass wieder einmal Menschen im Kollektiv untergingen. Und an Schlichtheit
nicht zu überbieten ist die These des Systemtheoretikers Niklas Luhmann,
die Medien hätten die Funktion, überflüssige Zeit zu vernichten
(1996, S. 96).
Eine kritische Geschichte der Massenmedien ergibt
sich erst, wenn man historische Interessenkonstellationen analysiert.
Nehmen wir die idealisierenden Bilder, Reliefs und Herrscher-Statuen im
Römischen Reich zur Kaiserzeit: Wenn wir die historischen Interessen
beachten, können wir sagen: »Die Medien dienten im Römischen
Reich zur Kaiserzeit dem kaiserlichen Interesse, mittels einer apollinischen
Propagandakultur die Feinde des Herrschers, konkurrierende Despoten ebenso
wie Demokraten, durch Diffamierung des Dionysischen zu bekämpfen.«
Damit sind sowohl die Vorteile der damaligen Medien bezeichnet als auch
die Art und Weise, in der die Vorteile realisiert werden. Erst das genauere
Analysieren von Interessen schärft den Blick.
Die Geschichte der Medien war stets ein Kampf, den
die Herrschenden, die Medien-Anbieter, die Künstler, die Journalisten
und das Publikum - und nicht zuletzt die Wissenschaftler - gegeneinander
und untereinander ausfochten. Sie alle hatten unterschiedliche Interessen.
Historische
Medien-Strukturen stabilisierten sich eine Zeitlang als Ergebnis derartiger
- mittels Gewalt, Markt-Macht oder politischer Kompromisse beendeter -
Interessenkämpfe. Am stabilisierten Zustand sind wir ebenso interessiert
wie an den Kämpfen.
Die Interessenkämpfe, in die die Medien eingespannt
waren und sind, will ich darstellen. Ein Interessenkampf ist zum Beispiel
der zwischen Bürgern, die die freie öffentliche Diskussion, also
Pressefreiheit fordern, und den absolutistischen Herrschern, die das verhindern
wollen. In der frühen Neuzeit war es der Interessenkampf zwischen
einer ordinären, grobschlächtigen, antiautoritären Festkultur
der Bauern und Handwerker und einer damals von Staat und Kirche mit Gewalt
durchgesetzten »Volkskultur« des einfachen, frommen Gemüts.
Interessenkämpfe ergeben sich in der Praxis von Wirtschaft, Politik,
Gesellschaft.
Es ist sinnvoll, Problemkonflikte von Interessenkämpfen
zu unterscheiden. Problemkonflikte ergeben sich in der Wissenschaft, in
der Theorie wie der empirischen Forschung. Ein Problemkonflikt ist zum
Beispiel die seit Platon und Aristoteles geführte Debatte darüber,
ob Unterhaltung dem Publikum schadet und deshalb zu zensieren ist oder
ob sie eine befreiende Wirkung hat und deshalb frei sein muss. Wir werden
feststellen, dass auch Probleme, die Philosophen und Medienforscher aufwerfen,
von politischen und wirtschaftlichen Interessen geprägt waren - und
bis heute sind.
Medien-Interessenkämpfe und Medien-Problemkonflikte
herauszuarbeiten, ist die Absicht des Buchs.
Was sind Medien?
Mit Medien meine ich Massenmedien. »Massen« definiere
ich neutral als Bevölkerungsmehrheit oder als großes Publikum.
Das ist eine formale Definition, aber das reicht. Auf eine inhaltliche
Definition verzichte ich, denn auf die Vorurteile über »die
Massen« kann ich verzichten.
Aber kann man denn heute noch von Massen als Bevölkerungsmehrheiten
reden? Gibt es noch die großen Mehrheiten? Sind die Menschen heute
nicht individualisiert? Gehen nicht zielgruppenorientierte Medien individuell
auf jeden Einzelnen ein? Bereitet nicht das Internet den einseitig sendenden
Massenmedien ein Ende? Wozu sich noch mit diesen alten »Massenmedien«
beschäftigen?
Die Antwort: Man muss das, weil auch zielgruppenorientierte
Medien - konventionell oder Internet - »Massenmedien« sind.
Werbung, Marketing, Illustrierte, Formatradios, Fernsehkanäle versuchen,
Zielgruppen anzusprechen, aber wir sollten uns nicht vorstellen, heute
seien alle Medien und alle Menschen »individualisiert«. Das
ist eine Marketing-Ideologie. Auch die zielgruppenorientierten Anbieter
suchen heute möglichst weltweit vorhandene Zielgruppen, also
- nach unserer Definition - Massen. Auch im Internet gibt es Portal Sites
und Homepages, die vom breiten Publikum abgerufen werden, also von Massen.
Also gibt es auch heute Massenmedien. Und darüber, wie man große
Publika fasziniert - oder auch einschüchtert und diszipliniert -,
erfährt man viel in der Mediengeschichte.
Was sind also Massenmedien?
1. Medien im Sinne von Massenmedien gibt es nur dort, wo es große
Publika gibt, die real oder potenziell als Öffentlichkeit agieren.
Die großen Publika sind nicht die Medien, aber sie sind deren Voraussetzung.
Keine Massenmedien waren die Kulte in der Frühzeit der Menschheit
- Opferrituale, Regentänze, beschwörende Gesänge oder deren
materielle Ergebnisse, z.B. die prähistorischen Höhlenmalereien,
die ägyptischen Grabkammerbilder. Wenige Beteiligte praktizierten
Rituale, es gab keine Öffentlichkeit.
»Öffentlichkeit« ist ein Begriff,
der sich im 18. Jahrhundert einbürgerte. Er bezeichnet ein Publikum,
das in Parlamenten, Cafes und Zeitungen Kritik äußern kann,
wozu die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse gehört.
Aber auch in der Antike und im Mittelalter gab es »Öffentlichkeit«.
In Athen im 5. Jahrhundert v.u.Z. hatte das Theater ein kritisches Publikum.
Das Publikum beurteilte die Qualitäten des Angebots. Das Theater war
ein öffentliches Massenmedium. Im Mittelalter geschah die Repräsentanz
von Macht im öffentlichen Raum. Das Publikum war in den Kirchen, auf
Plätzen, später auf Marktplätzen präsent. Selbst wenn
das Publikum unterdrückt wurde und öffentliche Mitteilungen zensiert
wurden, hatten die öffentlichen Anbieter stets mit Ketzern, Kritikern,
Aufständischen zu rechnen.
Der Medienhistoriker Werner Faulstich hält
auch die Familie für eine Öffentlichkeit, er nennt das »kleinräumige
Binnenöffentlichkeit« (1998, S. 116). Dann wären auch die
Urlaubsdias, mit denen Familien ihre Besucher langweilen, ein Massenmedium?
Das kann nicht sein, denn in Öffentlichkeiten geht es immer um
die prinzipielle Einbeziehung aller; in Öffentlichkeiten richten sich
die Debatten stets auf das Koordinieren der Interessen aller in der Gesamtgesellschaft.
2. Massenmedien gibt es nur, wenn spezielle öffentliche Anbieter
vorhanden sind, die mit ihrem Angebot spezielle Interessen verfolgen: Repräsentanz
von Macht, Propaganda, Profit, Aufklärung. Die Anbieter selbst sind
keine Massenmedien, sondern deren infrastrukturelle Voraussetzung.
Das Theater in Athen war ein öffentliches,
staatliches Festspiel-Angebot. Wenn die Kirche im Mittelalter Bilder ausstellte,
damit Ablassgelder kassierte, wenn sie diese Bilder massenweise produzierte
und als Amulette und Andenken verkaufte, war sie ein öffentlicher
Anbieter, mit dem Interesse der Machtdemonstration und des Profits.
An den Anbietern betrachten wir die Marktformen,
die Produktionsweisen, die Formen der Auftragsvergabe, die Infrastrukturen
für Kreativität und die Arten der Arbeitsteilung. Gab es viele
Kleinanbieter oder wenige Großanbieter oder einen Monopolisten? Waren
die Produktionsweisen handwerklich oder manufakturmäßig oder
industriell?
Kein Massenmedium sind Sprache und Schrift. Sie
sind Teil der Kultur oder »kulurelle Institutionen«. Man mag
sie »Medium« nennen, aber dann ist auch die Luft, die wir atmen,
ein Medium. Manche Kommunikationswissenschaftler sagen genau das, ohne
zu scherzen. So beginnt der Informatiker Michael Giesecke ein medienhistorisches
Buch, das die Erfindung des Buchdrucks zum Gegenstand hat, mit einem Begriff
von »Medium«, der auch die Luft einschließt, denn jedes
Sprechen setze die Gasmoleküle der Luft in Schwingungen und jene transportieren
eine »informative Spur« (1998, S. 73). Für Giesecke ist
selbst ein Hut, der durch den Sand rollt, ein Medium: »Der Hut zeigt
sich [...] als Medium, welches zwischen dem Wind und den Dünen vermittelt.
Gebrochen durch die materialen Eigenschaften des Hutes, eben seine Informationen,
hinterlässt der Wind seine Spuren im Sand. Der Hut verformt sich,
weil er als Medium zwischen dem Sand und der Windenergie vermittelt. Zugleich
wirkt er aber auch auf die Luftmoleküle zurück.« (S.39).
Das bringt nichts. Überlassen wir es Informatikern, alte Hüte
in den Sand zu setzen.
3. Massenmedien gibt es nur, wenn öffentlich präsentierte
Produkte spezielle Inszenierungen anbieten. Diese Inszenierungen, wenn
sie populär sind - d.h. bei Bevölberungsmehrheiten beliebt sind,
wahrgenommen, gekauft, debattiert werden - sind die eigentlichen Massenmedien.
Statt »Inszenierungen« könnte man auch »Erzählungen«
oder »Geschichten« sagen, doch würde man hierbei den Aspekt
der Gestaltung ignorieren. »Inszenierungen« umfasst beides.
In den Medien-Inszenierungen verdichtet sich das,
was Anbieter bezwecken oder was das große Publikum sucht, in speziellen
Szenen. Die Pracht absolutistischer Machtdarstellung auf öffentlichen
kaiserlichen Festen oder die anrührenden Maria-Jesuskind-Darstellungen
auf den spätmittelalterlichen Ikonen oder die sensationell aufgemachten
Pressenachrichten seit der frühen Neuzeit sind derartige »Inszenierungen«.
Auch das Bild auf dem Cover ist eine solche Inszenierung, es ist ein
Glasdia aus Robertsons Fantascope. Robertson hatte 1797, in der Zeit der
französischen Gegenrevolution, in Paris ein Horrorkabinett eröffnet,
in dem mittels einer Art Laterna Magica Schreckensbilder gezeigt wurden.
In der Zeit am Ende des reaktionären Direktoriums sollte das Publikum
mit der Wiederkehr der alten Gespenster erschreckt werden. Ein Dämon
liest ein Buch: das Buch, dieses gefährliche Medium der Aufklärung,
in der Hand des Teufels. Aufklärung wurde in ein Horrorbild pervertiert.
Zugleich ist das Bild ambivalent, es zeigt den Dämon mit Flügeln
und im roten Gewand, wie es Rache-Engel tragen: Es könnte auch eine
Bibel sein, die der teuflische Engel in der Hand hält. In der anderen
Hand hält er kämpferisch eine Lanze. Es ist also ein doppelter
Schrecken: Das Bild diffamiert die Aufklärung und visualisiert zugleich
die Schrecken der Gegenrevolution, die Wiederkehr des in der Revolution
schon Totgeglaubten, Verdrängten. Ein Vorläufer des Horrorfilms.
Weil die Medien-Inszenierungen - wie man auch an diesem Beispiel sieht
- stets Realität verarbeiten, verwende ich Begriffe wie »Konstruktion«
oder »Dekonstruktion« nicht.
Natürlich können wir nicht alle Massenmedien
berücksichtigen. Das Theater werden wir nur kurz streifen. Für
Kirchenbilder interessieren wir uns nach dem 17. Jahrhundert nicht mehr.
Manche Medien wie Zirkus, Music Hall, Comics kommen nur am Rande vor, Illustrierte
und populäre Musik fast gar nicht. Man muss Schwerpunkte setzen. Wir
versuchen, immer dort zu sein, wo sich in den jeweiligen Mainstream- Medien
die wichtigen Veränderungen abspielen.
Menschen sind kein Massenmedium, weil Menschen die
Inszenierenden sind, nicht das Inszenierte. Bei populären Schauspiel-Inszenierungen
sind nicht die Schauspieler das Massenmedium, sondern die Inszenierungen.
Faulstich nennt die fahrenden Sänger, die bei mittelalterlichen Festen
auftraten, »Menschmedien« (1996). Dann wäre auch ein Prediger
ein Menschmedium, und wenn er zum Medium Buch greift, wäre das bereits
ein Medienverbund? Genau das behauptet Faulstich (1998, S.147). Das erscheint
mir falsch. Es ist auch nicht sinnvoll, angesichts der archaischen Verehrung
von Göttinnen vom »Menschmedium Frau« (Faulstich 1997)
zu sprechen. Erst wenn es von einem Klerus bewusst inszenierte Bilder gibt,
entworfen mit dem Interesse an Repräsentanz oder an Profit, kann man
jene Bilder Massenmedien nennen. Alles andere wäre mystifizierend.
Heute spricht man wieder von Kult, Kultfiguren, Kultbüchern, und man
kokettiert mit Schamanen und Zauberern. Aber das sind Inszenierungen, die
von öffentlichen Anbietern für große, öffentliche
Publika hergestellt werden. Heute sind »Kultbücher« oder
»Kultfiguren« Teil der Massenmedien.
Und was ist mit dem Kollektivbewusstsein der Massen?
Manche könnten schließlich fragen: Geht es nicht am Wesen
der Massen vorbei, wenn man sie bloß als Bevölkerungsmehrheit
definiert und glaubt, sie könnten »Interessen« verfolgen?
Folgt die Masse nicht dem Sog des Kollektivbewusstseins? Die Massen, die
den Sportlern im Olympiastadion zujubeln und die Verlierer verdammen, hängen
sie nicht ewigen Sieger-Mythen an? Sind die Reichen und Schönen in
den massenbeliebten Fernsehserien, die intrigieren und leiden, nicht bloß
eine Neuausgabe der intrigierenden und leidenden antiken Götter? Und
das Bild von Maria mit dem Jesuskind, das sich schon so lange hält,
ist das nicht ein Beweis für eine tiefverwurzelte Urfantasie von der
harmonischen Mutter-Kind-Beziehung? Und wenn in den Science Fiction-Filmen
Außerirdische aus dem All kommen, um die ins Chaos gefallene Menschheit
zu vernichten, sind das nicht uralte apokalyptische Mythen? »Denn
in der Masse versammeln sich die erregten Einzelnen nicht zu dem, was die
Diskussionsmythologie ein Publikum nennt - vielmehr verdichten sie sich
zu einem Fleck, sie bilden Menschen-Kleckse, sie strömen zu dem Ort,
wo es am schwärzesten ist von ihnen selbst. Der Ansatz beim Menschenauflauf
zeigt, dass es schon in der Urszene der kollektiven Ichbildung ein Zuviel
an Menschenstoff gibt und dass die noble Idee, die Masse als Subjekt zu
entwickeln, von diesem Überschuss a priori sabotiert wird.«:
Wenn das der Philosoph Peter Sloterdijk im Jahr 2000 schreibt (S.13), kann
man dann die Massen, wie wir das tun wollen, als Öffentlichkeit betrachten,
in der Bevölkerungsmehrheiten Interessen verfolgen und Inszenierungen
begutachten?
Die Antwort: Ja, man kann. Man muss! Das Publikum
des griechischen Theaters und der Kirchenbilder im Mittelalter bestand
nicht aus unkritischen Gläubigen. Das Bild von Maria mit dem Jesuskind
ist kein Beweis für ewige Urphantasien der Massen, sondern für
die Macht der Kirche, einschließlich der Scheiterhaufen; die mittelalterlichen
Bilder wurden produziert, um denkende Menschen, »Ungläubige«,
einzuschüchtern oder zu überreden. Macht hat politische und ökonomische
Ursachen. Behauptungen über ein »kollektives Unbewusstes«,
eine »Massenseele« oder »tief verwurzelte Urbedürfnisse«
sollten wir nicht ernst nehmen. Selbst wenn noch im Jahr 2000 ein Buch
mit dem Titel Das kollektive Unbewusste in der postmodernen Gesellschaft
erscheint und in dessen Klappentext behauptet wird, das kollektive Unbewusste
halte uns »fest in seinem Bann«, kann dessen Autor, Walter
L. Bühl, im Text nur Fakten darüber präsentieren, dass Bevölkerungsmehrheiten
auch heute über Märchengestalten, Drachen, Helden, Führerfiguren
und Stars fantasieren. Das bestreitet niemand. Man sollte von »Fantasietätigkeit«
sprechen oder von »Fantasietätigkeit von Bevölkerungsmehrheiten«.
Bühl dagegen präsentiert die alten mystifizierenden Begriffe:
»kollektives Unbewusstes«, »kollektives Gedächtnis«,
»Kollektivphantasien«, »Archetypen« etc. Das ist
Unsinn. Fantasien sitzen nicht »tief im Unbewussten«, im Rückenmark
oder irgendwelchen Gehirnhälften. Sie ergeben sich in historischen
Situationen aufgrund von Interessenkonstellationen. Vieles wird über
Generationen weitererzählt. Das ist alles. Die »irrationalen
Massen« mit ihrem »kollektiven Unbewussten« sind ein
Mythos. Daran glauben vor allem Elite-Menschen, die sich von »der
Masse« abgrenzen möchten; verfassungsfeindliche Juristen; Möchtegern-Manipulateure
in der Werbung; Anhänger der Astrologie. Wir müssen das nicht
mitmachen. Bevölkerungsmehrheiten sind keine »schwarzen Flecken«,
sie sind nicht irrational. Die Massen bestehen aus denkenden Menschen.
Das festzustellen, ist keine »Schmeichelsoziologie«, wie Sloterdijk
behauptet (2000, S. 15). Wir schmeicheln nicht.
Frankfurt, im Januar 2001."
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Medien site:www.sgipt.org. * Medien Kritik site:www.sgipt.org. |
endkorrigiert: irs 6.1.2