Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    IP-GIPT DAS=06.01.2002 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung  5.8.6
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen   E-Mail:  sekretariat@sgipt.org  _ Zitierung  &  Copyright

    Anfang_Medien-Geschichte _Service_ Überblick_ Relativ Aktuelles_Rel. Beständiges_ Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region__Wichtiger Hinweis zu Links_

    Willkommen in unserer Abteilung Psychologie, Soziologie und Kritik der Medien aus Allgemeiner und Integrativer Perspektive, hier zum Thema:

    Der Kampf um die Medien
    Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung

    Ein Buchhinweis mit Inhaltsverzeichnis und Leseproben
    von Rudolf Sponsel, Erlangen

    _
    Dieter Prokop ist Professor für kritische Medienforschung am Fachbereich Gesellschafts- Wissenschaften - Schwerpunkt Kulturindustrie - der Universität Frankfurt. Er publizierte viele Bücher über Medien. 
    Im VSA-Verlag erschien von ihm »Der Medien-Kapitalismus. Das Lexikon der neuen kritischen Medienforschung« (2000).
     
     
     
     
     
     
     
    _
    Prokop, Dieter (2001). Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung. Hamburg: VSA-Verlag.  484 Seiten.  ISBN 3-87975-807-7  € 34.80 (DM 68.00).

    Einführung
     
    In modernen Gesellschaften kommt den Medien in Friedenszeiten die zentrale politische Machtfunktion zu. PolitikerInnen, die gewählt werden wollen, müssen medioform sein. Wer medioform keine gute Figur macht, hat wenig Chancen. PolitikerInnen werden daher in den modernen mediokratischen Gesellschaften in erster Linie gute SchauspielerInnen sein müssen, die ein Bild und eine Rolle mit Hilfe der Medien gut verkaufen können, um entsprechende Stimmen einzufangen. Gute FriseurInnen, ModedesignerInnen und Medien- BeraterInnen sind daher oft viel wichtiger als Charakter, Kreativität und echte gesellschaftswissenschaftliche Fachkenntnisse. Es verwundert daher nicht, daß im Heimat- und Erfindungsland der Hollywood- Demokratie Schauspieler zunehmende Chancen für die Besetzung von politischen Ämtern erhalten. Und die KandidatInnen werden zunehmend mehr von den Mächtigen und Reichen der Gesellschaft für ihre Zwecke gekauft. In den USA, dem Land der unbegrenzten Hollywood- Demokratie, wo Recht und Demokratie gut in Szene gesetzt, inszeniert und gespielt werden, wird gewöhnlich derjenige gewählt, der das meiste Geld für seine Medieninszenierung aufbringen kann. Damit dürfte allmählich jedem klar werden, von welcher Bedeutung die Medienforschung und die Medienkritik ist. Ohne Zweifel gehören die Medien- Forschungsarbeiten Dieter Prokops zu den grundlegenden und wichtigen Pionierarbeiten, die von der Psychologie bislang leider nicht angemessen bedacht und rezipiert werden. Ich denke, das sollte sich schleunigst ändern. 
    _



    Inhaltsverzeichnis - Überblick
    (Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis gibt es auf den Seiten 481-494.)

    Vorwort 7
    Vorspiel: 500 - 300 v.u.Z.
    Athenische Demokratie: Subjektbildung der Bürger 15

    Teil I: 40 v.u.Z - 1400
    Öffentliche Bilder, öffentliche Spiele zwischen Repräsentanz von Macht, dionysischem Fest und Identitätsbildung
    40 v.u.Z. - 400 u. Z.
    Römisches Kaiserreich: Repräsentanz zentralistischer Macht 26
    400 - 1000
    Feudalismus: Repräsentanz der Idee des Göttlichen 42
    1000 - 1400
    Früher Handels-Kapitalismus, Spät-Feudalismus: Ausbildung von Individualität 54

    Teil II: 1400 - 1880
    Öffentliche Bilder, frühe Zeitungen, populäre Bücher, Zirkus, Penny-Presse, Music Hall zwischen Propaganda, Sensationen und standardisierten Gefühlen
    1400 - 1650
    Handels-Kapitalismus, früher Produktions-Kapitalismus, Absolutismus: Hinwendung zur realen Welt   78
    1650 - 1770
    Bürgerliche Zivilgesellschaft, Merkantilismus, Absolutismus: Human Interests und öffentliche Kritik  126
    1770 - 1820
    Produktions-Kapitalismus, bürgerliche Revolution: Interessenvertretung der politischen Parteien  158
    1820 - 1880
    Laissez-faire-Kapitalismus, Massengesellschaft, Bürger-Macht, Kämpfe um Pressefreiheit: Unterhaltung und Meinungsbildung der neuen »Massen«  189

    Teil III: 1880 bis Anfang 21. Jahrhundert
    Sensationspresse, Film, Radio, Fernsehen, Internet zwischen irrationalistischer Marktsegmentierung und denkendem Publikum
    1880 - 1914
    Oligopol-Kapitalismus, Massenproduktion, Aufstieg der Werbung: Klarheit und Einfachheit des Medien-Erlebens 240
    1914 - 1945
    Fordismus, Massenkaufkraft, stabilisierter Oligopol-Kapitalismus: Stabilisierung der Konsumenten-Märkte, sicheres Spiel mit dem Unvertrauten  285
    1945 - 1970
    Soziale Marktwirtschaft, Motorisierung, Freizeitgesellschaft: Privatisierung des Lebens  346
    1970 - 1990
    Postfordismus, Dienstleistungsgesellschaft:  Segmentierung der Konsumenten-Märkte, Grenzerweiterungen  im Spiel mit dem Unvertrauten  381
    1990 bis Anfang 21. Jahrhundert
    Supranationaler Kapitalismus, ungeduldiges Kapital, Gegenreform:  Flexibilisierung, Lebenskampf und das neue Zeitalter der Medien-Taylorisierung  403

    Literatur
    Index


    Aus dem

    "Vorwort
    Dies ist ein Geschichtsbuch über die Medien-Inszenierung von Macht und menschlichen Interessen, Leiden und Lachen, Sensationen und Spaß. Es ist ein Buch über populäres Theater, Gladiatorenkämpfe, Tierhetzen, öffentliche Propagandabilder, kommerzielle Kirchenbilder, Newe Zeytungen, Flugblätter, populäre Bücher, Zirkus, Penny-Presse, Music Hall, investigative Massenpresse, Film, Radio, Fernsehen, Internet. Es ist das Buch eines Soziologen, der die Grenzen der Fachwissenschaften überschreitet.

    Wozu Geschichte?
    Genügt es nicht, über weltweite Netze Fakten abzurufen? Ist nicht Geschichte etwas fürs Museum, für Touristen und für Hollywoodfilme? Leben wir nicht in einer Zeit, in der historischer Ballast nicht gebraucht wird, im Posthistoire, in dem es keine Geschichte gibt, sondern Standard-Systeme und Standard- Systemlösungen?
        Die Antwort: Zurück zu gehen in der Geschichte hat den Sinn, zu überlegen, was anders hätte verlaufen können. Mehr Wahrheitssuche? Mehr Realismus? Mehr Demokratie? Bessere Information? Mehr Vielfalt? Mehr Kreativität? Mehr Qualität? Bessere Unterhaltung? Mehr Spaß? Mehr Verrücktes? Alles von diesem »Anderen« wäre wünschenswert. Wer das Andere will, muss die historischen Interessenkonstellationen erforschen, die dafür verantwortlich sind, dass es nicht mehr davon gab und gibt.
        Aber gibt es nicht genug aktuelle Kämpfe? Haben wir nicht genug daran, den globalen Krieg der Konzerne um die Neuen Medien zu verstehen? Bietet nicht das Internet neue Aufregungen? Blicken wir doch vorwärts!
        Die Antwort: Nicht ohne Grund wird die Macht der heutigen supranationalen Konzerne, auch der Medienkonzerne, mit der Macht absolutistischer Fürsten verglichen. Seit den 60er Jahren wird die »Refeudalisierung der Öffentlichkeit« kritisiert (Habermas 1962), und heute wird die Frage aufgeworfen, ob sich die Welt auf einen »Neofeudalismus« hin bewegt (Zinn 2000b).
        Deshalb ist es nützlich, zu sehen, was Feudalismus - und Absolutismus - mit den damaligen Massen und Massenmedien anstellten. Es gab damals nicht nur Folter und Scheiterhaufen, sondern auch subtile Mittel der Manipulation der Gefühle und des Verstands, die den heutigen gleichen. Und woher sollen die Vorstellungen darüber kommen, was heute besser sein könnte und wie das begründbar ist, wenn nicht aus der Analyse der historischen Entwicklung von Identität, Öffentlichkeit, Raisonnement und Amusement?
        Ich beginne mit der Antike ab ca. 500 vor unserer Zeitrechnung und beziehe das Mittelalter ein. Das ist ungewöhnlich. Man erwartet eher, dass eine Geschichte der Massenmedien mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert beginnt oder mit dem Aufkommen regelmäßig erscheinender Zeitungen im frühen 17. Jahrhundert. Man konzentriert sich auf die Schrift und vergisst die öffentlichen Bilder und Spiele.
        In der Antike, in Athen im 5. Jahrhundert v.u.Z., entstand das Theater. Bei den Römern gab es öffentliche Bilder, eine staatliche Repräsentanzkultur; außerdem gab es Gladiatorenkämpfe und Wagenrennen. Bei Platon, den Judäern und frühen Christen findet man die Anfänge der Bilderfeindlichkeit, an der bis heute die visuellen Medien zu leiden haben. Und im Mittelalter gab es mit gefühlvollen Kirchenbildern und dem Ablasshandel die erste kommerzielle Kulturindustrie. Und es gab populäe Balladen und Erzählungen. Warum also erst mit dem Buchdruck beginnen?
        Aber gehört nicht das Theater in die Theaterwissenschaft, die Kirchenbilder in die Kunstgeschichte und die Balladen und Erzählungen in die Klassische Philologie? Was mischt sich ein Soziologe ein?
        Die Antwort: Wissenschaftliche Arbeitsteilung muss sein, doch ist es notwendig über deren Ränder zu blicken. Für die Publizistik- und Kommunikationswissenchaft jedenfalls kann es kein Schaden sein, wenn man von der Welt mehr erfährt als Zeitungsgeschichte und systemtheoretische Schablonen.

    Wieso »Kampf um die Medien«?
    Muss man wirklich von »Kampf« sprechen? Führt das nicht in eine unangemessene Parteilichkeit? Wäre »Evolution« nicht der bessere, neutralere, Begriff?
        Die Antwort: Heute, in einer Zeit, in der die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen »Freisetzung« oder »Abrundung« genannt wird, kann man den sich neutral gebenden Begriffen nicht trauen - ganz abgesehen davon, dass der Begriff »Evolution« falsch ist, denn damit wird vorausgesetzt, Mediengeschichte sei primär eine Entwicklung der Kommunikationstechnik und des Überlebens des Stärkeren. Das passt zwar in die heutigen neoliberalen Vorstellungen über neue Informations- und Medientechnologien und Globalisierung - doch damit geraten die entscheidenden Inhalte aus dem Blickfeld: Die Welt wird nicht nur durch Macht und Geld zusammen gehalten, sondern auch durch freiheitliche Moral und Solidarität. Die Geschichte der Massenmedien ist - in Information und Unterhaltung - auch eine Geschichte des Kampfs um Meinungsfreiheit, Rationalität, Individualität, Kreativität, Solidaität, Demokratie, Emanzipation. Der kritische Theoretiker Jürgen Habermas vermeidet die pathetischen Worte, er spricht von »Deliberation« und meint damit Emanzipation in die Richtung demokratischer, beratschlagender, besonnener, kooperierender Politik (1999, S. 277ff.). Aber auch Deliberation ist ein Kampf.

    Wieso »neue kritische« Medienforschung?
    Von Kritik erwartet man, wenn es um Medien geht, nicht mehr als die alten Klagen über Standardisierung, Verflachung, niveaulose Unterhaltung der Kulturindustrie und über das unpolitische, ichschwache, subjektlose, dumme Publikum. Der Anatz der neuen kritischen Medienforschung, den ich vertrete (Prokop 2000), hat etwas anderes im Sinn. Jürgen Habermas schreibt: »Die Umstellung des kommunikativen Handelns auf mediengesteuerte Interaktionen und die Verformung von Strukturen einer versehrbaren Intersubjektivität sind keineswegs vorentschiedene Prozesse, die sich auf wenige Begriffe abziehen lassen. Die Analyse von Lebensweltpathologien erfordert die unvoreingenommene Untersuchung von Tendenzen und Gegentendenzen.« (1981, Bd.2, S. 575). Das ist das »neue kritische« Programm: die Analyse nicht nur der Verformungen, sondern auch dessen, was sich dagegen wehrt.
        Die neue kritische Medienforschung untersucht - und sie bezieht den Unterhaltungsbereich und die Bilder mit ein -, wo und wie sich in der Mediengeschichte identitäts-stärkende, solidarische, rational diskursive Kommunikations- und Entscheidungsformen entwickelten, durch welche Macht- und Wirtschafts-Strukturen und durch welche Theorien sie verhindert wurden und in welchen strukturellen Konstellationen sie sich trotz aller Macht- und Wirtschafts-Interessen - und oft auch über sie vermittelt- durchsetzten.

    Worin besteht das kritische Vorgehen?
    Die neue kritische Medienforschung präsentiert ein strukturanalytisches Vorgehen, das die historischen Medien-Strukturen, deren Existenz und Dauerhaftigkeit, aus wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Interessenlagen erklären möchte, also aus den Vorteilen, die der Gesellschaft oder Teilen der Gesellschaft aus den betreffenden Medien-Strukturen entstanden. Dabei geht es auch um deren Ergebnisse, um die Produktstrukturen, d.h. die Inhalte und die Gestaltungsweisen.
        Manche nennen das, was ich Interessen oder Vorteile nenne, »Funktionen«. Wenn sie feststellen, dass die Medien die Gefühle der Menschen bewegt haben, nennen sie das »Gefühlsfunktion«. Wenn mittels Medien Propaganda gemacht wurde, sprechen sie von einer »Propagandafunktion«. Wenn mittels Medien öffentliche Debatten geführt wurden, gilt das als »Diskursfunktion«. Oft ist von »gesellschaftlichen Steuerungs- und Orientierungsfunktionen« oder von »gesellschafts- und herrschaftsstabilisierenden Funktionen« der Medien die Rede.
        Wenn man jedoch alles und jedes als »Funktionen« benennt, hat man außer der Befriedigung, alles benannt zu haben, keine weitere Erkenntnis. Was haben wir davon, wenn uns angesichts des Reformationslieds »Nun treiben wir den Papst hinaus« ein Medienwissenschaftler erklärt, dass dieses Lied die »Funktion des Kampfs« hat? (Faulstich 1998, S. 171). Meist wird hinzugefügt, das analysierte Objekt habe »normierende und damit gruppenstabilisierende Funktion«, und man merkt die Zufriedenheit des Wissenschaftlers damit, dass wieder einmal Menschen im Kollektiv untergingen. Und an Schlichtheit nicht zu überbieten ist die These des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, die Medien hätten die Funktion, überflüssige Zeit zu vernichten (1996, S. 96).
        Eine kritische Geschichte der Massenmedien ergibt sich erst, wenn man historische Interessenkonstellationen analysiert. Nehmen wir die idealisierenden Bilder, Reliefs und Herrscher-Statuen im Römischen Reich zur Kaiserzeit: Wenn wir die historischen Interessen beachten, können wir sagen: »Die Medien dienten im Römischen Reich zur Kaiserzeit dem kaiserlichen Interesse, mittels einer apollinischen Propagandakultur die Feinde des Herrschers, konkurrierende Despoten ebenso wie Demokraten, durch Diffamierung des Dionysischen zu bekämpfen.« Damit sind sowohl die Vorteile der damaligen Medien bezeichnet als auch die Art und Weise, in der die Vorteile realisiert werden. Erst das genauere Analysieren von Interessen schärft den Blick.
        Die Geschichte der Medien war stets ein Kampf, den die Herrschenden, die Medien-Anbieter, die Künstler, die Journalisten und das Publikum - und nicht zuletzt die Wissenschaftler - gegeneinander und untereinander ausfochten. Sie alle hatten unterschiedliche Interessen. Historische Medien-Strukturen stabilisierten sich eine Zeitlang als Ergebnis derartiger - mittels Gewalt, Markt-Macht oder politischer Kompromisse beendeter - Interessenkämpfe. Am stabilisierten Zustand sind wir ebenso interessiert wie an den Kämpfen.
        Die Interessenkämpfe, in die die Medien eingespannt waren und sind, will ich darstellen. Ein Interessenkampf ist zum Beispiel der zwischen Bürgern, die die freie öffentliche Diskussion, also Pressefreiheit fordern, und den absolutistischen Herrschern, die das verhindern wollen. In der frühen Neuzeit war es der Interessenkampf zwischen einer ordinären, grobschlächtigen, antiautoritären Festkultur der Bauern und Handwerker und einer damals von Staat und Kirche mit Gewalt durchgesetzten »Volkskultur« des einfachen, frommen Gemüts. Interessenkämpfe ergeben sich in der Praxis von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft.
        Es ist sinnvoll, Problemkonflikte von Interessenkämpfen zu unterscheiden. Problemkonflikte ergeben sich in der Wissenschaft, in der Theorie wie der empirischen Forschung. Ein Problemkonflikt ist zum Beispiel die seit Platon und Aristoteles geführte Debatte darüber, ob Unterhaltung dem Publikum schadet und deshalb zu zensieren ist oder ob sie eine befreiende Wirkung hat und deshalb frei sein muss. Wir werden feststellen, dass auch Probleme, die Philosophen und Medienforscher aufwerfen, von politischen und wirtschaftlichen Interessen geprägt waren - und bis heute sind.
        Medien-Interessenkämpfe und Medien-Problemkonflikte herauszuarbeiten, ist die Absicht des Buchs.

    Was sind Medien?
    Mit Medien meine ich Massenmedien. »Massen« definiere ich neutral als Bevölkerungsmehrheit oder als großes Publikum. Das ist eine formale Definition, aber das reicht. Auf eine inhaltliche Definition verzichte ich, denn auf die Vorurteile über »die Massen« kann ich verzichten.
        Aber kann man denn heute noch von Massen als Bevölkerungsmehrheiten reden? Gibt es noch die großen Mehrheiten? Sind die Menschen heute nicht individualisiert? Gehen nicht zielgruppenorientierte Medien individuell auf jeden Einzelnen ein? Bereitet nicht das Internet den einseitig sendenden Massenmedien ein Ende? Wozu sich noch mit diesen alten »Massenmedien« beschäftigen?
        Die Antwort: Man muss das, weil auch zielgruppenorientierte Medien - konventionell oder Internet - »Massenmedien« sind. Werbung, Marketing, Illustrierte, Formatradios, Fernsehkanäle versuchen, Zielgruppen anzusprechen, aber wir sollten uns nicht vorstellen, heute seien alle Medien und alle Menschen »individualisiert«. Das ist eine Marketing-Ideologie. Auch die zielgruppenorientierten Anbieter suchen heute möglichst weltweit vorhandene Zielgruppen, also - nach unserer Definition - Massen. Auch im Internet gibt es Portal Sites und Homepages, die vom breiten Publikum abgerufen werden, also von Massen. Also gibt es auch heute Massenmedien. Und darüber, wie man große Publika fasziniert - oder auch einschüchtert und diszipliniert -, erfährt man viel in der Mediengeschichte.
    Was sind also Massenmedien?

    1. Medien im Sinne von Massenmedien gibt es nur dort, wo es große Publika gibt, die real oder potenziell als Öffentlichkeit agieren. Die großen Publika sind nicht die Medien, aber sie sind deren Voraussetzung.
    Keine Massenmedien waren die Kulte in der Frühzeit der Menschheit - Opferrituale, Regentänze, beschwörende Gesänge oder deren materielle Ergebnisse, z.B. die prähistorischen Höhlenmalereien, die ägyptischen Grabkammerbilder. Wenige Beteiligte praktizierten Rituale, es gab keine Öffentlichkeit.
        »Öffentlichkeit« ist ein Begriff, der sich im 18. Jahrhundert einbürgerte. Er bezeichnet ein Publikum, das in Parlamenten, Cafes und Zeitungen Kritik äußern kann, wozu die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse gehört. Aber auch in der Antike und im Mittelalter gab es »Öffentlichkeit«. In Athen im 5. Jahrhundert v.u.Z. hatte das Theater ein kritisches Publikum. Das Publikum beurteilte die Qualitäten des Angebots. Das Theater war ein öffentliches Massenmedium. Im Mittelalter geschah die Repräsentanz von Macht im öffentlichen Raum. Das Publikum war in den Kirchen, auf Plätzen, später auf Marktplätzen präsent. Selbst wenn das Publikum unterdrückt wurde und öffentliche Mitteilungen zensiert wurden, hatten die öffentlichen Anbieter stets mit Ketzern, Kritikern, Aufständischen zu rechnen.
        Der Medienhistoriker Werner Faulstich hält auch die Familie für eine Öffentlichkeit, er nennt das »kleinräumige Binnenöffentlichkeit« (1998, S. 116). Dann wären auch die Urlaubsdias, mit denen Familien ihre Besucher langweilen, ein Massenmedium? Das kann nicht sein, denn in Öffentlichkeiten geht es immer um die prinzipielle Einbeziehung aller; in Öffentlichkeiten richten sich die Debatten stets auf das Koordinieren der Interessen aller in der Gesamtgesellschaft.

    2. Massenmedien gibt es nur, wenn spezielle öffentliche Anbieter vorhanden sind, die mit ihrem Angebot spezielle Interessen verfolgen: Repräsentanz von Macht, Propaganda, Profit, Aufklärung. Die Anbieter selbst sind keine Massenmedien, sondern deren infrastrukturelle Voraussetzung.
        Das Theater in Athen war ein öffentliches, staatliches Festspiel-Angebot. Wenn die Kirche im Mittelalter Bilder ausstellte, damit Ablassgelder kassierte, wenn sie diese Bilder massenweise produzierte und als Amulette und Andenken verkaufte, war sie ein öffentlicher Anbieter, mit dem Interesse der Machtdemonstration und des Profits.
        An den Anbietern betrachten wir die Marktformen, die Produktionsweisen, die Formen der Auftragsvergabe, die Infrastrukturen für Kreativität und die Arten der Arbeitsteilung. Gab es viele Kleinanbieter oder wenige Großanbieter oder einen Monopolisten? Waren die Produktionsweisen handwerklich oder manufakturmäßig oder industriell?
        Kein Massenmedium sind Sprache und Schrift. Sie sind Teil der Kultur oder »kulurelle Institutionen«. Man mag sie »Medium« nennen, aber dann ist auch die Luft, die wir atmen, ein Medium. Manche Kommunikationswissenschaftler sagen genau das, ohne zu scherzen. So beginnt der Informatiker Michael Giesecke ein medienhistorisches Buch, das die Erfindung des Buchdrucks zum Gegenstand hat, mit einem Begriff von »Medium«, der auch die Luft einschließt, denn jedes Sprechen setze die Gasmoleküle der Luft in Schwingungen und jene transportieren eine »informative Spur« (1998, S. 73). Für Giesecke ist selbst ein Hut, der durch den Sand rollt, ein Medium: »Der Hut zeigt sich [...] als Medium, welches zwischen dem Wind und den Dünen vermittelt. Gebrochen durch die materialen Eigenschaften des Hutes, eben seine Informationen, hinterlässt der Wind seine Spuren im Sand. Der Hut verformt sich, weil er als Medium zwischen dem Sand und der Windenergie vermittelt. Zugleich wirkt er aber auch auf die Luftmoleküle zurück.« (S.39). Das bringt nichts. Überlassen wir es Informatikern, alte Hüte in den Sand zu setzen.

    3. Massenmedien gibt es nur, wenn öffentlich präsentierte Produkte spezielle Inszenierungen anbieten. Diese Inszenierungen, wenn sie populär sind - d.h. bei Bevölberungsmehrheiten beliebt sind, wahrgenommen, gekauft, debattiert werden - sind die eigentlichen Massenmedien. Statt »Inszenierungen« könnte man auch »Erzählungen« oder »Geschichten« sagen, doch würde man hierbei den Aspekt der Gestaltung ignorieren. »Inszenierungen« umfasst beides.
        In den Medien-Inszenierungen verdichtet sich das, was Anbieter bezwecken oder was das große Publikum sucht, in speziellen Szenen. Die Pracht absolutistischer Machtdarstellung auf öffentlichen kaiserlichen Festen oder die anrührenden Maria-Jesuskind-Darstellungen auf den spätmittelalterlichen Ikonen oder die sensationell aufgemachten Pressenachrichten seit der frühen Neuzeit sind derartige »Inszenierungen«.

    Auch das Bild auf dem Cover ist eine solche Inszenierung, es ist ein Glasdia aus Robertsons Fantascope. Robertson hatte 1797, in der Zeit der französischen Gegenrevolution, in Paris ein Horrorkabinett eröffnet, in dem mittels einer Art Laterna Magica Schreckensbilder gezeigt wurden. In der Zeit am Ende des reaktionären Direktoriums sollte das Publikum mit der Wiederkehr der alten Gespenster erschreckt werden. Ein Dämon liest ein Buch: das Buch, dieses gefährliche Medium der Aufklärung, in der Hand des Teufels. Aufklärung wurde in ein Horrorbild pervertiert. Zugleich ist das Bild ambivalent, es zeigt den Dämon mit Flügeln und im roten Gewand, wie es Rache-Engel tragen: Es könnte auch eine Bibel sein, die der teuflische Engel in der Hand hält. In der anderen Hand hält er kämpferisch eine Lanze. Es ist also ein doppelter Schrecken: Das Bild diffamiert die Aufklärung und visualisiert zugleich die Schrecken der Gegenrevolution, die Wiederkehr des in der Revolution schon Totgeglaubten, Verdrängten. Ein Vorläufer des Horrorfilms.
    Weil die Medien-Inszenierungen - wie man auch an diesem Beispiel sieht - stets Realität verarbeiten, verwende ich Begriffe wie »Konstruktion« oder »Dekonstruktion« nicht.
        Natürlich können wir nicht alle Massenmedien berücksichtigen. Das Theater werden wir nur kurz streifen. Für Kirchenbilder interessieren wir uns nach dem 17. Jahrhundert nicht mehr. Manche Medien wie Zirkus, Music Hall, Comics kommen nur am Rande vor, Illustrierte und populäre Musik fast gar nicht. Man muss Schwerpunkte setzen. Wir versuchen, immer dort zu sein, wo sich in den jeweiligen Mainstream- Medien die wichtigen Veränderungen abspielen.
        Menschen sind kein Massenmedium, weil Menschen die Inszenierenden sind, nicht das Inszenierte. Bei populären Schauspiel-Inszenierungen sind nicht die Schauspieler das Massenmedium, sondern die Inszenierungen. Faulstich nennt die fahrenden Sänger, die bei mittelalterlichen Festen auftraten, »Menschmedien« (1996). Dann wäre auch ein Prediger ein Menschmedium, und wenn er zum Medium Buch greift, wäre das bereits ein Medienverbund? Genau das behauptet Faulstich (1998, S.147). Das erscheint mir falsch. Es ist auch nicht sinnvoll, angesichts der archaischen Verehrung von Göttinnen vom »Menschmedium Frau« (Faulstich 1997) zu sprechen. Erst wenn es von einem Klerus bewusst inszenierte Bilder gibt, entworfen mit dem Interesse an Repräsentanz oder an Profit, kann man jene Bilder Massenmedien nennen. Alles andere wäre mystifizierend. Heute spricht man wieder von Kult, Kultfiguren, Kultbüchern, und man kokettiert mit Schamanen und Zauberern. Aber das sind Inszenierungen, die von öffentlichen Anbietern für große, öffentliche Publika hergestellt werden. Heute sind »Kultbücher« oder »Kultfiguren« Teil der Massenmedien.

    Und was ist mit dem Kollektivbewusstsein der Massen?
    Manche könnten schließlich fragen: Geht es nicht am Wesen der Massen vorbei, wenn man sie bloß als Bevölkerungsmehrheit definiert und glaubt, sie könnten »Interessen« verfolgen? Folgt die Masse nicht dem Sog des Kollektivbewusstseins? Die Massen, die den Sportlern im Olympiastadion zujubeln und die Verlierer verdammen, hängen sie nicht ewigen Sieger-Mythen an? Sind die Reichen und Schönen in den massenbeliebten Fernsehserien, die intrigieren und leiden, nicht bloß eine Neuausgabe der intrigierenden und leidenden antiken Götter? Und das Bild von Maria mit dem Jesuskind, das sich schon so lange hält, ist das nicht ein Beweis für eine tiefverwurzelte Urfantasie von der harmonischen Mutter-Kind-Beziehung? Und wenn in den Science Fiction-Filmen Außerirdische aus dem All kommen, um die ins Chaos gefallene Menschheit zu vernichten, sind das nicht uralte apokalyptische Mythen? »Denn in der Masse versammeln sich die erregten Einzelnen nicht zu dem, was die Diskussionsmythologie ein Publikum nennt - vielmehr verdichten sie sich zu einem Fleck, sie bilden Menschen-Kleckse, sie strömen zu dem Ort, wo es am schwärzesten ist von ihnen selbst. Der Ansatz beim Menschenauflauf zeigt, dass es schon in der Urszene der kollektiven Ichbildung ein Zuviel an Menschenstoff gibt und dass die noble Idee, die Masse als Subjekt zu entwickeln, von diesem Überschuss a priori sabotiert wird.«: Wenn das der Philosoph Peter Sloterdijk im Jahr 2000 schreibt (S.13), kann man dann die Massen, wie wir das tun wollen, als Öffentlichkeit betrachten, in der Bevölkerungsmehrheiten Interessen verfolgen und Inszenierungen begutachten?
        Die Antwort: Ja, man kann. Man muss! Das Publikum des griechischen Theaters und der Kirchenbilder im Mittelalter bestand nicht aus unkritischen Gläubigen. Das Bild von Maria mit dem Jesuskind ist kein Beweis für ewige Urphantasien der Massen, sondern für die Macht der Kirche, einschließlich der Scheiterhaufen; die mittelalterlichen Bilder wurden produziert, um denkende Menschen, »Ungläubige«, einzuschüchtern oder zu überreden. Macht hat politische und ökonomische Ursachen. Behauptungen über ein »kollektives Unbewusstes«, eine »Massenseele« oder »tief verwurzelte Urbedürfnisse« sollten wir nicht ernst nehmen. Selbst wenn noch im Jahr 2000 ein Buch mit dem Titel Das kollektive Unbewusste in der postmodernen Gesellschaft erscheint und in dessen Klappentext behauptet wird, das kollektive Unbewusste halte uns »fest in seinem Bann«, kann dessen Autor, Walter L. Bühl, im Text nur Fakten darüber präsentieren, dass Bevölkerungsmehrheiten auch heute über Märchengestalten, Drachen, Helden, Führerfiguren und Stars fantasieren. Das bestreitet niemand. Man sollte von »Fantasietätigkeit« sprechen oder von »Fantasietätigkeit von Bevölkerungsmehrheiten«. Bühl dagegen präsentiert die alten mystifizierenden Begriffe: »kollektives Unbewusstes«, »kollektives Gedächtnis«, »Kollektivphantasien«, »Archetypen« etc. Das ist Unsinn. Fantasien sitzen nicht »tief im Unbewussten«, im Rückenmark oder irgendwelchen Gehirnhälften. Sie ergeben sich in historischen Situationen aufgrund von Interessenkonstellationen. Vieles wird über Generationen weitererzählt. Das ist alles. Die »irrationalen Massen« mit ihrem »kollektiven Unbewussten« sind ein Mythos. Daran glauben vor allem Elite-Menschen, die sich von »der Masse« abgrenzen möchten; verfassungsfeindliche Juristen; Möchtegern-Manipulateure in der Werbung; Anhänger der Astrologie. Wir müssen das nicht mitmachen. Bevölkerungsmehrheiten sind keine »schwarzen Flecken«, sie sind nicht irrational. Die Massen bestehen aus denkenden Menschen. Das festzustellen, ist keine »Schmeichelsoziologie«, wie Sloterdijk behauptet (2000, S. 15). Wir schmeicheln nicht.

    Frankfurt, im Januar 2001."



    Literatur (Auswahl)
    Dröge, Franz; Weißenborn, Rainer & Haft, Henning (1973). Qirkungen der Massenkommunikation. Frankfurt: Fischer-Athenäum.



    Links (Auswahl: beachte)
    Google: Prokop Medien.
    Google: Medienkritik.
    Google: Mediengeschichte.



    Anmerkungen und Endnoten:
    1) GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    ___



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    05.08.06    Linkergänzungen.


    Querverweise
    Standort: Dieter Prokop: Der Kampf um die Medien.
    Kritisches zu den Medien in der IP-GIPT.
    Überblick Programm Politische Psychologie in der IP-GIPT
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B. Medien site:www.sgipt.org.  * Medien Kritik site:www.sgipt.org.
    *
    Dienstleistungs-Info.
    *

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Dieter Prokop: Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung. Buchhinweis mit Leseproben. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/medien/prokopgm.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht  inhaltlich verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle benutzt werden. Sofern andere Rechte berührt sind, müssen diese jeweils dort angefragt werden. In Streitfällen gilt der Gerichtsstand Erlangen als akzeptiert.

    Ende_Medien-Geschichte_Service_ Überblick_Relativ Aktuelles _Rel. Beständiges  Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ Mail:_sekretariat@sgipt.org_ Kommunikation:  Post: IP-GIPT Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen  _

    endkorrigiert: irs 6.1.2