In memoriam Walter Toman 28.09.2016
Walter Toman im Leibnizjahr
Von Irmgard Rathsmann-Sponsel und Rudolf Sponsel
2016 wird des 300. Todestages von Leibniz gedacht und wir gedenken zum 13. Mal des Todestags (28.09.2003) von Walter Toman. Da liegt es nahe, eine Verbindung zu suchen. Wie hielt es Toman mit der Differentialrechnung, Mathematik und Wissenschaft? Walter Toman war ein ungewöhnlicher und atypischer Psychoanalytiker mit klarer empirisch-wissenschaftlicher und mathematischer Orientierung, wie die beiden folgenden Zitate eindringlich belegen. Das erste Zitat aus seiner Einführung in die Allgemeine Psychologie I. behandelt den Differentialquotienten am Beispiel des freien Falles. Im zweiten Beispiel befinden wir uns im Herzstück seiner Motivintensitätstheorie.
Differentialrechnung in der Einführung
in die Allgemeine Psychologie Bd. I, S. 12
"Besondere Bedeutung gewann gerade in solchen Zusammenhängen die
von Newton und Leibniz ungefähr zur gleichen Zeit und
unabhängig voneinander erfundene Differential- und Integralrechnung.
Das Konzept des Differentialquotienten gestattet bekanntlich bei Verläufen,
etwa als Kurven, y = f(x), dargestellt, den Verlauf in jedem Punkt der
Kurve zu bestimmen. Die Änderungen des Verlaufs über den Gesamtverlauf,
also über die gesamte Kurve, ergibt einen neuerlichen Verlauf, eine
neue Kurve, die als erste Ableitung bezeichnet wird: y' = f '(x). Von dieser
kann ein neuerlicher Änderungsverlauf, die zweite Ableitung, bestimmt
werden, und so weiter.
So ist etwa der freie Fall eines Körpers in einem Schwerefeld
beschrieben durch s = (g/2) (t2), wobei s der Gesamtweg in der
Zeit t, t die Zeit, während der auf den Körper die Schwerkraft
einwirkt, und g die dauernd wirksame Schwerkraftkonstante ist. Der vom
fallenden Körper zurückgelegte Weg wächst danach mit dem
Quadrat der Zeit. Die erste Ableitung ds/dt = (g/2) 2t = gt. Sie stellt
die Geschwindigkeit des Körpers in jedem beliebigen Punkt der Fallstrecke
dar. Sie ist eine Gerade mit der Neigung g zur t-Achse. Die zweite Ableitung
d(ds/dt)/dt = gt0 = g. Sie stellt die in jedem Punkt der Fallstrecke
gleichmäßig wirksame Beschleunigung dar. Sie ist kon-[>13] stant,
denn eine dritte Ableitung würde 0 ergeben. Die zweite Ableitung ist
eine horizontale Gerade (siehe Abb. 2)."
Hier sei daran erinnert, daß die Mathematik nur mit ihren eigenen
Setzungen und Operationen zu tun hat, mit Figuren, Körpern und Räumen,
mit Gruppierungen, Reihungen, Gleichsetzungen usw. Diese Setzungen und
Operationen hängen mit der empirischen Wirklichkeit zunächst
nicht zusammen. Viele der logisch konsistenten und artikulierten Beschreibungen
solcher eigener Setzungen und Operationen haben sich allerdings als auf
die empirische Wirklichkeit der Physik, der Chemie, der Biologie, der Verhaltenswissenschaften
im weitesten Sinne anwenden lassen. Sie halfen und helfen dem Menschen,
seine Vorstellungen über die Phänomene der empirischen Wissenschaften
zu klären und zu präzisieren. Ob dabei eine aus dem Formelinventar
der Mathematik entliehene Gleichung stimmt, kann empirisch kaum mit völliger
Sicherheit entschieden werden (siehe Lorenzen 1958, 1962; Leinfellner
1965; auch Mandler und Kessen 1959, Schneewind 1969).
So wäre es vermutlich unmöglich, empirisch zu beweisen, daß
die Gleichung für den freien Fall nicht etwa s = (g/2)t2.001
ist. Empirisch findet man ja im terrestrischen Bereich bei allen freien
Fällen Störbedingungen vor, wie Reibung, Luftwiderstand oder
Luftströmungen. Eine solche Beziehung wäre aber weniger »schön«
und weniger einfach als die Beziehung s = (g/2)t2. Es müßten
triftige Gründe zu solchen Annahmen vorliegen. Solche triftigen Gründe
ergaben sich aus anderen Kontexten unter anderem auch für den freien
Fall durch die Relativitäts-[<14]theorie. Nach Einstein
ist die Gleichung für die Geschwindigkeit
eines fallenden Körpers s' = v = gt auf der rechten Seite mit
dem Faktor (1 + g2t2/c2)-0.5
zu multiplizieren, um für alle derzeit voraussehbaren empirischen
Bedingungen zu gelten, wobei c die Geschwindigkeit des Lichtes ist. Der
Faktor beläuft sich im Bereich der mit etwa 7 km pro Sekunde bewegten
Erde auf etwa 0,9999999998.
Im Bereich der Biologie waren einfachere und anschaulichere Entdeckungen
etwa ab dem 17. Jahrhundert als Schrittmacher am Werke. Harvey demonstrierte
die Blutzirkulation, Leeuwenhoek beschrieb Bakterien, die er in
der weißen Substanz zwischen den Zähnen gefunden hatte, und
Lister legte, nachdem es ihm gelungen war, am Mikroskop Farb- und
sphärische Verzerrungen auszuschalten, als erster eine Beschreibung
der Tier- und Pflanzenzellen vor. Schwann konnte zeigen, daß
alle Tier- und Pflanzenzellen Zellkerne haben. Lamarck, Cuvier
und Geoffroy Saint-Hilaire erkannten gemeinsame anatomische Baupläne
unter den verschiedenen Arten und Gattungen von Lebewesen, obwohl sie über
den Grad und die Herkunft solcher Gemeinsamkeiten zum Teil im Streit miteinander
lagen (zum Beispiel im Akademiestreit zwischen Cuvier und Geoffroy
Saint-Hilaire im Jahre 1830, in dem Cuvier seinen mutigen Gegner
schwer blamierte, obwohl dieser, Geoffroy, mit seinen Grundthesen
im Recht war, wie sich etwas später herausstellte). Darwin
schließlich beendete mit seiner Arbeit »The Origin of Species«
(1859) die Diskussion zumindest unter den Biologen. In der Rückschau
sind seine Grundgedanken von der spontanen Variabilität der Arten
und dem umweltabhängigen Überleben der Fitten (ohne Lamarcks
Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften) von geradezu klassischer
Einfachheit und Plausibilität, auch wenn sich um sie ähnlich
wie um die Annahmen des Kopernikus ein Weltanschauungsstreit entwickelte,
der erst im 20. Jahrhundert abklang. Er gilt nur in einigen Enklaven der
modernen Welt noch heute nicht als zugunsten Darwins entschieden."
Anwendung Differentialquotient in der Motivintensitätstheorie (Tiefenpsychologie 1978, S. 96)
Literaturbelege siehe bitte hier.
korrigiert: 03.09.2016 irs