In memoriam Walter Toman 28.09.2013
Walter Toman über das Verstehen
Von Irmgard Rathsmann-Sponsel und Rudolf Sponsel
Walter Tomans Dissertation erschien im Jahr 1944 und hatte das Thema: Experimenteller Beitrag zum Verstehen. Das ist das Kernthema aller Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie und beschäftigt darüber hinaus zahlreiche andere Wissenschaften und Lebensbereiche. Zu erforschen, wie man verstehen kann und versteht, ist daher von größter Bedeutung. Umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine der ausgeprägtesten Quellen für zwischenmenschliche Konflikte das Missverstehen ist.
Die großen Verstehensfragen der Psychologie, Psychopathologie, Psychotherapie, Pädagogik, Soziologie und Kommunikationsforschung sind:
Hierzu hat Walter Toman einen frühen, leider weitgehend in
Vergessenheit geratenen Beitrag geleistet, den wir deshalb an dieser Stelle
wieder in Erinnerung rufen möchten. Als ebenso bedeutsam wie typisch
für Walter Tomans wissenschaftliche Grundeinstellung ist seine Methode,
wie sie schlicht, kurz und trefflich im Titel zum Ausdruck kommt: Experimenteller
Beitrag zum Verstehen. Diese empirisch-experimentelle und operationale
Haltung hat er sein ganzes wissenschaftliches Leben hindurch - auch als
Tiefenpsychologe und Psychoanalytiker - durchgehalten, was ihn gerade als
Tiefenpsychologen und Psychoanalytiker auszeichnet.
"Zusammenfassung
Als Ergebnis unserer Arbeit ergeben sich folgende Sätze: Etwas
verstehen heißt: Daran denken, es sich vorstellen, sich ein Beispiel
davon geben. Wendet man sich danach wieder dem zu Verstehenden zu, dann
ist es bereits verstanden. Dann ist das Verstehen schon vorbei. Dann kann
man es jederzeit wieder verstehen. Die Bedingungen des Verstehens sind:
1. Es selbst schon gemacht
oder an sich ablaufen gespürt haben, mindestens schon einmal, spätestens
soeben. Wir können diese Bedingung die erworbene Bedingung des Verstehens
nennen.
2. An etwas (selbst schon
Gemachtes oder schon an einem Abgelaufenes) denken können. Wir dürfen
diese Bedingung die angeborene Bedingung des Verstehens nennen. Sie zerfällt
in einen phylogenetischen und in einen ontogenetischen Teil. Der phylogenetische
Teil ist erfüllt, wenn man überhaupt an etwas denken kann; wenn
man hoch genug steht im Tierreich. Der ontogenetische Teil ist erfüllt,
wenn man schon an etwas denken kann; wenn man weit genug entwickelt ist;
wenn man alt genug ist.
Etwas verstehen heißt
also: Daran (an das gleiche selbst schon Gemachte, schon an einem Abgelaufene)
denken, es sich vorstellen, sich ein Beispiel davon geben. Unmittelbares
Verstehen ist dabei immer ein unmittelbar gewordenes Verstehen. Es ist
nichts anderes als ein sehr rasches Verstehen.
Man versteht etwas umso
richtiger (vollkommener, adäquater), je mehr das, was man selbst schon
gemacht oder an sich ablaufen gespürt hat, diesem gleicht. Vollkommen
richtig versteht man daher nur sich [>204] selbst. Nur dann nämlich
kann das, was man verstehen soll, und das, was man selbst schon gemacht
oder an sich ablaufen gespürt hat, vollkommen gleich sein. Allgemein
gilt hier: Je mehr einer überhaupt schon gemacht oder an sich ablaufen
gespürt hat, und je öfter einer überhaupt schon an all das
gedacht hat, desto richtiger und rascher vermag er zu verstehen. Aber auch
ein weniger richtiges Verstehen ist noch ein Verstehen. Es gibt keine untere
Grenze des Verstehens. Auch das unvollkommenste Verstehen ist doch ein
Verstehen. Denn auch darin gibt sich der Verstehende ein Beispiel, er denkt
daran, stellt es sich vor, wenn auch noch so unvollkommen (wenn auch für
noch so wenig künftige Erfahrung brauchbar). Man versteht umso deutlicher,
je vollständiger und wirklichkeitsgetreuer man das zu Verstehende
selbst macht oder an sich ablaufen spürt.
Erklären heißt,
vom Ende des zu Verstehenden auf seinen Anfang zurückgehen. Das Erklären
hat aber das Verstehen zum Ziel. Ich erkläre, um zu verstehen. Komme
ich nicht zum Verstehen, dann habe ich nicht erklärt. —
Verstehen heißt:
Wirklich daran denken (es sich vorstellen, sich ein Beispiel davon geben).
Man versteht etwas umso richtiger, je mehr das, WAS man selbst schon
gemacht oder an sich ablaufen gespürt hat, diesem gleicht. Man versteht
umso deutlicher, je vollständiger und wirklichkeitsgetreuer man das
zu Verstehende selbst macht oder an sich ablaufen spürt.
Man erklärt, um zu
verstehen."
korrigiert: 28.9.13