In memoriam Walter Toman 28.09.2011
Walter Tomans treuester fachlicher Weggefährte und erster Sekretär,
Prof. Dr. Karl
Gerlicher, starb am 6.9.2011.
Ihm sei an dieser Stelle besonders gedacht - auch durch die Wahl dieser
In memoriam Präsentation.
Walter Toman
Psychotherapy Workshop in Moskau
Am 30. September 1993 saßen Karl Gerlicher und ich endlich im Flugzeug nach Moskau. Um 13 Uhr waren wir aus Frankfurt abgeflogen und gute drei Stunden später, aber um 18.10 Uhr lokaler Zeit, sollten wir dort landen. Im Flugzeug war Platz genug, so dass wir uns hintereinander an je einen Fensterplatz setzten und die Nebensitze mit unseren Unterlagen bedecken konnten. Wir waren vom International Institute for Professional Development und von der (Russischen) Association of Practicing Psychologists, beide in Moskau, gebeten worden, einen mehrtägigen Workshop in Psychoanalytically Oriented Family Therapy zu geben.
Die Einladung war schon vor zwei Jahren an uns ergangen, und zwar unter großen Mühen in der Verständigung, weil die Post ganz unverlässlich war, die Fax-Geräte nur manchmal durchkamen und die Telefonate lediglich über Privatadressen und zu vorher vereinbarten Zeiten funktionierten. Vor einem Jahr hätten wir schon kommen sollen, aber da war Karl Gerlicher unerwartet erkrankt und die Genesung hatte längere Zeit gedauert. Als wir auf einen neuen Termin zusteuerten, erfassten wir erst, dass wir schon damals Visa gebraucht hätten, und um so mehr jetzt. Die politische Lage war kritischer geworden, briefliche und telefonische Verbindung mit dem russischen Konsulat in München war unmöglich. Briefe blieben unbeantwortet und am Telefon ertönte den ganzen Tag hindurch das Besetzt-Zeichen. Ganz am Ende eines solchen Tages erwischte unsere Sekretärin dennoch einen russischen Konsularbeamten, und dieser riet ihr, dass wir uns ein Sofort-Visum persönlich in München abholen müssten. Das koste zwar mehr, aber es sei innerhalb von ein bis zwei Stunden zu haben. Dazu sollten wir Visa Support von den einladenden Instituten und eine Liste der Teilnehmer an unserem Workshop mitbringen.
Beides sandten unsere Gastgeber sofort, aber nur die Teilnehmerliste kam an. Sie genügte. Damit erhielten wir ein Geschäftsvisum, das uns zum Unterschied von einem Touristenvisum entpflichtete, bei der Einreise eine Hotelreservierung vorzuweisen. Unsere Gastgeber hatten nämlich von Anfang an eingestanden, dass sie keine Honorare oder Reisekosten zahlen konnten. Wir würden vielmehr in Privatquartieren [>2] untergebracht und verpflegt, und auch für unsere Abendunterhaltung würden sie sorgen.
Angesichts des großen neuzeitlichen Wunders der Selbstauflösung der Sowjetunion, nachdem alle ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten in dieser Hinsicht vorangeprescht waren, brachten wir gerne ein finanzielles Opfer, Karl und seine Frau, ursprünglich ansässig in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, hatten ebenso wie meine Frau und ich in Österreich die sowjetische Besatzungsmacht zum Kriegsende und nachher unmittelbar erlebt Sie stand unter dem grausamen Diktat Stalins und war unbeweglich und undurchdringlich wie ein Monolith gewesen, aber die russischen Menschen und Seelen waren anders. Ich selbst hatte, als ich unfreiwillig am Überfall der deutschen Armeen in Russland im Juli 1941 mitwirken musste, die russische Bevölkerung trotz meiner ganz dürftigen Sprachkenntnisse als im Grunde arme, gemütvolle und warmherzige Menschen kennen gelernt. Viele von ihnen begrüßten die deutschen Soldaten als Befreier, wurden allerdings in wenigen Wochen schon eines ganz anderen belehrt. Sie standen unter dem grausamen Diktat Hitlers. Manche russischen Menschen waren mir damals um einiges lieber als manche deutschen Soldaten. Den Zivilisten, vor allem den Frauen und Kindern, hätte ich damals gerne geholfen. Ein bisschen tat ich es. Mehr wäre besser gewesen. Das war aber den deutschen Soldaten in wiederholten Tagesbefehlen ausdrücklich verboten worden. Danach hatte sich die russische Bevölkerung ihren Notstand selbst zuzuschreiben. ...... Das waren schreckliche Zeiten gewesen.
Wir kamen pünktlich am Aeroport Scheremetjewo in Moskau an und waren gespannt, ob wir wirklich wie versprochen abgeholt würden. Ich hatte 1971 auf dem Wege nach Tokio schon einmal in Moskau gehalten. Damals musste ich, um meinen Koffer für den Weiterflug nach Tokio zu reklamieren, den Transitbereich des Flughafens verlassen, also Moskauer Boden betreten, und bekam dafür einen der vielen in Galauniformen herumstehenden unbewaffneten sowjetischen Soldaten als Begleiter und Garant dafür, dass ich in den Transitbereich zurückkehrte. Diesmal, im Herbst 1993, sah man einige uniformierte Zollbeamte, und nach der Passkontrolle und einer kurzen Auseinandersetzung über eine schriftliche Zollerklärung - von der wir nichts gewusst hatten und die uns der Zollbeamte nach kurzem Zögern erließ - schritten wir durch [>3] eine große Menge von wartenden russischen Bürgern und Bürgerinnen, die in spärlicher Beleuchtung den angekommenen Passagieren nur eine schmale Rinne gelassen hatten und sie lautlos fixierten. Einer von unseren Gastgebern, Anna Varga oder Sergeij Agratschew, sollte uns hier empfangen und sich uns zu erkennen geben. Viele der Wartenden hielten Namensschilder in russischer Schrift vor sich. Wenn das der Modus communicandi war, würden wir unsere Namen oder die der Gastgeber gut genug erkennen? Schon fast am Rande der Menge sahen wir schließlich in lateinischer Blockschrift unsere Familiennamen und hatten einander somit gefunden.
Nachdem wir Anna Varga in englischer Sprache - der bisherigen Umgangssprache mit unseren Gastgebern - begrüßt hatten, erläuterte sie uns, dass sie einen professionellen Fahrer bestellt hatte, den sie nun suchen gehen müsse. Wir warteten zuversichtlich bei unserem Gepäck. Es war inzwischen Nacht und ziemlich kalt geworden. Ein paar Minuten später saßen wir tatsächlich in einer mittelgroßen, älteren, aber nicht ungemütlichen Limousine und fuhren bald auf einer breiten und nur mäßig beleuchteten Straße in Richtung Zentrum.
Wir landeten etwa nach einer halben Stunde im ersten der beiden uns
zugedachten Privatquartiere. Es war eine Zweizimmerwohnung mit Vorzimmer,
Wohnküche, Bad und Toilette im zweiten Obergeschoss eines architektonisch
ansehnlichen achtgeschossigen Appartmenthauses mit funktionierendem Lift
und schwachen Lichtern im Stiegenhaus. Mehrere solche Appartmenthäuser
standen hier locker beisammen. Durch die Grünanlagen dazwischen zogen
sich betonierte Wege und schmale Straußen. Auch sie waren nur schwach
erleuchtet. Das Haustor unseres Appartmenthauses war aus Sperrholz nachgefertigt.
Das richtige Tor schien entweder kaputt gegangen oder nie geliefert worden
zu sein. Eine große Spiralfeder zog die Sperrholztüre zu, war
jedoch zu schwach, um den Hauseingang völlig zu verschließen.
Der Wind wehte ins Stiegenhaus, so dass es gut nach frischer Luft roch.
In der Wohnung war es kalt, und die Erklärung kam sofort. Die
Zentralheizung würde erst am 15. Oktober angelassen. Für die
Terminplanung des morgigen Arbeitstages, des 1. Oktobers, sollten wir gleich
hier eine Konferenz haben und wegen der Kälte in der Wohnung am besten
die Mäntel anbehalten. Ein kleiner Elektrostrahler kämpfte bescheiden
gegen die Kälte an. Heißer Tee und Kuchen standen zur Erfrischung
bereit. Sergeij Agratschew, unser zweiter Gastgeber, war inzwischen zu
uns gestoßen. [>4]
Wir hatten ihn von seiner Privatwohnung abgeholt. Der professionelle Autofahrer, der uns bis hierher gebracht hatte und einen von uns auch noch zum anderen Privatquartier fahren würde, war mit zu Tee und Kuchen eingeladen worden, aber er zog es vor, unten beim Auto zu bleiben. Wir erfuhren, dass er befürchten mußte, dass ihm sonst das Auto, mindestens aber die Scheibenwischer oder der Außenrückspiegel gestohlen werden könnte.
Natascha Prawednikowa, die ich für die Inhaberin dieser Wohnung gehalten hatte, entpuppte sich als die Freundin der Inhaberin, die noch an ihrer Beratungsstelle zu tun hatte und erst um 10 Uhr abends heimkommen würde. Anja, ein dunkelhaariges 11-jähriges Mädchen war deren Tochter, ein anderes Mädchen, Katja, das ich für die ältere Schwester von Anja hielt und die ich auf etwa 18 Jahre schätzte, war, wie wir später erfuhren, eine fortgeschrittene Psychologiestudentin und jüngstes Kind der Inhaberin jener Wohnung, die als das zweite Privatquartier für Karl oder mich vorgesehen war.
Nach der Terminbesprechung und einigen anderen Klärungen von Einzelheiten über unseren Workshop - er sollte im Akademieinstitut für Psychologie stattfinden, Karl und ich würden von unseren Betreuerinnen mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin gebracht, geeignete Videogeräte für die Wiedergabe unserer Videobänder von Paar- und Familientherapien waren nicht vorhanden, aber Tafeln und Kreide stünden zur Verfügung, die Vortragssprache würde Englisch sein, mit alternierender Übersetzung ins Russische, alle Teilnehmer seien einschlägig vorgebildet und fast alle seien diagnostisch, beratend und psychotherapeutisch tätig - wurde geklärt, wie einer von uns beiden hier untergebracht würde, nämlich in diesem Zimmer auf der Sitzbank, der andere ähnlich in einer Wohnung, die noch eine kleine Autofahrt von hier entfernt war.
Wir kamen überein, dass ich hier bleiben und Karl mit Katja zu ihrer Mutter Galja Jefimova fahren würde. Sie ließen mich mit Natascha und der kleinen Anja zurück, und ich begann mich in englischer Sprache nach dem russischen Alltag zu erkundigen. Die vollschlanke Natascha antwortete stockend, in kleinem Vokabular, aber mit Grazie und Charme in ihrer Gestik. Anja konnte nach Angabe von Natascha Englisch und hörte zu, bat manchmal mit Blicken um russische Übersetzungen und antwortete auf jegliche englische Frage meinerseits lächelnd mit „I do not understand". In die [5] Konversation mischten sich auch drei Wellensittiche mit gelegentlichem Gekreische ein. Sie befanden sich in einem Käfig, der auf der breiten Fensterbank des Zimmers stand, in dem wir uns befanden, und durch einen Vorhang abgedeckt war. Unser Stimmenlärm und das Licht, das durch den Vorhang drang, ließ sie wohl nicht schlafen.
Um etwa halbelf Uhr abends kam Ira Bojko heim, eine hübsche, schlanke Frau mit eher schmalem Kopf und nach hinten gebündelten dunkelbraunen Haaren. Sie trug einen blauen Anorak und Stiefel, brachte einen neuen Schwall von frischer Luft herein und hatte kalte Hände. Sie lächelte demütig und entschuldigte sich mehrere Male für die Verspätung. Nachdem auch sie noch Tee und Kuchen genommen hatte, versuchte sie in deutscher Sprache, ebenfalls mit geringem Vokabular, in das sie oft englische Worte flickte, zu berichten, wo sie gewesen war und warum es so lange gedauert hatte. Inzwischen verabschiedete sich Natascha, denn ihr Mann und ihr kleiner Sohn warteten daheim auf sie. Dann holte Ira Bettzeug und Decken aus dem Schrank hervor, zeigte mir das Badezimmer, das tropfende Hähne und auch hinter dem Warmwasserhahn nur kaltes Wasser hatte, und die Toilette. Für ein oder zwei Stunden am Tag gab es heißes Wasser im Haus, erklärte Ira, aber man wisse nie genau, wann.
Die Nacht war kalt, die Decke unzureichend, mein eigener Wettermantel mit Plüschfutter ebenfalls keine große Hilfe, aber schließlich schlief ich doch kurz ein. Das Elektroheizgerät, das uns während des Organisationsgesprächs ein wenig Wärme gespendet hatte, brauchten Ira und Anja im Schlafzimmer, das größer und nordseitig gelegen war. Mir musste die von der Sitzung zurückgebliebene Körperwärme der Teilnehmer und die Teekannenwärme genügen, und als sich diese endgültig verflüchtigt hatte, wachte ich wohl wieder auf. Mir fielen die ersten eiskalten Nächte im Russlandfeldzug ein Anfang November 1941, in denen die Temperaturen gelegentlich schon auf minus zwanzig Grad abfielen. Schnee lag noch keiner. Wir schliefen in Zelten bei unseren Geschützen und froren bitterlich. Mit Autosuggestion hatte ich damals versucht, mir damals wenigstens die Füße warm zu machen, aber die Kälte war zu grimmig. Dabei sollte es im Winter 1941/4 noch viel ärger werden, aber ich entging dem durch eine Verwundung bei einem Tieffliegerangriff auf unsere Stellung. [>6]
Hier, in einer Moskauer Wohnung bei etwa plus acht Grad, gelang die autosuggestive Fußwärmung. Nur der Kopf beziehungsweise das Gesicht blieben kalt. Alles Deckenartige im Zimmer und im Koffer hatte ich schon eingesetzt, mein mitgebrachtes Handtuch für die Füße, aber von der Gastgeberin hatte ich ja noch ein Handtuch bekommen, das im Badezimmer hing. Das konnte ich mir über den Kopf breiten. Das half. Ich schlief wieder ein und wachte um etwa sechs Uhr, als es zu dämmern begann, vom Geschrei der Wellensittiche auf. Die Zeit musste ich erraten, denn meine Armbanduhr war mir auf dem Weg vom Flugplatz hierher abhanden gekommen. Ich hatte, auf dem Beifahrersitz im Auto platziert, in meiner Reisetasche zu meinen Füßen gekramt. Vielleicht war mir die Uhr dabei vom Handgelenk geglitten, aber es konnte auch schon bei den Hantierungen des Gepäcks während der Pass- und Zollkontrolle passiert sein, oder sogar noch im Flugzeug. Erst hier in Iras Wohnung hatte ich gestern abend den Verlust bemerkt.
An diesem ersten Morgen in Moskau, Freitag, dem 1. Oktober 1993, beeilte sich Ira, ein Frühstück für uns drei zuzubereiten. Wir saßen und aßen in der Küche am Fenstertisch. Es gab reichlich von allem, Brot, Butter, Käse, Wurst und Tee. Etwas nach acht Uhr früh zogen wir los, zehn Minuten zu Fuß bis zur Bushaltestelle, fünf Minuten Fußweg von der Bushaltestelle zur Untergrundbahn. In einem Fußgängertunnel, den wir dabei zu durchqueren hatten, standen oder saßen Menschen, in der Mehrzahl Frauen, die alles mögliche zum Kauf anboten, Kleidungsstücke, Decken, eine Lammfelljacke, Damenstrümpfe, Kosmetika, Eier, Wurst, ein gerupftes Huhn, Zigaretten, Armbanduhren. Wortlos und traurig standen die Menschen da. Wie früh hatten sie wohl begonnen, und wie lange würde es noch dauern, bis sie ihre Waren losgeworden waren, oder auch nicht?
Für die Untergrundbahnkarten mussten wir in einer langen Reihe anstehen. Früher einmal hatten sie zehn Kopeken gekostet, jetzt aber fünf Rubel, und elfhundert Rubel waren für einen einzigen Dollar zu haben. Auf dem freien Markt. Das stelle man sich vor. Zu Zeiten Cruschtschows oder Breschnjews war der Rubel noch vier Dollar wert gewesen, nach dem offiziellen Umrechnungskurs, und auf dem schwarzen Markt etwa einen Dollar. Jetzt konnte man für weniger als einen halben Cent in der Untergrundbahn fahren. Der Monatslohn für ungelernte Arbeiter waren [>7] fünftausend Rubel. Hochqualifizierte Arbeiter und Ingenieure konnten bis zu zwanzigtausend Rubel im Monat verdienen, also etwa achtzehn Dollar.
Mit den Karten gingen wir durch automatische Sperren, die angeblich nicht immer funktionierten, und dann fuhren wir auf einer ratternden Rolltreppe in eine Tiefe, wie ich sie bisher noch in keiner der mir bekannten Untergrundbahnen, auch nicht in New York und London, erlebt hatte. Beim Ein- und Aussteigen sowie in der Untergrundbahn selbst ging es nicht viel anders zu als anderswo, aber die Menschen waren ungewöhnlich. Alle waren gut gekleidet. Vielfältig und bunt, zum Teil salopp oder sportlich, zum Teil konventionell oder elegant. Angesichts der mutmaßlichen finanziellen Not der Mehrzahl aller Moskauer und ihrer Kapitalarmut - außer fast wertlos gewordenen Sparbüchern besaßen die meisten ja nichts, was irgendwelche Einkünfte abwarf - schienen sie ein besonderes Augenmerk auf Kleider gelegt zu haben. Hier wurde investiert. Davon hatte man etwas. Damit wurde man gesehen. Damit bekam man vielleicht eine Stelle, wenn man bereits arbeitslos war, oder eine bessere Stelle, wenn einem die bisherige nicht mehr genügte. Oder war das viel zu westlich gedeutet beziehungsweise phantasiert?
Interessanter waren die Gesichter selbst, die man während der Fahrt studieren konnte. Gelegentlich waren sie schön, aber fast immer markant, manchmal etwas breiter als in Westeuropa, aber dennoch europäisch in der Erscheinung und häufig stärker in der Ausdruckskraft. Selbst wenn es viele dieser Menschen nach westlichen Begriffen nicht sehr weit gebracht hatten und nicht viel besaßen, waren sie Persönlichkeiten. Sie schienen genügsamer, anspruchsloser, einsatzbereiter, wenn es darauf ankam oder jemand in Not war, toleranter und anteilnahmewilliger zu sein als man ihnen nach den Klischees von russischen Menschen der letzten fünfzig Jahre zugetraut hätte. Viel mehr Gesichter als in den Untergrundbahnen anderer Großstädte der Welt hätten Filmgesichter sein können. Film- und Fernsehregisseure würden hier aussichtsreicher als anderswo auf Fischzug nach Menschen aus dem Volke gehen können.
Ira hatte beim Frühstück und auf unseren Fußwegen zu den Öffentlichen Transportmitteln begonnen, mir ein bißchen über ihr tägliches Leben und ihren geschiedenen Mann zu erzählen, der aus der Familie fortgegangen war, weil ihm Iras Essen nicht geschmeckt hatte. Es enthielt nach seiner Meinung zu wenig Fleisch und zu viel Na- [>8] tur- und Rohkost. In der Untergrundbahn begann sie auch über ihre Herkunftsfamilie zu erzählen, aber das Gedröhne der Wagen auf der raschen Fahrt war so groß, dass ich sie kaum verstehen konnte. Hier schienen ihr auch die benötigten deutschen Worte noch langsamer einzufließen als daheim und unterwegs zu Fuß. So schwieg sie schließlich, und ich konnte meine Blicke unabgelenkt schweifen lassen. Manche versuchte ich mir einzuprägen. Ich hätte Lust gehabt, sie in ein paar Strichen zu zeichnen, obwohl ich seit vielen Jahren aus der Übung war. Photographieren hätte genügt, aber das durfte man wohl nicht, früher aus Spionagegründen und heute aus solchen des Taktes. Vielleicht hätten sich einzelne gerne photographieren lassen, aber ich hatte ja gar keine Kamera bei mir.
Einmal mussten wir noch in eine andere U-Bahn umsteigen, doch dann hatten wir unser Ziel erreicht. Wir stiegen in der Nähe des Monumentes der Raumfahrt wieder an die Oberfläche. Das Denkmal war ein riesiger schräg in den Himmel geschwungener stählerner Dorn mit einer ganz langen Spitze. Dann überquerten wir eine breite Straße mit mehreren Fahrbahnen in beide Richtungen, aber ohne Fahrbahnlinien wie auch anderswo auf den Autostraßen in Moskau, verständigten uns dabei durch Blicke mit den nicht sehr dicht fahrenden Kraftfahrzeugen und trafen schließlich im Akademieinstitut für Psychologie ein, einem mehrstöckigen Gebäude mit barocker Fassade. Ein etwa dreißigjähriger Mann, der in der Pforte saß, musste noch Erkundigungen im Hause einholen, bevor er uns einließ und für heute einen Hörsaal im Kellergeschoss zuwies. Morgen und übermorgen, Samstag, den 2. und Sonntag, den 3. Oktober, würden wir in vornehm ausgestatteten Sitzungsräumen im zweiten Stock des Gebäudes tagen.
Karl und Katja waren noch vor uns aus seinem Privatquartier hier angekommen, die Teilnehmer an unserem Workshop begannen sich im Hörsaal zu versammeln. Einführende Ankündigungen mit laufenden Übersetzungen ins Russische bereiteten die Teilnehmer auf den Ablauf der Lehrveranstaltungen vor. Wir begannen gedrucktes oder photokopiertes Lehrmaterial auszuhändigen. Da fast doppelt so viele Personen zu unserer Veranstaltung gekommen waren, als man uns angekündigt hatte, empfahlen wir, dass sich je zwei Teilnehmer die Materialien miteinander teilen sollten. Unter den Teilnehmern waren mehr Frauen als Männer -in psychotherapeutischen Fortbildungen keine ungewöhnliche Verteilung. Natascha, [>9] die in meinem Quartier mit mir auf die Ankunft Iras gewartet hatte, Ira selbst und Katja, die Tochter der Quartierfrau Karls, zählten dazu. Als Dolmetscher trat zuerst Sergeij Agratschew auf, der als Leiter der Russian Association of Practicing Psychologists für die Administration unseres Workshops insgesamt zuständig war und ausgezeichnet Englisch sprach. Er war ein mittelgroßer, blonder Russe von intellektuellem Elan. Auch seine Brillen waren blondgefasst. Schon am Nachmittag übernahm jedoch Anja Kasanskaya die Aufgabe des sukzessiven Übersetzens aus dem Englischen ins Russische und umgekehrt. Sie imponierte ebenfalls durch ein hervorragendes Englisch, durch die Klarheit und Präzision ihrer Diktion und ihrer Formulierungen, ihre zwanglose Selbstdisziplin, ihren Takt und ihr Einfühlungsvermögen. Sie war eine schlanke, hübsche, dunkelhaarige Person, Jemand wie sie hätte für eine Romangestalt Dostojewskys oder Tschechows ohne weiteres Pate gestanden haben können. Ihr fiel, wie sich bald herausstellte, der Löwenanteil des Dometschens zu. Marina Lewinsky sprang manchmal kurz für sie ein, reichte aber nicht an Anja heran. Ihr Takt und ihre Aufmerksamkeit waren etwas geringer, ihre Erscheinung eckiger und jedenfalls weniger romantisch. Sie fiel dadurch auf, dass sie mit längeren englischen Passagen im Russischen manchmal in ganz kurzer Zeit fertig war und umgekehrt manchmal lange brauchte, um eine kurze englische Passage ins Russische zu übersetzen. Sie schien es nicht so genau zu nehmen. Trotzdem war sie gut genug. Das fachliche Vokabular war auch ihr geläufig. Karl, der außer gelegentlich in der Diskussion erst gegen Ende des Workshops am Sonntag nachmittag, dem 3. Oktober 1993, auch als Vortragender auftrat, bediente sich dazu lieber der deutschen Sprache. Dafür stand ihm Swetja Schangina zur Verfügung, eine zierliche Person mit blondem, etwas aufgefärbtem, kugelrundem Kopf, die deutsch fast akzentfrei sprach, aber im Fachvokabular mitunter Mühe hatte. Während des gesamten Workshops war ich sozusagen der Hauptvortragende, Karl mein praktischer Beistand und ergänzender Kommentator. Nach einer einleitenden Verständigung über die wichtigsten und relativ klarsten Fachausdrücke, die nicht lange dauerte, hatten wir vor, einen Überblick über das Psychopathologieschema der Psychoanalyse zu bieten. Dieses war ja eines der greifbarsten, anschaulichsten und zugleich umfassendsten Beiträge Freuds, Abrahams und Fenichels zum Entwicklungsmodell der menschlichen Persönlichkeit, der psychischen Erkrankung und des psychotherapeutischen Umgangs mit der [>10] Krankheit. Dass die psychoanalytische Lehre und Forschung wissenschaftstheoretisch skeptisch zu beurteilen ist, wissen viele Psychoanalytiker und Psychotherapeuten im Westen gar nicht. Die psychoanalytisch und tiefenpsychologischen Begriffe, theoretischen Modelle und Schemata sind ja nicht übermäßig klar und eindeutig und widerspruchsfrei und empirisch verankert formuliert. Man kann aber immer noch besser und ergiebiger für die eigentliche psychotherapeutische Arbeit und deren Dokumentation mit diesen Begriffen und Modellen und Schematen umgehen als mit dem meisten, was andere psychotherapeutische Richtungen und Schulen in dieser Hinsicht hervorgebracht haben.
Unsere russischen Teilnehmer konnten solche Gesichtspunkte rasch verstehen und in kürzester Zeit mehr damit anfangen als manche Workshop-Teilnehmer in Europa oder in Nordamerika, mit denen Karl und ich oder ich allein im Laufe der letzten dreißig Jahre zu tun hatten. Die Fragen, die sie manchmal geltend machten und die sie uns dadurch Gelegenheit gaben zu zerstreuen, waren für uns beide eine Freude. An solchen Auseinandersetzungen konnten wir auch die hohe Qualität unserer Dolmetscher erkennen. Mit ihrer Hilfe erreichten wir offensichtlich von Anfang an ein klares theoretisches Einvernehmen und hatten mit dem Übergang zur Empirie und Praxis und Kasuistik überhaupt keine Schwierigkeiten.
Nehmen wir am besten gleich vorweg, wie wir die drei vollen Arbeitstage inhaltlich gestalten konnten. Dieser Bericht soll ja kein fachlicher Exkurs, sondern ein Erlebnisbericht anlässlich einer Lehr- und Fortbildungsaufgabe sein, die wir beide unter ungewöhnlichen Umständen übernommen hatten, und zwar in einem mutigen, geduldigen, wissenshungrigen und bisher teilweise von der Welt abgeschlossenen großen Land und Volk, das uns alle bis vor kurzem immer noch in Furcht versetzen konnte. Wie es dieses Volk und Land schaffen würde, erfolgreich und dauerhaft in die Demokratie und Selbstbestimmung aller seiner Mitbürger überzuwechseln, stand bisher noch nicht fest. Das Risiko des Scheiterns war nicht auszuschließen. Es oszillierte mitunter erheblich und war in diesen Tagen verhältnismäßig hoch. Karl und ich hatten in den letzten Wochen geschwankt, ob wir derzeit überhaupt nach Moskau kommen sollten, selbst wenn alle Formalitäten klappten, haben aber unsere Zweifel in den Wind geschlagen. Wer den zweiten Weltkrieg und die erste Nachkriegszeit miterlebt hatte, den konnte so leicht nichts mehr schrecken, versicherten wir uns, [>11] auch wenn diese Erfahrungen weit zurücklagen. Wir waren jedenfalls zuversichtlich losgeflogen.
Im Workshop gingen wir nun auf Familienstrukturen als Anwendungsgebiete des psychoanalytischen oder eigentlich jedweden "Entwicklungsmodells der menschlichen Persönlichkeit im sozialen Kontext" ein, auf die wichtigsten Störungsmöglichkeiten dieses Entwicklungsprozesses und auf Beispiele aus jenen umfangreichen empirischen Erhebungen über tausende von Familien, die ich während meiner amerikanischen Lehr- und Forschungstätigkeit eingeleitet und an großen Stichproben in Deutschland und in der Schweiz fortgesetzt hatte. Eigene Lebenserfahrungen der Workshop-Teilnehmer und Erfahrungen aus ihrer eigenen klinischen und psychotherapeutischen Arbeit kamen dabei ebenfalls zur Sprache.
Danach wurde der psychotherapeutische Prozess im Einzelgespräch und in den Modulationen, welche Gruppen- und Familiengespräche erfordern, unter die Lupe genommen und auf Gemeinsamkeiten unter verschiedenen Schulen der Psychotherapie durchgegangen, dann eine kleine Zahl von psychotherapeutischen Gesprächsführungsregeln diskutiert und in Beispielen erprobt. Schließlich gingen wir mit den Teilnehmern konkretes, aufgezeichnetes psychotherapeutisches Geschehen in Gesprächen von Paaren oder Familien von Intervention zu Intervention des Therapeuten durch, allmählich unter Auslassung jener Interventionen, die ohnedies klar waren. Andere therapeutische Interventionsmöglichkeiten als die vom Therapeuten oder der Therapeutin tatsächlich gebrauchten kamen dabei gegebenenfalls zur Sprache, Gründe für andere Interventionsmöglichkeiten wurden diskutiert und auf ihre Tauglichkeit und Nützlichkeit geprüft. In der überwiegenden Mehrzahl aller so untersuchten psychotherapeutischen Interventionen stimmten die Teilnehmer mit dem handelnden Psychotherapeuten und dessen mutmaßlichen Gründen letztendlich überein, und das umso mehr, je länger sie dem psychotherapeutischen Geschehen bereits gefolgt waren. Wir übten mit den Teilnehmern etwas wie Beobachterkonsens mit dem handelnden Psychotherapeuten, den Äußerungen der Klienten und deren Bedeutungen im Gesprächskontext der therapeutischen Situation und im alltäglichen Lebenskontext der Klienten. Wir erlebten dabei wachsendes Begreifen und freimütiges Einverständnis unter den Teilnehmern des Workshops.
korrigiert: 25.9.11