In memoriam Walter Toman 28.9.9
Ausgewählt und präsentiert von Irmgard Rathsmann-Sponsel
mit Dank an die Erben und den C.H.
Beck-Verlag
S. 48 - S. 53:
"6. Der versäumte Schulbus
Hedwig büffelte in der Mitte des Nachmittags am offenen Fenster
ihres Zimmers Pathologie, eines der großen Fächer im Hauptstudium
der Medizin, als sie etwas wie ein Weinen in der Ferne hörte. Das
Geräusch wurde allmählich lauter. Es entpuppte sich als ein Kindergeheule,
und als Hedwig sich aus dem Fenster beugte, sah sie ein etwa achtjähriges
Mädchen, das die Lupinenstraße heraufkam und bitterlich weinte.
Als es fast unter ihrem Fenster angekommen war, trat ihr ein Mann entgegen,
der sie etwas fragte, das Hedwig nicht verstehen konnte, vermutlich, wo
es denn brennt. Zu ihrer Überraschung erkannte sie den Mann als ihren,
Hedwigs, eigenen Vater, der offenbar soeben heimgekommen war. Und dann
hörte sie das Kind schluchzend geradezu schreien: „Mir ist der Schulbus
davongefahren."
„Das ist aber bedauerlich", antwortete Hedwigs Vater dem Mädchen.
„Wohin wolltest du denn mit dem Schulbus fahren?"
„Zum Neuen Marktplatz", antwortete sie schluchzend.
„Und was machst du dort?"
„Wir müssen singen."
„Wer ist wir?"
„Der Kinderchor."
„Wohin gehst du denn jetzt?"
„Nach Hause. Ich trau mich nicht heimzugehen."
„Wo wohnst du denn?"
„Lupinenstraße 60."
Das war etwa zwei Minuten von hier, flott gegangen, aber so wie das
kleine Mädchen sich bisher fortbewegt hatte, ganz versunken in sein
Unglück, hätte es fünf Minuten oder noch länger gedauert.
Der Neue Marktplatz dagegen war etwa zehn Autominuten entfernt,
„Soll dich jemand zum Neuen Marktplatz fahren?" fragte Hedwigs Vater.
Das Heulen des Mädchens, das während des Gesprächs schwächer
geworden war, aber nicht aufgehört hatte, verstummte schlagartig,
und sie nickte eifrig.
„Kann dein Vater oder deine Mutter dich hinfahren?"
Da brach das Heulen wieder los, und unter Schluchzen sagte sie: „Mein
Vater ist noch nicht daheim. Er hat das Auto."
„Da muß wohl ich dich rasch auf den Neuen Marktplatz fahren",
sagte Hedwigs Vater, doch an dieser Stelle meldete sich Hedwig von oben
und rief hinunter: „Vater, ich kann sie fahren, wenn du willst. Ich müßte
ohnedies zu Karin fahren."
Karin war Hedwigs gute Freundin. Sie wohnte jenseits des Neuen Marktplatzes.
Hedwigs Vater kannte und schätzte sie,
Der Vater blickte herauf, lachte und sagte dann zu dem kleinen Mädchen:
„Da wird dich meine Tochter fahren", und zu Hedwig: „Danke. Ich komme hinauf
und gebe dir die Autoschlüssel", und, mit der Hand zum Fenster weisend,
wieder zu dem kleinen Mädchen: „Sie wird gleich herunterkommen. Warte
noch ein bißchen. Es wird nicht lange dauern."
Das kleine Mädchen, sie hieß übrigens, wie sich später
herausstellte, Sabine W., war nun beruhigt, und als Hedwig bei ihr eintraf,
hatte Sabines Gesicht einen beinahe heiteren Ausdruck. Hedwig holte das
Auto, Sabine stieg ein und nahm fortan alles wie selbstverständlich.
Hedwig fragte, wie sie heiße und in welche Schulklasse sie gehe
und schließlich, wieso sie denn den Schulbus versäumt hätte.
„Ich hab nicht auf die Uhr gesehen", antwortete Sabine.
„Warst du allein zu Hause?"
„Nein, meine Mutter hat gebügelt."
„Hat sie nicht gewußt, daß du weg mußt?"
„Doch, aber ich muß selbst auf die Uhr sehen. Die Mutti hat gesagt,
sie kümmert sich nicht darum."
„Wieso denn das?"
„Weil ich schon alt genug bin. Sie weckt mich am Morgen nicht auf."
„Mußt du dir selbst das Frühstück machen?"
„Nein, es ist schon gedeckt, aber sie warten nicht auf mich."
[<49]
„Du kannst zum Frühstück kommen, wann du willst?"
Sabine bejahte es und Hedwig lachte: „Das hätte ich auch gerne
so gehabt. Als ich so alt war wie du, mußte ich immer pünktlich
zum gemeinsamen Frühstück kommen. Manchmal hätte ich gerne
länger geschlafen."
Diese Mitteilung machte keinen Eindruck auf Sabine. Eine Uhr trug Sabine
nicht am Arm, bemerkte Hedwig in einem ihrer kurzen Seitenblicke. Schließlich
fragte Hedwig: „Ich habe gehört, wie du vor unserem Haus zu meinem
Vater gesagt hast, daß ihr nur ein Auto habt. Wenn das Auto daheim
gewesen wäre, hätte dich dann deine Mutter oder dein Vater zum
Neuen Marktplatz gefahren?"
„Ich darf nicht zu spät kommen. Wenn ich zu spät komme, schimpfen
sie."
Das war zwar keine Antwort auf ihre Frage, aber vielleicht hatte Sabine
sie gar nicht richtig verstanden. Oder der Sachverhalt war ihr zu kompliziert.
Oder sie wollte nur nicht zugeben, daß keiner von den beiden sie
gefahren hätte.
„Gibt's auch manchmal Schläge?" fragte Hedwig statt dessen. Sabine
nickte. „Vom Vater?" frage sie weiter.
„Nein, von der Mutti."
„Ich sehe, daß du keine Armbanduhr trägst. Hast du zu Hause
eine Uhr?"
„Nein."
„Wie sollst du denn dann wissen, wie spät es ist?"
„Im Wohnzimmer ist die Uhr."
„Hast du ein eigenes Zimmer?" Sabine nickte. „Aber in deinem Zimmer
hast du keine Uhr?" Sabine schüttelte den Kopf.
„Was hast du denn gemacht, bevor du zum Schulbus gegangen bist? Oder
bist du gar nicht gegangen, sondern gelaufen?"
„Ich bin gelaufen. Der Schulbus ist gerade um die Ecke gebogen."
„Und weg war er, nehm ich an. Du Arme!" Und nach einer kleinen Pause,
die Sabine gutzutun schien, fragte Hedwig, während sie ihr kurz über
den Kopf strich: „Was hast du denn zu Hause gemacht, bevor du zum Schulbus
gegangen bist?"
„Meine Hausaufgaben für die Schule." [<50]
Gab es denn noch andere Hausaufgaben, fragte sich Hedwig im stillen.
Laut fragte sie indes: „Wo hast du denn deine Hausaufgaben gemacht?"
„In meinem Zimmer."
„Und in deinem Zimmer ist keine Uhr, sagst du?"
„Nein, die Uhr ist im Wohnzimmer."
„Das finde ich schwierig. Du sollst selbst auf die Zeit achten und
hast keine Uhr, weder auf deinem Arm noch in deinem Zimmer."
Sabine wußte darauf nichts zu sagen.
„Vielleicht sollst du dir zum nächsten Geburtstag oder zu Weihnachten
eine Uhr wünschen. Glaubst du, daß du da eine bekommen könntest?"
„Ich weiß nicht."
„Wirst du übrigens deinen Eltern erzählen", fuhr Hedwig nach
einer neuerlichen kleinen Pause fort, „daß du den Schulbus versäumt
hast und daß dich jemand zum Neuen Marktplatz gefahren hat?"
„Nein", antwortete Sabine rasch.
„Würde das Schläge geben?" Sabine nickte. „Von der Mutti,
aber nicht von deinem Vater?" Sabine nickte wieder.
„Da habe ich eine Idee", sprach Hedwig weiter. „Wenn du und deine Mutti
und dein Vater beisammen sind, vielleicht heute abend oder morgen beim
Frühstück oder am nächsten Sonntag, dann sagst du ihnen,
daß du den Schulbus versäumt hast und daß dich jemand
zum Neuen Marktplatz gefahren hat. Wenn sie dann schimpfen oder wenn deine
Mutti dich vielleicht sogar schlagen möchte - oder tut sie das nicht,
wenn dein Vater dabei ist? -, dann sagst du ihnen: Ich bin zu spät
gekommen, weil ich keine Uhr habe. Ich brauche entweder eine Uhr in meinem
Zimmer oder eine Armbanduhr. - Oder möchtest du keine Uhr?"
„Doch. Eine Uhr wäre schön."
Es war Hauptverkehrszeit, und so war Hedwig mit dem Auto nicht ganz
so rasch vorangekommen, wie sie gedacht hatte, aber nun waren sie schon
in der Nähe des Neuen Marktplatzes. Wenn sie noch ein Thema, das sich
hier ergeben hatte, anspre- [<51] chen wollte, mußte sie es sofort
tun. Sie fragte Sabine: „Übrigens, sollen eigentlich kleine Mädchen
mit jemand Fremden im Auto fahren?"
„Nein, das darf man nicht", antwortete Sabine mit Eifer.
„Sagen das deine Eltern?"
„Ja."
„Aber du tust es jetzt mit mir, und wenn ich nicht dabei gewesen wäre,
dann hätte dich mein Vater hierher gefahren."
Sabine blickte Hedwig etwas betroffen an und rückte auf ihrem
Sitz zur Türe, so als ob sie plötzlich so bald wie möglich
aussteigen wollte.
„Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, und vor meinem Vater hättest
du ebenfalls keine Angst haben müssen. Das weiß ich, und das
hätte ich dir gesagt. Doch deine Eltern haben recht. Kinder sollen
nicht mit Fremden gehen oder im Auto fahren. Nur, wie wärst du sonst
heute zu deinem Kinderchor gekommen. Das war heute eine Ausnahme. Und ganz
fremd sind wir uns auch nicht. Wir wohnen in der gleichen Nachbarschaft."
Hedwig war am Neuen Marktplatz angekommen, hielt an der Fußgängerzone
und half Sabine beim Aussteigen. Am anderen Ende des Platzes war eine Ansammlung
von Kindern und Jugendlichen und einigen Erwachsenen zu sehen. „Sind sie
das?" fragte Hedwig, und Sabine kniff die Augen zusammen, unwillkürlich,
wohl um schärfer zu sehen. Dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht.
Offenbar hatte sie jemand erkannt. „Elfi", murmelte sie, blickte Hedwig
noch einmal an und schoß wie ein Pfeil über den Platz.
Hedwig wartete, bis Sabine bei der Gruppe angekommen war. Mehrere Kinder
wandten sich ihr zu, und ein Erwachsener kam näher. Sie war angekommen
und aufgenommen, beschloß Hedwig, und nachdem der Erwachsene einmal
kurz zu ihr, Hedwig, herübergeblickt hatte, ging sie zurück zum
Auto. Hoffentlich kann Sabine sich bei den Eltern durchsetzen, sofern das
alles stimmt, was sie gesagt hatte, dachte Hedwig und murmelte „Armes kleines
Ding". Dann fuhr sie los. [<52]
Anmerkung
Das war tätige Hilfe im akuten Notfall, mit Versuchen, eventuelle
Gelegenheiten zu kleinen psychotherapeutischen Einflußnahmen zu nützen.
Der Notfall war eine Bagatelle, ein versäumter Autobus, die Reaktion
des betroffenen Kindes jedoch übermäßig. Sabines große
Furcht vor ihren Eltern wurde deutlich. Mußte das so sein, oder konnte
man dem irgendwo ein bißchen abhelfen?
Hedwig erkundete zuerst einiges über die häuslichen Verhältnisse
bei Sabine, glaubte zu erkennen, daß die Eltern recht streng mit
ihr umgingen und möglicherweise mehr Selbständigkeit von ihr
verlangten, als sie aufbringen konnte. Schließlich fand sie einen
realen Mangel in der Haushaltsorganisation, nämlich eine Uhr zu wenig.
An diesem Sachverhalt, den die Eltern eigentlich anerkennen müßten,
könnte Sabine ihr Plädoyer für mehr elterliche Gnade und
Wärme aufhängen, am besten, nachdem schon ein paar Tage vergangen
waren. Und wer Sabine in ihrer realen Not geholfen hatte, konnte sie ihren
Eltern zeigen. Vielleicht meldete sich Sabines Mutter oder ihr Vater bei
Hedwigs Familie, etwa um sich zu bedanken. Das wäre eines der guten
Zeichen, auf die man für Sabine hoffen durfte.
Kommunikationsdaten:
Nachdem
Walter Toman am Sonntag, den 28.9.2003 verstarb, haben wir die Kommunikationsdaten
herausgenommen.
Nachfolger von Prof. Toman am Institut für Psychologie I ist Prof.
Dr. Friedrich Lösel (Lehrstuhl 1)