Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=28.09.2009 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 14.09.15
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel  Stubenlohstr. 20   D-91052 Erlangen
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    In memoriam Walter Toman 28.9.9

    Ausgewählt und präsentiert von Irmgard Rathsmann-Sponsel
    mit Dank an die Erben und den C.H. Beck-Verlag
     

    S. 48 - S. 53:
    "6. Der versäumte Schulbus

    Hedwig büffelte in der Mitte des Nachmittags am offenen Fenster ihres Zimmers Pathologie, eines der großen Fächer im Hauptstudium der Medizin, als sie etwas wie ein Weinen in der Ferne hörte. Das Geräusch wurde allmählich lauter. Es entpuppte sich als ein Kindergeheule, und als Hedwig sich aus dem Fenster beugte, sah sie ein etwa achtjähriges Mädchen, das die Lupinenstraße heraufkam und bitterlich weinte. Als es fast unter ihrem Fenster angekommen war, trat ihr ein Mann entgegen, der sie etwas fragte, das Hedwig nicht verstehen konnte, vermutlich, wo es denn brennt. Zu ihrer Überraschung erkannte sie den Mann als ihren, Hedwigs, eigenen Vater, der offenbar soeben heimgekommen war. Und dann hörte sie das Kind schluchzend geradezu schreien: „Mir ist der Schulbus davongefahren."
    „Das ist aber bedauerlich", antwortete Hedwigs Vater dem Mädchen. „Wohin wolltest du denn mit dem Schulbus fahren?"
    „Zum Neuen Marktplatz", antwortete sie schluchzend.
    „Und was machst du dort?"
    „Wir müssen singen."
    „Wer ist wir?"
    „Der Kinderchor."
    „Wohin gehst du denn jetzt?"
    „Nach Hause. Ich trau mich nicht heimzugehen."
    „Wo wohnst du denn?"
    „Lupinenstraße 60."
    Das war etwa zwei Minuten von hier, flott gegangen, aber so wie das kleine Mädchen sich bisher fortbewegt hatte, ganz versunken in sein Unglück, hätte es fünf Minuten oder noch länger gedauert. Der Neue Marktplatz dagegen war etwa zehn Autominuten entfernt,
    „Soll dich jemand zum Neuen Marktplatz fahren?" fragte Hedwigs Vater.
    Das Heulen des Mädchens, das während des Gesprächs schwächer geworden war, aber nicht aufgehört hatte, verstummte schlagartig, und sie nickte eifrig.
    „Kann dein Vater oder deine Mutter dich hinfahren?"
    Da brach das Heulen wieder los, und unter Schluchzen sagte sie: „Mein Vater ist noch nicht daheim. Er hat das Auto."
    „Da muß wohl ich dich rasch auf den Neuen Marktplatz fahren", sagte Hedwigs Vater, doch an dieser Stelle meldete sich Hedwig von oben und rief hinunter: „Vater, ich kann sie fahren, wenn du willst. Ich müßte ohnedies zu Karin fahren."
    Karin war Hedwigs gute Freundin. Sie wohnte jenseits des Neuen Marktplatzes. Hedwigs Vater kannte und schätzte sie,
    Der Vater blickte herauf, lachte und sagte dann zu dem kleinen Mädchen: „Da wird dich meine Tochter fahren", und zu Hedwig: „Danke. Ich komme hinauf und gebe dir die Autoschlüssel", und, mit der Hand zum Fenster weisend, wieder zu dem kleinen Mädchen: „Sie wird gleich herunterkommen. Warte noch ein bißchen. Es wird nicht lange dauern."
    Das kleine Mädchen, sie hieß übrigens, wie sich später herausstellte, Sabine W., war nun beruhigt, und als Hedwig bei ihr eintraf, hatte Sabines Gesicht einen beinahe heiteren Ausdruck. Hedwig holte das Auto, Sabine stieg ein und nahm fortan alles wie selbstverständlich.
    Hedwig fragte, wie sie heiße und in welche Schulklasse sie gehe und schließlich, wieso sie denn den Schulbus versäumt hätte.
    „Ich hab nicht auf die Uhr gesehen", antwortete Sabine.
    „Warst du allein zu Hause?"
    „Nein, meine Mutter hat gebügelt."
    „Hat sie nicht gewußt, daß du weg mußt?"
    „Doch, aber ich muß selbst auf die Uhr sehen. Die Mutti hat gesagt, sie kümmert sich nicht darum."
    „Wieso denn das?"
    „Weil ich schon alt genug bin. Sie weckt mich am Morgen nicht auf."
    „Mußt du dir selbst das Frühstück machen?"
    „Nein, es ist schon gedeckt, aber sie warten nicht auf mich."  [<49]
    „Du kannst zum Frühstück kommen, wann du willst?"
    Sabine bejahte es und Hedwig lachte: „Das hätte ich auch gerne so gehabt. Als ich so alt war wie du, mußte ich immer pünktlich zum gemeinsamen Frühstück kommen. Manchmal hätte ich gerne länger geschlafen."
    Diese Mitteilung machte keinen Eindruck auf Sabine. Eine Uhr trug Sabine nicht am Arm, bemerkte Hedwig in einem ihrer kurzen Seitenblicke. Schließlich fragte Hedwig: „Ich habe gehört, wie du vor unserem Haus zu meinem Vater gesagt hast, daß ihr nur ein Auto habt. Wenn das Auto daheim gewesen wäre, hätte dich dann deine Mutter oder dein Vater zum Neuen Marktplatz gefahren?"
    „Ich darf nicht zu spät kommen. Wenn ich zu spät komme, schimpfen sie."
    Das war zwar keine Antwort auf ihre Frage, aber vielleicht hatte Sabine sie gar nicht richtig verstanden. Oder der Sachverhalt war ihr zu kompliziert. Oder sie wollte nur nicht zugeben, daß keiner von den beiden sie gefahren hätte.
    „Gibt's auch manchmal Schläge?" fragte Hedwig statt dessen. Sabine nickte. „Vom Vater?" frage sie weiter.
    „Nein, von der Mutti."
    „Ich sehe, daß du keine Armbanduhr trägst. Hast du zu Hause eine Uhr?"
    „Nein."
    „Wie sollst du denn dann wissen, wie spät es ist?"
    „Im Wohnzimmer ist die Uhr."
    „Hast du ein eigenes Zimmer?" Sabine nickte. „Aber in deinem Zimmer hast du keine Uhr?" Sabine schüttelte den Kopf.
    „Was hast du denn gemacht, bevor du zum Schulbus gegangen bist? Oder bist du gar nicht gegangen, sondern gelaufen?"
    „Ich bin gelaufen. Der Schulbus ist gerade um die Ecke gebogen."
    „Und weg war er, nehm ich an. Du Arme!" Und nach einer kleinen Pause, die Sabine gutzutun schien, fragte Hedwig, während sie ihr kurz über den Kopf strich: „Was hast du denn zu Hause gemacht, bevor du zum Schulbus gegangen bist?"
    „Meine Hausaufgaben für die Schule." [<50]
    Gab es denn noch andere Hausaufgaben, fragte sich Hedwig im stillen. Laut fragte sie indes: „Wo hast du denn deine Hausaufgaben gemacht?"
    „In meinem Zimmer."
    „Und in deinem Zimmer ist keine Uhr, sagst du?"
    „Nein, die Uhr ist im Wohnzimmer."
    „Das finde ich schwierig. Du sollst selbst auf die Zeit achten und hast keine Uhr, weder auf deinem Arm noch in deinem Zimmer."
    Sabine wußte darauf nichts zu sagen.
    „Vielleicht sollst du dir zum nächsten Geburtstag oder zu Weihnachten eine Uhr wünschen. Glaubst du, daß du da eine bekommen könntest?"
    „Ich weiß nicht."
    „Wirst du übrigens deinen Eltern erzählen", fuhr Hedwig nach einer neuerlichen kleinen Pause fort, „daß du den Schulbus versäumt hast und daß dich jemand zum Neuen Marktplatz gefahren hat?"
    „Nein", antwortete Sabine rasch.
    „Würde das Schläge geben?" Sabine nickte. „Von der Mutti, aber nicht von deinem Vater?" Sabine nickte wieder.
    „Da habe ich eine Idee", sprach Hedwig weiter. „Wenn du und deine Mutti und dein Vater beisammen sind, vielleicht heute abend oder morgen beim Frühstück oder am nächsten Sonntag, dann sagst du ihnen, daß du den Schulbus versäumt hast und daß dich jemand zum Neuen Marktplatz gefahren hat. Wenn sie dann schimpfen oder wenn deine Mutti dich vielleicht sogar schlagen möchte - oder tut sie das nicht, wenn dein Vater dabei ist? -, dann sagst du ihnen: Ich bin zu spät gekommen, weil ich keine Uhr habe. Ich brauche entweder eine Uhr in meinem Zimmer oder eine Armbanduhr. - Oder möchtest du keine Uhr?"
    „Doch. Eine Uhr wäre schön."
    Es war Hauptverkehrszeit, und so war Hedwig mit dem Auto nicht ganz so rasch vorangekommen, wie sie gedacht hatte, aber nun waren sie schon in der Nähe des Neuen Marktplatzes. Wenn sie noch ein Thema, das sich hier ergeben hatte, anspre- [<51] chen wollte, mußte sie es sofort tun. Sie fragte Sabine: „Übrigens, sollen eigentlich kleine Mädchen mit jemand Fremden im Auto fahren?"
    „Nein, das darf man nicht", antwortete Sabine mit Eifer.
    „Sagen das deine Eltern?"
    „Ja."
    „Aber du tust es jetzt mit mir, und wenn ich nicht dabei gewesen wäre, dann hätte dich mein Vater hierher gefahren."
    Sabine blickte Hedwig etwas betroffen an und rückte auf ihrem Sitz zur Türe, so als ob sie plötzlich so bald wie möglich aussteigen wollte.
    „Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, und vor meinem Vater hättest du ebenfalls keine Angst haben müssen. Das weiß ich, und das hätte ich dir gesagt. Doch deine Eltern haben recht. Kinder sollen nicht mit Fremden gehen oder im Auto fahren. Nur, wie wärst du sonst heute zu deinem Kinderchor gekommen. Das war heute eine Ausnahme. Und ganz fremd sind wir uns auch nicht. Wir wohnen in der gleichen Nachbarschaft."
    Hedwig war am Neuen Marktplatz angekommen, hielt an der Fußgängerzone und half Sabine beim Aussteigen. Am anderen Ende des Platzes war eine Ansammlung von Kindern und Jugendlichen und einigen Erwachsenen zu sehen. „Sind sie das?" fragte Hedwig, und Sabine kniff die Augen zusammen, unwillkürlich, wohl um schärfer zu sehen. Dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht. Offenbar hatte sie jemand erkannt. „Elfi", murmelte sie, blickte Hedwig noch einmal an und schoß wie ein Pfeil über den Platz.
    Hedwig wartete, bis Sabine bei der Gruppe angekommen war. Mehrere Kinder wandten sich ihr zu, und ein Erwachsener kam näher. Sie war angekommen und aufgenommen, beschloß Hedwig, und nachdem der Erwachsene einmal kurz zu ihr, Hedwig, herübergeblickt hatte, ging sie zurück zum Auto. Hoffentlich kann Sabine sich bei den Eltern durchsetzen, sofern das alles stimmt, was sie gesagt hatte, dachte Hedwig und murmelte „Armes kleines Ding". Dann fuhr sie los. [<52]

    Anmerkung
    Das war tätige Hilfe im akuten Notfall, mit Versuchen, eventuelle Gelegenheiten zu kleinen psychotherapeutischen Einflußnahmen zu nützen. Der Notfall war eine Bagatelle, ein versäumter Autobus, die Reaktion des betroffenen Kindes jedoch übermäßig. Sabines große Furcht vor ihren Eltern wurde deutlich. Mußte das so sein, oder konnte man dem irgendwo ein bißchen abhelfen?
    Hedwig erkundete zuerst einiges über die häuslichen Verhältnisse bei Sabine, glaubte zu erkennen, daß die Eltern recht streng mit ihr umgingen und möglicherweise mehr Selbständigkeit von ihr verlangten, als sie aufbringen konnte. Schließlich fand sie einen realen Mangel in der Haushaltsorganisation, nämlich eine Uhr zu wenig. An diesem Sachverhalt, den die Eltern eigentlich anerkennen müßten, könnte Sabine ihr Plädoyer für mehr elterliche Gnade und Wärme aufhängen, am besten, nachdem schon ein paar Tage vergangen waren. Und wer Sabine in ihrer realen Not geholfen hatte, konnte sie ihren Eltern zeigen. Vielleicht meldete sich Sabines Mutter oder ihr Vater bei Hedwigs Familie, etwa um sich zu bedanken. Das wäre eines der guten Zeichen, auf die man für Sabine hoffen durfte.
     



    Glossar, Anmerkungen und Fußnoten

    Kommunikationsdaten: Nachdem Walter Toman am Sonntag, den 28.9.2003 verstarb, haben wir die Kommunikationsdaten herausgenommen.
    Nachfolger von Prof. Toman am Institut für Psychologie I ist Prof. Dr. Friedrich Lösel (Lehrstuhl 1)



    Querverweise
    Standort: In memoriam 28.9.2009.
    *
    Überblick Walter Toman im Internet * Berufsbiographie und Literaturliste *



    Zitierung
    IP-GIPT (DAS). In memoriam 28.9.2009 Walter Toman: 6. Der versäumte Schulbus aus Psychotherapie im Alltag. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT.Erlangen: https://www.sgipt.org/lit/toman/im090928.htm
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     Ende  In memoriam 28.9.9_ Überblick_ Rel.Aktuelles_Rel. Beständiges_ Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ Service-iec-verlag_ Mail: sekretariat@sgipt.org_Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen



    Änderungen - wird unregelmäßig überarbeitet, in der Regel erscheint zum Todestag ein "In memoriam". Kleine Änderungen werden nicht extra dokumentiert.
    14.09.15    Linkfehler geprüft und korrigiert.