Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    IP-GIPT DAS=03.05.2009 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TT.MM.JJ
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel  Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Bücher, Literatur und Links zu den verschiedensten Themen, hier:

    Warum Menschen sich erinnern können
    Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung

    präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Bibliographie * Verlagsinfo * Inhaltsverzeichnis * Leseprobe * Ergebnisse * Bewertung * Links * Literatur * Querverweise *



    Bibliographie: Welzer, Harald &  Markowitsch, Hans J. (2006, Hrsg.). Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart: Klett-Kotta.  [Verlags-Info] Auflage: 1. Aufl. 2006. Ausstattung: gebunden mit Schutzumschlag, ca. 30 s/w-Abbildungen. Seiten: 360. ISBN: 3-608-94422-2. Preis EUR [D]  36.00 * SFr  63.00.



    Verlagsinfo: "
    International renommierte Gedächtnisforscherinnen und -forscher liefern einen einzigartigen Überblick über die neuesten Ergebnisse und Theorien zum menschlichen Gedächtnis.
        Das Buch stellt die neurobiologischen, philosophischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Sichtweisen vor und zeigt, wie das menschliche Gedächtnis arbeitet und wie fruchtbar interdisziplinäre Forschung ist.
        Augustinus hat das menschliche Gedächtnis als ein unerforschbares System von Schatzkammern beschrieben, aus dessen weiten Hallen und entlegenen Winkeln die Erinnerung hervorzerre, was über die Sinne vorher aufgenommen worden ist. Damit beschreibt er, was man heute die autobiographische Erinnerung nennt, also die Fähigkeit, Episoden der eigenen Vergangenheit mit einem gegenwärtigen Selbst zu verknüpfen. Die Hirnforschung hat inzwischen die Areale des Gehirns kartographiert und ein vernetztes System unterschiedlicher Gedächtnistypen entdeckt.
        Aus kulturgeschichtlicher Warte hingegen erscheint das Gedächtnis immer im Sozialen verknüpft. Harald Welzer spricht beispielsweise von der »sozialen Genese« des Gedächtnisses.
        Das Buch stellt die neurobiologischen, philosophischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Sichtweisen vor und zeigt, wie das menschliche Gedächtnis arbeitet und wie fruchtbar interdisziplinäre Forschung ist.
        Mit Beiträgen von: Aleida Assmann, Mark Freeman, Martin Conway, Tilmann Habermas, Harlene Hayne, Hans J. Markowitsch, Katherine Nelson, Michael Pauen, Johannes Schröder, Ulrich Seidl, Bradd Shore, Daniel Siegel, Wolf Singer, Colwyn Trevarthen, Endel Tulving, Marie Vanderkerckhove, Harald Welzer"



    Inhaltsverzeichnis

    Harald Welzer & Hans J. Markowitsch
    Reichweiten und Grenzen interdisziplinärer Gedächtnisforschung 7   [Leseprobe I]

    I. Soziales und individuelles Gedächtnis

    Daniel J. Siegel
    Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses. Ein Überblick 19

    Endel Tulving
    Das episodische Gedächtnis: Vom Geist zum Gehirn 50

    Katherine Nelson
    Über Erinnerungen reden: Ein soziokultureller Zugang zur Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses 78

    Aleida Assmann
    Wie wahr sind unsere Erinnerungen?  95  [Leseprobe I]

    Harald Welzer
    Über Engramme und Exogramme. Die Sozialität des autobiographischen Gedächtnisses 111

    Mark Freeman
    Autobiographische Erinnerung und das narrative Unbewußte  129

    Bradd Shore
    Die soziale Praxis des autobiographischen Erinnerns: Das Salem Camp Meeting  144

    Michael Pauen
    Das Gedächtnis der Freiheit. Autobiographische Erinnerung, Selbstkonzept und Selbstbestimmung 167

    II. Entwicklung und Entwicklungsstörungen des Gedächtnisses

    Bennett L. Schwartz
    Annäherungen an eine vergleichende Psychologie des episodischen Gedächtnisses  187

    Harlene Hayne
    Die Entwicklungspsychologie des autobiographischen Gedächtnisses 189 [Leseprobe III]

    Colwyn Trevarthen
    Wer schreibt die Autobiographie eines Kindes? 225

    Tilmann Habermas
    »Kann ich auch ganz, ganz am Anfang anfangen, als ich noch ganz klein war?«
    Wie Kinder und Jugendliche lernen, Lebenserzählungen zu eröffnen und zu beenden 256

    Wolf Singer
    »Was kann ein Mensch wann lernen?«  276

    Ulrich Seidl, Hans J. Markowitsch & Johannes Schröder
    Die verlorene Erinnerung: Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei leichter kognitiver Beeinträchtigung und Alzheimer-Demenz  286

    Hans J. Markowitsch
    Emotionen, Gedächtnis und das Gehirn. Der Einfluß von Streß und Hirnschädigung auf das autobiographische Erinnern 303

    Marie M. P. Vandekerckhove, Christian von Scheve & Hans J. Markowitsch
    Selbst, Gedächtnis und autonoetisches Bewußtsein  323

    Die Autorinnen und Autoren  344



    Leseproben:
    Leseprobe I: Aus: Gedächtnis als Konvergenzzone zwischen den Disziplinen.
    Leseprobe II aus: Wie wahr sind unsere Erinnerungen.
    Leseprobe III Mögliche Ursachen kindlicher Amnesie aus: Die Entwicklungspsychologie des autobiographischen Gedächtnisses

    Leseprobe I aus: "2. Gedächtnis als Konvergenzzone zwischen den Disziplinen
    Bevor wir auf die Probleme interdisziplinärer Forschung einerseits und unsere Ergebnisse andererseits zu sprechen kommen, noch ein paar allgemeinere Bemerkungen zur Wahl unseres Forschungsgegenstandes: Die Themen Gedächtnis und Erinnerung erfreuen sich seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert einer anscheinend immer noch steigenden Konjunktur - und zwar über die Grenzen zwischen den natur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen hinweg und bis in Alltagsdiskurse hinein. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: So machen die Kontingenzbedingungen und Gestaltungszwänge von Lebensläufen in hochindividualisierten Gesellschaften eine permanente Auseinandersetzung mit der persönlichen Vergangenheit erforderlich. Ähnliches gilt, wenn Kollektive auf Geschichtsbestände Bezug nehmen (vgl. die Beiträge von Assmann und Shore in diesem Band). Besonders die Systemtransformationen Ende des 20. Jahrhunderts haben dabei offenbar ein wachsendes Bedürfnis nach historischer Selbstvergewisserung und Neuerfindung hervorgerufen. Schließlich hängt das wachsende Interesse am Phänomen Gedächtnis mit den altersdemographischen Veränderungen in den meisten westlichen Gesellschaften zusammen: Es gibt - und zwar mit steigender Tendenz - mehr Menschen, die eher zurück - als nach vorn blicken, und die altersbedingten Gedächtnispathologien stellen die Gesundheits- und Sozialpolitik vor Aufgaben, deren Tragweite heute noch gar nicht recht überblickt wird (Seidl et al. in diesem Band).
        Zudem hat die Medizintechnik vor einigen Jahren sogenannte bildgebende Verfahren bereitgestellt, mit deren Hilfe Gehirnaktivitäten »sichtbar« gemacht werden können, was die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung mit einem enormen Schub versehen hat. Während man zuvor auf Tests, Tierversuche und hirngeschädigte Patienten angewiesen war, um Gedächtnissysteme und -funktionen zu differenzieren, haben die Abbildungsmöglichkeiten von aufgabenbezogenen Aktivitätsmustern im Gehirn zu so gewaltigen Fortschritten in der Forschung geführt, daß das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zum »Jahrzehnt des Gehirns« ausgerufen wurde und die Neurowissenschaften seither Erklärungsansprüche für Fragen des Bewußtseins, des Willens und des Gedächtnisses für sich reklamieren, die zuvor den Geistes wissenschaften vorbehalten zu sein schienen.
    Die Fortschritte in der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung sind in der Tat beeindruckend. Wir können mit den Verfahren der Bildgebung inzwischen unterschiedlichste Verarbeitungsformen von Gedächtnisaktivitäten differenzieren: Wir können zum Beispiel emotionale von neutraler Erinnerung unterscheiden Markowitsch in diesem Band), wir können eine Reihe unterschiedlicher Gedächtnissysteme mit ganz verschiedenen Funktionen identifizieren (Tulving in diesem [>10]Band), wir können die Verarbeitung fremdsprachlicher und muttersprachlicher Erinnerungserzählungen auf Hirnebene unterscheiden und vieles mehr. Wir können die Rolle der verschiedenen Gehirnorgane wie Hippocampus, Amygdala und Thalamus bei der Einspeicherung, Aufbewahrung und beim Abruf von Erinnerungen viel besser verstehen als früher, und wir können auch, wie unser Projekt zeigt, Verarbeitungsprozesse von Erinnerungsinhalten je nach dem Lebensalter der sich erinnernden Person differenzieren. Dies alles ist nicht nur wissenschaftlich interessant, sondern bietet eine Menge Ansatzpunkte für verbesserte medizinische Interventionen von der Mikrochirurgie bis hin zur Therapie von Alzheimerpatienten oder Epileptikern.
        Daß die Neurowissenschaften mit ihren Befunden in die Kernbereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften (Pauen in diesem Band) eindringen, scheint uns eine begrüßenswerte Entwicklung: Denn erstens können diese Wissenschaften von den Erkenntnissen der Neurowissenschaften im Bereich der Geistes-, Bewußtsems und Gedächtnisforschung ungeheuer profitieren, und zweitens können sie die neurowissenschaftlichen Befunde mit ihren Mitteln viel besser kontextualisieren und hinsichtlich ihrer Reichweite einschätzen, als das die Neurowissenschaftler allein könnten. Gedächtnis bildet eine Konvergenzzone zwischen den Disziplinen, und wir möchten kurz benennen, wo aus unserer Sicht die Konvergenzen im einzelnen liegen.
        Die Neurowissenschaften sprechen eigentlich nicht über Geist, Bewußtsein oder Gedächtnis, sondern über »Information«, die in den neuronalen Netzwerken des Gehirns prozessiert wird. Menschliche Gehirne verarbeiten nun aber nicht nur Informationen im Sinne von reaktionsauslösenden Wahrnehmungsreizen, sondern vor allem Bedeutung tragende Wahrnehmungen. Die Fähigkeit, einer Wahrnehmung Bedeutung zu geben, ist wiederum etwas, das nur Menschen eigen ist: Zwischen die unmittelbare Abfolge von Reiz und Reaktion, Impuls und Handlung schiebt sich hier ein Vorgang der Interpretation, der ein optimiertes Ausnutzen der gegebenen Handlungsmöglichkeiten erlaubt. Zwar messen auch Tiere bestimmten Signalen bestimmte »Bedeutungen« bei - sonst würde der Pawlowsche Hund keinen Speichel absondern, wenn die Glocke klingelt -, aber das ist keine reflexive Bedeutung im menschlichen Sinn, sondern Ergebnis von Konditionierungslernen: Dem Hund ist dabei keineswegs bewußt, daß er Appetit bekommt, weil die Glocke läutet, sondern er hat lediglich eine Reizverknüpfung gelernt.
    Reflexive Bedeutung ist nichts, was die Natur bereitstellt, sondern sie wird sozial und kulturell gebildet, und zwar in der Interaktion zwischen einem Kind und seiner sozialen Umwelt. Im Fall des menschlichen Gehirns haben wir es bei dem, was unser Bewußtsein und unser Gedächtnis bewegt und unseren Willen motiviert, also mit [>11] sozial und kulturell gebildeten Bewußtseins- und Gedächtnisinhalten zu tun, die unsere Wahrnehmung von Welt und damit auch das, was wir erinnern, nach Kriterien von Sinn und Bedeutung selektieren.
        Es ist schwer vorstellbar, daß wir auf der Grundlage des Informationsbegriffes ein hinreichendes Verständnis vom menschlichen Gedächtnis gewinnen können. Sich zu erinnern, sich etwas vorzustellen, etwas zu bewerten, etwas zu planen - all das setzt nicht nur Information voraus, sondern eben die Bedeutung, die der Information gegeben wird. An dieser Stelle ist es unabdingbar, die neurowissenschaftliche Perspektive um eine sozialwissenschaftliche zu erweitern: Sobald man sich für Gedächtnisinhalte interessiert, befindet man sich in einer Konvergenzzone zwischen den Disziplinen.
        Bedeutungen werden nun aber nicht individuell entwickelt oder erworben, sondern in Prozessen sozialer Interaktion - im Zusammensein mit anderen - vermittelt. Katherine Nelson hat in einer inzwischen klassischen Studie dargelegt, wie ein kleines Mädchen sich in der Interaktion mit seinen Eltern die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke erschließt (vgl. auch Nelson in diesem Band), und wir verfügen inzwischen über eine Unzahl von Untersuchungen darüber, wie die Interaktion mit kleinen Kindern das prägt, woran sie sich später erinnern (vgl. auch die Beiträge von Habermas, Hayne, Siegel und Trevarthen in diesem Band). Um also zu verstehen, wie Bedeutung konstituiert wird und damit zum Beispiel unterscheidbar wird, welche Information wichtig oder unwichtig, welches potentielle Verhalten funktional bzw. dysfunktional ist, müssen wir den sozialen Vorgang der interaktiven Herstellung und Weitergabe von Bedeutung verstehen,
        Bedeutung wird nun aber nicht von jeder Generation neu erfunden, sondern intergenerationell tradiert, weiter ausgeformt, ausgehandelt, modifiziert. Essentiell dafür ist Kornmunikation (Freeman in diesem Band). Ein Gehirn allein ist konstitutiv überhaupt nicht in der Lage, Bedeutung zu bilden; es bliebe an voreingestellte Reaktionsmuster gebunden und könnte diese allenfalls, wie es bei Tieren der Fall ist, durch Erfahrungslernen und Beobachtung modifizieren und optimieren (Schwartz in diesem Band). ...
      ..."

    Leseprobe II aus: Wie wahr sind unsere Erinnerungen ?

    "Zusammenfassung
    Wie wahr sind unsere Erinnerungen? Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort, aber dafür ein neues Bewußtsein für Differenzierungen, von denen ich hier einige vorstellen wollte. Aus der Perspektive der Neurophysiologie gibt es keine Grundlage für die Rede von Authentizität. Das hat Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main, in der Rede, die er vor dem 43. Historikertag gehalten hat, noch einmal bestätigt. Erinnerungen bezeichnete er in dieser Rede als »datengestützte Erfindungen« (Singer, 2000, S. 10, Spalte 6). Das menschliche Gedächtnis, so führte er aus, sei von Natur aus auf Anpassung an eine veränderte Umwelt ausgerichtet und nicht auf exakte Speicherung. Die Hirnforschung hat gezeigt, daß jede Reaktivierung einer Gedächtnisspur zugleich eine Neueinschreibung ist, die die Ersterfahrung notwendig überformt. Aber auch hier gibt es Unterschiede und Grade der Festigkeit von Erinnerungen, die etwas mit der [>108] Prägnanz der Wahrnehmung und, damit verbunden, der emotionalen Kraft und Tiefe einer Erfahrung zu tun haben. Als ein Modus, bei dem ausnahmsweise verhältnismäßig genau gespeichert wird, kann die Blitzlicht-Erinnerung gelten, die Situationen und Szenen einer epochalen und kognitiven Wende über lange Zeit in ungewöhnlicher Detailliertheit und Konturenschärfe festhält.
        Wir sind heute konfrontiert mit den Ergebnissen der Hirnforschung und kognitiven Psychologie, die in großem Umfang und an immer neuen Beispielen die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen nachweisen. Angesichts dieser Befunde erscheint die Frage nach der Authentizität von Erinnerungen bereits verfehlt. Wir befinden uns derzeit in einer Phase der kritischen Reflexion, der Skepsis, der Dekonstruktion von Erinnerung. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie wir mit diesen neuen Einsichten umgehen. Ein Beispiel ist die Position des Mittelalter-Historikers Johannes Fried, der die neue Hirnforschung beim Wort nimmt, was die Fundamente der Geschichtsforschung zusammenbrechen laßt. Wenn Menschen keine zuverlässigen Erinnerungen produzieren können, gibt es auch keine zuverlässigen Quellen, auf denen das Gebäude der Geschichtsschreibung errichtet werden könnte, weil am Anfang aller historischen Erfahrung der Augenzeuge steht.
        Diese Dramatisierung des Problems, die aus einer unmittelbaren Konfrontation von Hirnforschung und Geschichtswissenschaft hervorgeht, scheint mir jedoch etwas übertrieben. Wir können die naturwissenschaftlichen Ergebnisse kaum so wörtlich und ohne Augenmaß auf eine Geisteswissenschaft übertragen. In der Regel sind Erinnerungen keiner Realitätsprüfung ausgesetzt, weil wir für subjektive Erlebnisse dokumentarische Evidenz weder haben noch brauchen. Sie sind zunächst apodiktisch und authentifizieren sich selbst. Es kommt nicht immer auf die Wahrheit einer Erinnerung an; in einem geselligen Kontext zum Beispiel ist die Pointe einer schönen Geschichte wichtiger als die Faktizität des Erlebten; im Rahmen eines autobiographischen Rückblicks wird das Erlebte zwangsläufig umgedeutet und in einen neuen Zusammenhang gebracht, der das jeweilige Selbstbild stützt. Erinnerungen existieren jedoch nicht nur im Gehirn, sondern sind auch mit der Sozialsphäre und der Objektwelt vertäut, was ihnen einen zusätzlichen Rückhalt gibt sowie Korrekturmöglichkeiten zuläßt und die Frage nach der Wahrheit auf eine andere Ebene hebt.
        Hier fallweise eine gewisse Skepsis anzubringen muß jedoch noch nicht heißen, die Wahrheit von Erinnerungen pauschal in Frage zu stellen. Immerhin gibt es bestimmte institutionelle Kontexte, in denen es weiterhin auf die faktische Wahrheit des Erinnerten ankommt; das ist z. B. der Fall bei der Anamnese im Sprechzimmer des Arztes oder bei der Zeugenaussage vor Gericht. Die Situation vor Gericht kennt nur zwei Aussageformen: die Wahrheit und die Lüge, weshalb das Wahrheitspro[>109]blem dort als eine ethische Entscheidung aufgefaßt und mit einem Eid gelöst wird. Durch die Verknüpfung der Erinnerung mit dem Aussagemodus des Zeugnisses unterliegt sie einem emphatischen faktischen oder biographischen Wahrheitsanspruch. Auf den Wahrheitsanspruch unserer Erinnerungen pauschal zu verzichten würde bedeuten, daß wir uns in eine Alzheimergesellschaft verwandeln, in der keine Versprechungen mehr gemacht und keine Schulden mehr beglichen werden. Die Unzuverlässigkeit unseres Gedächtnisses in Rechnung zu stellen heißt keineswegs, daß wir uns als Personen und Mitmenschen von Wahrheitsfragen in bezug auf unsere Erfahrungen gänzlich lösen könnten. Deshalb prüfen wir weiterhin unsere eigenen Erinnerungen und begleiten sie durch einen selbstreflexiven Diskurs, von dem ich hier einige Beispiele vorgestellt habe. Dieser Diskurs, der zwischen Retention und Konstruktion, zwischen Authentizität und Erfindung oszilliert, ist notwendig, urn eigene Erfahrungen zu bewerten und sich in der realen Welt zu verankern. Authentizität ist, so gesehen, weniger eine Tatsache als ein Argument, das unverzichtbar ist für die Realitätsprüfung und Selbstvergewisserung individueller Identität. In dieser Funktion eines Anspruchs ist Authentizität offensichtlich unverzichtbar, wenn auch, wie wir gesehen haben, nicht unumstritten."
     

    Leseprobe III Mögliche Ursachen kindlicher Amnesie aus:
    Die Entwicklungspsychologie des autobiographischen Gedächtnisses

    "Schlußfolgerungen
    Was sagen uns die hier beschriebenen Ergebnisse über die möglichen Ursachen kindlicher Amnesie? Aus meiner Sicht schließen sie jede Erklärung kindlicher Amnesie aus, die darauf beruht, daß sich in der Art der Verarbeitung von Erinnerungen (memory processing) qualitativ etwas ändert. Die Erkenntnis, daß bereits sechs Monate alte Kinder ein Erinnerungsvermögen (memory skills) besitzen, das die Definitionskriterien von deklarativem Gedächtnis erfüllt, läßt Zweifel an der Vorstellung aufkommen, daß kindliche Amnesie eine Folge des Unvermögens der kleinen Kinder ist, Information in einem deklarativen Format abzuspeichern. Zudem hat die sowohl auf das Paradigma der gepaarten Verstärkung wie auch auf das der verzögerten Nachahmung aufbauende Forschung durchgängig ergeben, daß Veränderungen im Kodieren, Behalten und Abrufen graduell als Funktion des Alters zu betrachten sind. Diese graduellen Veränderungen schließen eine Erklärung von kindlicher Amnesie aus, die von einem abrupten, ein Entwicklungsstadium abschließenden Übergang zu einem nächsten Stadium der Verarbeitung von Erinnerungen ausgeht.
        Ich stimme mit Spear (1979) überein, daß eine einwandfreie Erklärung von kindlicher Amnesie von der sorgfältigen Untersuchung der Gedächtnisentwicklung an sich abhängt. Die uns bis dato zur Verfügung stehenden Forschungsergebnisse weisen auf drei an Erinnerung gebundene Entwicklungen hin, die Kindern helfen, im Laufe ihres dritten Lebensjahrs die Hürde der kindlichen Amnesie zu nehmen. Erstens nimmt die Geschwindigkeit, mit der kleine Kinder Informationen aufnehmen, mit dem Alter zu. Ältere Kleinkinder bilden - unter denselben Bedingungen - vielfältigere Gedächtnisrepräsentationen als ihre jüngeren Gefährten. An das Alter gebundene Unterschiede in der Geschwindigkeit, mit der Informationen aufgenommen werden, beeinflussen wahrscheinlich auch den Abruf von Erinnerungen. Das heißt, daß die Fähigkeit von Kindern, Abrufsignale aus der Umwelt (retrieval cues) zu erkennen, eindeutig als eine Funktion des Alters zunimmt - genauso wie [>] ihre Fähigkeit, zwischen einem Umweltsignal und einem bestimmten Aspekt einer Erinnerung eine Verbindung herzustellen. Diese Faktoren steigern die Effizienz des Abrufs von Erinnerungen und erhöhen zunächst einmal die Wahrscheinlichkeit, daß er überhaupt stattfindet.
        Zweitens nimmt mit dem Alter die Behaltensspanne (retention interval), in der die Erinnerungen der Kinder abrufbar bleiben, enorm zu. Zwar ist die absolute Dauer unterschiedlich, da die Behaltensspanne je nach Kontext variiert. Innerhalb desselben Kontextes - derselben Aufgabe - jedoch verbessert sich die Merkfähigkeit der Kinder um den Faktor 6 (Herbert & Hayne, 2000a) im Laufe der ersten beiden Lebensjahre (Hartshorn et al., 1998). Allein diese Entwicklung könnte kindliche Amnesie schon erklären. Wenn sich in der frühen Kindheit Vergessen in einem Zeitraum von Tagen oder Wochen abspielt, kann es kaum überraschen, daß diese Erinnerungen nicht mehr zu finden sind, wenn wir versuchen, sie nach Jahren (oder Jahrzehnten) wieder aufzurufen. Im Laufe der Entwicklung wird die Vergessenskurve zunehmend flacher, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß eine bestimmte Erinnerung auch noch nach sehr langen Zeiträumen zugänglich ist. Zudem haben Studien, die mit Erinnerungshilfen (reminder procedures) arbeiten, gezeigt, daß die Verfügbarkeit dieser Repräsentationen abhängig vom Alter ganz beträchtlich variiert. Ältere Kinder rufen ihre Erinnerungen schneller ab (Boiler, Rovee-Collier, Borovsky, O'Connor & Shyi> 1990; Fagen & Rovee-Collier, 1983; Hildreth & Rovee-Collier, 1999), nach längerer Zeit (Greco et al., 1986; Hildreth & Rovee-Col-lier, 2002), und sie vergessen sie weniger schnell, wenn die Erinnerung einmal wie-[>]dererlangt ist (Hildreth & Rovee-Collier, 2002). Jede dieser Veränderungen für sich oder alle zusammengenommen können dramatische Auswirkungen auf die Langzeiterinnerung haben.
        Drittens kommt es im Laufe der frühen Kindheit mit zunehmendem Alter auch zu einer größeren Flexibilität beim Abruf von Erinnerungen. Säuglinge erinnern sich nur dann, wenn die Kontextbedingungen denen der ursprünglichen Situation gleichen. Wird etwas an den Abrufreizen oder am Kontext verändert, stört dies die Erinnerung oder verunmöglicht sie. Dieses hohe Maß an Spezifität der Umweltsignale, die notwendig sind, um bei Säuglingen Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen, läßt vermuten, daß es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, frühe Erinnerungen durch äußere Signale oder in Kontexten wiederzuerlangen, die nicht Teil der ursprünglichen Erfahrung waren. So betrachtet, werden unsere Erinnerungen vielleicht schon in der frühen Kindheit weder abgerufen noch ausgedrückt, und gehen, weil sie nicht gebraucht werden, schließlich verloren.
        Ältere Kleinkinder nutzen, abhängig sowohl von Reifungsprozessen wie von Erfahrungen, zunehmend mehr und unterschiedliche Signale, um in einer größerer. Bandbreite von Situationen Zugang zu ihren Erinnerungen zu finden. Da der Abruf von Erinnerungen in der frühen Kindheit immer flexibler wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß einzelne Erinnerungen wieder auftauchen; werden sie wiederholt abgerufen, wird sich schlußendlich auch die Behaltensspanne erweitern (Hartshorn, 2003; Hayne, 1990; Hudson, 1990).
        Wie beeinflußt der Spracherwerb die kindliche Amnesie? Vor dem Hintergrund des Entwicklungsmodells, das in Abbildung 5 skizziert wird, spielt der Spracherwerb zumindest in zweierlei Hinsicht eine wichtige Rolle in der Gedächtnisentwicklung. Zum einen erhöht die Fähigkeit von Kindern, Informationen in einer sprachlichen Form aufzunehmen, zweifellos sowohl die Qualität als auch die Dauer einer gegebenen Repräsentation. Des weiteren vergrößert ihre Fähigkeit, sprachliche Signale zu nutzen, höchstwahrscheinlich die Bandbreite von Situationen, in denen sie eine spezifische Erinnerung erfolgreich abrufen können. So gesehen, trägt Sprache entweder als ein Merkmal des Erinnerten zum Ende der kindlichen Amnesie bei oder als ein erinnerungsaktivierender Reiz wie jeder andere Reiz auch, Die bedeutsame Rolle von Sprache für die menschliche Kognition bringt es jedoch mit sich, daß die Fähigkeit, unsere Vergangenheit zu erinnern, exponentiell mit der Möglichkeit ansteigt, Erinnerungen mittels Sprache abzuspeichern und wieder abzurufen.
        Einige der neueren Theorien zur kindlichen Amnesie beruhen auf der Vorstellung, daß es im Laufe des Lebens zu qualitativen Veränderungen in der Verarbeitung von Erinnerungen kommt (Howe & Courage, 1993,1997; Nelson &; Fivush, 2004i. Im Unterschied dazu würde ich die These aufstellen, daß einfache quantitative Ver[>221]änderungen in grundlegenden Gedächtnisprozessen zur Zeit die einfachste und sparsamste Erklärung kindlicher Amnesie liefern. Entwicklungen in den höheren kognitiven Fähigkeiten tragen zum Abbau der kindlichen Amnesie bei, indem sie das Kodieren, Behalten und Abrufen unserer früheren Erfahrungen beeinflussen."
     



    Bewertung: Das Buch, ausdrücklich als interdisziplinäres Werk ausgerichtet, enthält eine bunte Mischung neuroscientologischer Mythen, z.B. etwa, dass die "wirkliche" Erforschung des Gehirns erst seit den bildgebenden Verfahren möglich sein soll; viele interessante Befunde (z.B. Kindliche Amnesie im Artikel Die Entwicklungspsychologie des autobiographischen Gedächtnisses), aber auch fragwürdige Artikel, z.B.: Wie wahr sind unsere Erinnerungen? Hier fehlt jedes aussagepsychologisches Grundlagenwissen, was bei einer gelernten Anglistin und Ägyptologin auch nicht zu erwarten ist. Aber weshalb muss sie sich über einen Gegenstandsbereich äußern, von dem sie keine wirkliche Ahnung hat und was haben sich die Herausgeber dabei gedacht? Warum schreibt sie nicht über ihr Gebiet "Das kulturelle Gedächtnis", das ja auch sehr interessant ist und die Idee der Interdisziplinarität viel besser ausgefüllt hätte? Ziemlich missglückt erscheint mir auch "Eine allgemeine Definition des Gedächtnisses" in der Arbeit von Siegel. Dort heißt es S. 20: "Das Gedächtnis kann im weitesten Sinne als die Art und Weise definiert werden, in der vergangene Ereignisse zukünftiges Handeln bestimmen", recht nützlich hingegen seine Übersichtstabelle S. 25 "Formen und Charakteristiken des Gedächtnisses". Das Buch hat einen attraktiven, kurzen und bündigen Titel: "Warum Menschen sich erinnern können". Schön wäre eine kurze und bündige Antwort in einer Zusammenfassung am Ende gewesen.



    Links (Auswahl: beachte)

    Literatur (Auswahl)
    Die Artikel enthalten - teils umfangreiche - Literaturverzeichnisse.



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten
    ___
    Bewertung. Bewertungen sind immer subjektiv, daher sind wir in unseren Buchpräsentationen bemüht, möglichst viel durch die AutorInnen selbst sagen zu lassen. Die Kombination Inhaltsverzeichnis und Zusammenfassungen sollte jede kundige oder auch interessierte LeserIn in die Lage versetzen selbst festzustellen, ob sie dieses oder jenes genauer wissen will.  Die BuchpräsentatorIn steht gewöhnlich in keiner Geschäftsbeziehung zu Verlag oder den AutorInnen; falls doch wird dies ausdrücklich vermerkt. Die IP-GIPT ist nicht kommerziell ausgerichtet, verlangt und erhält für Buchpräsentationen auch kein Honorar. Meist dürften aber die BuchpräsentatorInnen ein kostenfreies sog. Rezensionsexemplar erhalten. Die IP-GIPT gewinnt durch gute Buchpräsentationen an inhaltlicher Bedeutung und Aufmerksamkeit und für die PräsentatorInnen sind solche Präsentationen auch eine Art Fortbildung - so gesehen haben natürlich alle etwas davon, am meisten, wie wir hoffen Interessenten- und LeserInnen.  Beispiele für Bewertungen: [1,2,3,]
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    Anm. Vorgesehene. Wir präsentieren auch Bücher aus eigenem Bestand, weil wir sie selbst erworben haben oder Verlage sie aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) zur Verfügung stellen wollen oder können.
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    Situation vor Gericht kennt nur zwei Aussageformen: die Wahrheit und die Lüge. Das Gegenteil der Wahrheit ist nicht die Lüge, sondern die Falschheit und die kann viele Gründe haben. Die Lüge ist zwar eine wichtige Quelle falscher Aussagen, aber, Bender, formuliert 1982 zu Recht: „Der Irrtum ist der größte Feind der Wahrheitsfindung vor Gericht."
    ___
    "wirkliche" Erforschung des Gehirns. Dem widerspricht z.B. der Bericht über den Fall K.C. im Artikel von Tulving (S. 62 ff) über das episodische Gedächtnis. Die Erkenntnis, dass das episodische Gedächtnis eine unabhängige, eigene Gedächtniseinheit ist, kommt ganz ohne bildgebende Verfahren aus.
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    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    tt.mm.jj


    Querverweise
    Standort Warum Menschen sich erinnern können..
    *
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    *



    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Buchpräsentation.Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/lit/klettCotta/WelzMark.htm
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