Warum Menschen sich erinnern
können
Fortschritte der interdisziplinären
Gedächtnisforschung
präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Bibliographie * Verlagsinfo * Inhaltsverzeichnis * Leseprobe * Ergebnisse * Bewertung * Links * Literatur * Querverweise *
Harald Welzer & Hans J. Markowitsch
Reichweiten und Grenzen interdisziplinärer
Gedächtnisforschung 7 [Leseprobe I]
I. Soziales und individuelles Gedächtnis
Daniel J. Siegel
Entwicklungspsychologische, interpersonelle und
neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses. Ein Überblick
19
Endel Tulving
Das episodische Gedächtnis: Vom Geist zum
Gehirn 50
Katherine Nelson
Über Erinnerungen reden: Ein soziokultureller
Zugang zur Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses 78
Aleida Assmann
Wie wahr sind unsere Erinnerungen? 95
[Leseprobe I]
Harald Welzer
Über Engramme und Exogramme. Die Sozialität
des autobiographischen Gedächtnisses 111
Mark Freeman
Autobiographische Erinnerung und das narrative
Unbewußte 129
Bradd Shore
Die soziale Praxis des autobiographischen Erinnerns:
Das Salem Camp Meeting 144
Michael Pauen
Das Gedächtnis der Freiheit. Autobiographische
Erinnerung, Selbstkonzept und Selbstbestimmung 167
II. Entwicklung und Entwicklungsstörungen des Gedächtnisses
Bennett L. Schwartz
Annäherungen an eine vergleichende Psychologie
des episodischen Gedächtnisses 187
Harlene Hayne
Die Entwicklungspsychologie des autobiographischen
Gedächtnisses 189 [Leseprobe III]
Colwyn Trevarthen
Wer schreibt die Autobiographie eines Kindes?
225
Tilmann Habermas
»Kann ich auch ganz, ganz am Anfang anfangen,
als ich noch ganz klein war?«
Wie Kinder und Jugendliche lernen, Lebenserzählungen
zu eröffnen und zu beenden 256
Wolf Singer
»Was kann ein Mensch wann lernen?«
276
Ulrich Seidl, Hans J. Markowitsch & Johannes
Schröder
Die verlorene Erinnerung: Störungen des
autobiographischen Gedächtnisses bei leichter kognitiver Beeinträchtigung
und Alzheimer-Demenz 286
Hans J. Markowitsch
Emotionen, Gedächtnis und das Gehirn. Der
Einfluß von Streß und Hirnschädigung auf das autobiographische
Erinnern 303
Marie M. P. Vandekerckhove, Christian von Scheve
& Hans J. Markowitsch
Selbst, Gedächtnis und autonoetisches Bewußtsein
323
Die Autorinnen und Autoren 344
Leseprobe
I aus: "2. Gedächtnis als Konvergenzzone zwischen den Disziplinen
Bevor wir auf die Probleme interdisziplinärer Forschung einerseits
und unsere Ergebnisse andererseits zu sprechen kommen, noch ein paar allgemeinere
Bemerkungen zur Wahl unseres Forschungsgegenstandes: Die Themen Gedächtnis
und Erinnerung erfreuen sich seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert
einer anscheinend immer noch steigenden Konjunktur - und zwar über
die Grenzen zwischen den natur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen
hinweg und bis in Alltagsdiskurse hinein. Die Ursachen hierfür sind
vielfältig: So machen die Kontingenzbedingungen und Gestaltungszwänge
von Lebensläufen in hochindividualisierten Gesellschaften eine permanente
Auseinandersetzung mit der persönlichen Vergangenheit erforderlich.
Ähnliches gilt, wenn Kollektive auf Geschichtsbestände Bezug
nehmen (vgl. die Beiträge von Assmann und Shore in diesem Band). Besonders
die Systemtransformationen Ende des 20. Jahrhunderts haben dabei offenbar
ein wachsendes Bedürfnis nach historischer Selbstvergewisserung und
Neuerfindung hervorgerufen. Schließlich hängt das wachsende
Interesse am Phänomen Gedächtnis mit den altersdemographischen
Veränderungen in den meisten westlichen Gesellschaften zusammen: Es
gibt - und zwar mit steigender Tendenz - mehr Menschen, die eher zurück
- als nach vorn blicken, und die altersbedingten Gedächtnispathologien
stellen die Gesundheits- und Sozialpolitik vor Aufgaben, deren Tragweite
heute noch gar nicht recht überblickt wird (Seidl et al. in diesem
Band).
Zudem hat die Medizintechnik vor einigen Jahren
sogenannte bildgebende Verfahren bereitgestellt, mit deren Hilfe Gehirnaktivitäten
»sichtbar« gemacht werden können, was die neurowissenschaftliche
Gedächtnisforschung mit einem enormen Schub versehen hat. Während
man zuvor auf Tests, Tierversuche und hirngeschädigte Patienten angewiesen
war, um Gedächtnissysteme und -funktionen zu differenzieren, haben
die Abbildungsmöglichkeiten von aufgabenbezogenen Aktivitätsmustern
im Gehirn zu so gewaltigen Fortschritten in der Forschung geführt,
daß das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zum »Jahrzehnt
des Gehirns« ausgerufen wurde und die Neurowissenschaften seither
Erklärungsansprüche für Fragen des Bewußtseins, des
Willens und des Gedächtnisses für sich reklamieren, die zuvor
den Geistes wissenschaften vorbehalten zu sein schienen.
Die Fortschritte in der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung
sind in der Tat beeindruckend. Wir können mit den Verfahren der Bildgebung
inzwischen unterschiedlichste Verarbeitungsformen von Gedächtnisaktivitäten
differenzieren: Wir können zum Beispiel emotionale von neutraler Erinnerung
unterscheiden Markowitsch in diesem Band), wir können eine Reihe unterschiedlicher
Gedächtnissysteme mit ganz verschiedenen Funktionen identifizieren
(Tulving in diesem [>10]Band), wir können die Verarbeitung fremdsprachlicher
und muttersprachlicher Erinnerungserzählungen auf Hirnebene unterscheiden
und vieles mehr. Wir können die Rolle der verschiedenen Gehirnorgane
wie Hippocampus, Amygdala und Thalamus bei der Einspeicherung, Aufbewahrung
und beim Abruf von Erinnerungen viel besser verstehen als früher,
und wir können auch, wie unser Projekt zeigt, Verarbeitungsprozesse
von Erinnerungsinhalten je nach dem Lebensalter der sich erinnernden Person
differenzieren. Dies alles ist nicht nur wissenschaftlich interessant,
sondern bietet eine Menge Ansatzpunkte für verbesserte medizinische
Interventionen von der Mikrochirurgie bis hin zur Therapie von Alzheimerpatienten
oder Epileptikern.
Daß die Neurowissenschaften mit ihren Befunden
in die Kernbereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften (Pauen in diesem
Band) eindringen, scheint uns eine begrüßenswerte Entwicklung:
Denn erstens können diese Wissenschaften von den Erkenntnissen der
Neurowissenschaften im Bereich der Geistes-, Bewußtsems und Gedächtnisforschung
ungeheuer profitieren, und zweitens können sie die neurowissenschaftlichen
Befunde mit ihren Mitteln viel besser kontextualisieren und hinsichtlich
ihrer Reichweite einschätzen, als das die Neurowissenschaftler allein
könnten. Gedächtnis bildet eine Konvergenzzone zwischen den Disziplinen,
und wir möchten kurz benennen, wo aus unserer Sicht die Konvergenzen
im einzelnen liegen.
Die Neurowissenschaften sprechen eigentlich nicht
über Geist, Bewußtsein oder Gedächtnis, sondern über
»Information«, die in den neuronalen Netzwerken des Gehirns
prozessiert wird. Menschliche Gehirne verarbeiten nun aber nicht nur Informationen
im Sinne von reaktionsauslösenden Wahrnehmungsreizen, sondern vor
allem Bedeutung tragende Wahrnehmungen. Die Fähigkeit, einer Wahrnehmung
Bedeutung zu geben, ist wiederum etwas, das nur Menschen eigen ist: Zwischen
die unmittelbare Abfolge von Reiz und Reaktion, Impuls und Handlung schiebt
sich hier ein Vorgang der Interpretation, der ein optimiertes Ausnutzen
der gegebenen Handlungsmöglichkeiten erlaubt. Zwar messen auch Tiere
bestimmten Signalen bestimmte »Bedeutungen« bei - sonst würde
der Pawlowsche Hund keinen Speichel absondern, wenn die Glocke klingelt
-, aber das ist keine reflexive Bedeutung im menschlichen Sinn, sondern
Ergebnis von Konditionierungslernen: Dem Hund ist dabei keineswegs bewußt,
daß er Appetit bekommt, weil die Glocke läutet, sondern er hat
lediglich eine Reizverknüpfung gelernt.
Reflexive Bedeutung ist nichts, was die Natur bereitstellt, sondern
sie wird sozial und kulturell gebildet, und zwar in der Interaktion zwischen
einem Kind und seiner sozialen Umwelt. Im Fall des menschlichen Gehirns
haben wir es bei dem, was unser Bewußtsein und unser Gedächtnis
bewegt und unseren Willen motiviert, also mit [>11] sozial und kulturell
gebildeten Bewußtseins- und Gedächtnisinhalten zu tun, die unsere
Wahrnehmung von Welt und damit auch das, was wir erinnern, nach Kriterien
von Sinn und Bedeutung selektieren.
Es ist schwer vorstellbar, daß wir auf der
Grundlage des Informationsbegriffes ein hinreichendes Verständnis
vom menschlichen Gedächtnis gewinnen können. Sich zu erinnern,
sich etwas vorzustellen, etwas zu bewerten, etwas zu planen - all das setzt
nicht nur Information voraus, sondern eben die Bedeutung, die der Information
gegeben wird. An dieser Stelle ist es unabdingbar, die neurowissenschaftliche
Perspektive um eine sozialwissenschaftliche zu erweitern: Sobald man sich
für Gedächtnisinhalte interessiert, befindet man sich in einer
Konvergenzzone zwischen den Disziplinen.
Bedeutungen werden nun aber nicht individuell entwickelt
oder erworben, sondern in Prozessen sozialer Interaktion - im Zusammensein
mit anderen - vermittelt. Katherine Nelson hat in einer inzwischen klassischen
Studie dargelegt, wie ein kleines Mädchen sich in der Interaktion
mit seinen Eltern die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke erschließt
(vgl. auch Nelson in diesem Band), und wir verfügen inzwischen über
eine Unzahl von Untersuchungen darüber, wie die Interaktion mit kleinen
Kindern das prägt, woran sie sich später erinnern (vgl. auch
die Beiträge von Habermas, Hayne, Siegel und Trevarthen in diesem
Band). Um also zu verstehen, wie Bedeutung konstituiert wird und damit
zum Beispiel unterscheidbar wird, welche Information wichtig oder unwichtig,
welches potentielle Verhalten funktional bzw. dysfunktional ist, müssen
wir den sozialen Vorgang der interaktiven Herstellung und Weitergabe von
Bedeutung verstehen,
Bedeutung wird nun aber nicht von jeder Generation
neu erfunden, sondern intergenerationell tradiert, weiter ausgeformt, ausgehandelt,
modifiziert. Essentiell dafür ist Kornmunikation (Freeman in diesem
Band). Ein Gehirn allein ist konstitutiv überhaupt nicht in der Lage,
Bedeutung zu bilden; es bliebe an voreingestellte Reaktionsmuster gebunden
und könnte diese allenfalls, wie es bei Tieren der Fall ist, durch
Erfahrungslernen und Beobachtung modifizieren und optimieren (Schwartz
in diesem Band). ...
..."
Leseprobe II aus: Wie wahr sind unsere Erinnerungen ?
"Zusammenfassung
Wie wahr sind unsere Erinnerungen? Auf diese Frage gibt es keine pauschale
Antwort, aber dafür ein neues Bewußtsein für Differenzierungen,
von denen ich hier einige vorstellen wollte. Aus der Perspektive der Neurophysiologie
gibt es keine Grundlage für die Rede von Authentizität. Das hat
Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in
Frankfurt am Main, in der Rede, die er vor dem 43. Historikertag gehalten
hat, noch einmal bestätigt. Erinnerungen bezeichnete er in dieser
Rede als »datengestützte Erfindungen« (Singer, 2000, S.
10, Spalte 6). Das menschliche Gedächtnis, so führte er aus,
sei von Natur aus auf Anpassung an eine veränderte Umwelt ausgerichtet
und nicht auf exakte Speicherung. Die Hirnforschung hat gezeigt, daß
jede Reaktivierung einer Gedächtnisspur zugleich eine Neueinschreibung
ist, die die Ersterfahrung notwendig überformt. Aber auch hier gibt
es Unterschiede und Grade der Festigkeit von Erinnerungen, die etwas mit
der [>108] Prägnanz der Wahrnehmung und, damit verbunden, der emotionalen
Kraft und Tiefe einer Erfahrung zu tun haben. Als ein Modus, bei dem ausnahmsweise
verhältnismäßig genau gespeichert wird, kann die Blitzlicht-Erinnerung
gelten, die Situationen und Szenen einer epochalen und kognitiven Wende
über lange Zeit in ungewöhnlicher Detailliertheit und Konturenschärfe
festhält.
Wir sind heute konfrontiert mit den Ergebnissen
der Hirnforschung und kognitiven Psychologie, die in großem Umfang
und an immer neuen Beispielen die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen
nachweisen. Angesichts dieser Befunde erscheint die Frage nach der Authentizität
von Erinnerungen bereits verfehlt. Wir befinden uns derzeit in einer Phase
der kritischen Reflexion, der Skepsis, der Dekonstruktion von Erinnerung.
Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie wir mit diesen neuen Einsichten
umgehen. Ein Beispiel ist die Position des Mittelalter-Historikers Johannes
Fried, der die neue Hirnforschung beim Wort nimmt, was die Fundamente der
Geschichtsforschung zusammenbrechen laßt. Wenn Menschen keine zuverlässigen
Erinnerungen produzieren können, gibt es auch keine zuverlässigen
Quellen, auf denen das Gebäude der Geschichtsschreibung errichtet
werden könnte, weil am Anfang aller historischen Erfahrung der Augenzeuge
steht.
Diese Dramatisierung des Problems, die aus einer
unmittelbaren Konfrontation von Hirnforschung und Geschichtswissenschaft
hervorgeht, scheint mir jedoch etwas übertrieben. Wir können
die naturwissenschaftlichen Ergebnisse kaum so wörtlich und ohne Augenmaß
auf eine Geisteswissenschaft übertragen. In der Regel sind Erinnerungen
keiner Realitätsprüfung ausgesetzt, weil wir für subjektive
Erlebnisse dokumentarische Evidenz weder haben noch brauchen. Sie sind
zunächst apodiktisch und authentifizieren sich selbst. Es kommt nicht
immer auf die Wahrheit einer Erinnerung an; in einem geselligen Kontext
zum Beispiel ist die Pointe einer schönen Geschichte wichtiger als
die Faktizität des Erlebten; im Rahmen eines autobiographischen Rückblicks
wird das Erlebte zwangsläufig umgedeutet und in einen neuen Zusammenhang
gebracht, der das jeweilige Selbstbild stützt. Erinnerungen existieren
jedoch nicht nur im Gehirn, sondern sind auch mit der Sozialsphäre
und der Objektwelt vertäut, was ihnen einen zusätzlichen Rückhalt
gibt sowie Korrekturmöglichkeiten zuläßt und die Frage
nach der Wahrheit auf eine andere Ebene hebt.
Hier fallweise eine gewisse Skepsis anzubringen
muß jedoch noch nicht heißen, die Wahrheit von Erinnerungen
pauschal in Frage zu stellen. Immerhin gibt es bestimmte institutionelle
Kontexte, in denen es weiterhin auf die faktische Wahrheit des Erinnerten
ankommt; das ist z. B. der Fall bei der Anamnese im Sprechzimmer des Arztes
oder bei der Zeugenaussage vor Gericht. Die Situation
vor Gericht kennt nur zwei Aussageformen: die Wahrheit und die Lüge,
weshalb das Wahrheitspro[>109]blem dort als eine ethische Entscheidung
aufgefaßt und mit einem Eid gelöst wird. Durch die Verknüpfung
der Erinnerung mit dem Aussagemodus des Zeugnisses unterliegt sie einem
emphatischen faktischen oder biographischen Wahrheitsanspruch. Auf den
Wahrheitsanspruch unserer Erinnerungen pauschal zu verzichten würde
bedeuten, daß wir uns in eine Alzheimergesellschaft verwandeln, in
der keine Versprechungen mehr gemacht und keine Schulden mehr beglichen
werden. Die Unzuverlässigkeit unseres Gedächtnisses in Rechnung
zu stellen heißt keineswegs, daß wir uns als Personen und Mitmenschen
von Wahrheitsfragen in bezug auf unsere Erfahrungen gänzlich lösen
könnten. Deshalb prüfen wir weiterhin unsere eigenen Erinnerungen
und begleiten sie durch einen selbstreflexiven Diskurs, von dem ich hier
einige Beispiele vorgestellt habe. Dieser Diskurs, der zwischen Retention
und Konstruktion, zwischen Authentizität und Erfindung oszilliert,
ist notwendig, urn eigene Erfahrungen zu bewerten und sich in der realen
Welt zu verankern. Authentizität ist, so gesehen, weniger eine Tatsache
als ein Argument, das unverzichtbar ist für die Realitätsprüfung
und Selbstvergewisserung individueller Identität. In dieser Funktion
eines Anspruchs ist Authentizität offensichtlich unverzichtbar, wenn
auch, wie wir gesehen haben, nicht unumstritten."
Leseprobe
III Mögliche Ursachen kindlicher Amnesie aus:
Die Entwicklungspsychologie des autobiographischen
Gedächtnisses
"Schlußfolgerungen
Was sagen uns die hier beschriebenen Ergebnisse über die möglichen
Ursachen kindlicher Amnesie? Aus meiner Sicht schließen sie jede
Erklärung kindlicher Amnesie aus, die darauf beruht, daß sich
in der Art der Verarbeitung von Erinnerungen (memory processing) qualitativ
etwas ändert. Die Erkenntnis, daß bereits sechs Monate alte
Kinder ein Erinnerungsvermögen (memory skills) besitzen, das die Definitionskriterien
von deklarativem Gedächtnis erfüllt, läßt Zweifel
an der Vorstellung aufkommen, daß kindliche Amnesie eine Folge des
Unvermögens der kleinen Kinder ist, Information in einem deklarativen
Format abzuspeichern. Zudem hat die sowohl auf das Paradigma der gepaarten
Verstärkung wie auch auf das der verzögerten Nachahmung aufbauende
Forschung durchgängig ergeben, daß Veränderungen im Kodieren,
Behalten und Abrufen graduell als Funktion des Alters zu betrachten sind.
Diese graduellen Veränderungen schließen eine Erklärung
von kindlicher Amnesie aus, die von einem abrupten, ein Entwicklungsstadium
abschließenden Übergang zu einem nächsten Stadium der Verarbeitung
von Erinnerungen ausgeht.
Ich stimme mit Spear (1979) überein, daß
eine einwandfreie Erklärung von kindlicher Amnesie von der sorgfältigen
Untersuchung der Gedächtnisentwicklung an sich abhängt. Die uns
bis dato zur Verfügung stehenden Forschungsergebnisse weisen auf drei
an Erinnerung gebundene Entwicklungen hin, die Kindern helfen, im Laufe
ihres dritten Lebensjahrs die Hürde der kindlichen Amnesie zu nehmen.
Erstens
nimmt die Geschwindigkeit, mit der kleine Kinder Informationen aufnehmen,
mit dem Alter zu. Ältere Kleinkinder bilden - unter denselben Bedingungen
- vielfältigere Gedächtnisrepräsentationen als ihre jüngeren
Gefährten. An das Alter gebundene Unterschiede in der Geschwindigkeit,
mit der Informationen aufgenommen werden, beeinflussen wahrscheinlich auch
den Abruf von Erinnerungen. Das heißt, daß die Fähigkeit
von Kindern, Abrufsignale aus der Umwelt (retrieval cues) zu erkennen,
eindeutig als eine Funktion des Alters zunimmt - genauso wie [>] ihre Fähigkeit,
zwischen einem Umweltsignal und einem bestimmten Aspekt einer Erinnerung
eine Verbindung herzustellen. Diese Faktoren steigern die Effizienz des
Abrufs von Erinnerungen und erhöhen zunächst einmal die Wahrscheinlichkeit,
daß er überhaupt stattfindet.
Zweitens nimmt mit dem Alter die Behaltensspanne
(retention interval), in der die Erinnerungen der Kinder abrufbar bleiben,
enorm zu. Zwar ist die absolute Dauer unterschiedlich, da die Behaltensspanne
je nach Kontext variiert. Innerhalb desselben Kontextes - derselben Aufgabe
- jedoch verbessert sich die Merkfähigkeit der Kinder um den Faktor
6 (Herbert & Hayne, 2000a) im Laufe der ersten beiden Lebensjahre (Hartshorn
et al., 1998). Allein diese Entwicklung könnte kindliche Amnesie schon
erklären. Wenn sich in der frühen Kindheit Vergessen in einem
Zeitraum von Tagen oder Wochen abspielt, kann es kaum überraschen,
daß diese Erinnerungen nicht mehr zu finden sind, wenn wir versuchen,
sie nach Jahren (oder Jahrzehnten) wieder aufzurufen. Im Laufe der Entwicklung
wird die Vergessenskurve zunehmend flacher, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit
erhöht, daß eine bestimmte Erinnerung auch noch nach sehr langen
Zeiträumen zugänglich ist. Zudem haben Studien, die mit Erinnerungshilfen
(reminder procedures) arbeiten, gezeigt, daß die Verfügbarkeit
dieser Repräsentationen abhängig vom Alter ganz beträchtlich
variiert. Ältere Kinder rufen ihre Erinnerungen schneller ab (Boiler,
Rovee-Collier, Borovsky, O'Connor & Shyi> 1990; Fagen & Rovee-Collier,
1983; Hildreth & Rovee-Collier, 1999), nach längerer Zeit (Greco
et al., 1986; Hildreth & Rovee-Col-lier, 2002), und sie vergessen sie
weniger schnell, wenn die Erinnerung einmal wie-[>]dererlangt ist (Hildreth
& Rovee-Collier, 2002). Jede dieser Veränderungen für sich
oder alle zusammengenommen können dramatische Auswirkungen auf die
Langzeiterinnerung haben.
Drittens kommt es im Laufe der frühen
Kindheit mit zunehmendem Alter auch zu einer größeren Flexibilität
beim Abruf von Erinnerungen. Säuglinge erinnern sich nur dann, wenn
die Kontextbedingungen denen der ursprünglichen Situation gleichen.
Wird etwas an den Abrufreizen oder am Kontext verändert, stört
dies die Erinnerung oder verunmöglicht sie. Dieses hohe Maß
an Spezifität der Umweltsignale, die notwendig sind, um bei Säuglingen
Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen, läßt vermuten, daß
es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, frühe Erinnerungen durch
äußere Signale oder in Kontexten wiederzuerlangen, die nicht
Teil der ursprünglichen Erfahrung waren. So betrachtet, werden unsere
Erinnerungen vielleicht schon in der frühen Kindheit weder abgerufen
noch ausgedrückt, und gehen, weil sie nicht gebraucht werden, schließlich
verloren.
Ältere Kleinkinder nutzen, abhängig sowohl
von Reifungsprozessen wie von Erfahrungen, zunehmend mehr und unterschiedliche
Signale, um in einer größerer. Bandbreite von Situationen Zugang
zu ihren Erinnerungen zu finden. Da der Abruf von Erinnerungen in der frühen
Kindheit immer flexibler wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß
einzelne Erinnerungen wieder auftauchen; werden sie wiederholt abgerufen,
wird sich schlußendlich auch die Behaltensspanne erweitern (Hartshorn,
2003; Hayne, 1990; Hudson, 1990).
Wie beeinflußt der Spracherwerb die kindliche
Amnesie? Vor dem Hintergrund des Entwicklungsmodells, das in Abbildung
5 skizziert wird, spielt der Spracherwerb zumindest in zweierlei Hinsicht
eine wichtige Rolle in der Gedächtnisentwicklung. Zum einen erhöht
die Fähigkeit von Kindern, Informationen in einer sprachlichen Form
aufzunehmen, zweifellos sowohl die Qualität als auch die Dauer einer
gegebenen Repräsentation. Des weiteren vergrößert ihre
Fähigkeit, sprachliche Signale zu nutzen, höchstwahrscheinlich
die Bandbreite von Situationen, in denen sie eine spezifische Erinnerung
erfolgreich abrufen können. So gesehen, trägt Sprache entweder
als ein Merkmal des Erinnerten zum Ende der kindlichen Amnesie bei oder
als ein erinnerungsaktivierender Reiz wie jeder andere Reiz auch, Die bedeutsame
Rolle von Sprache für die menschliche Kognition bringt es jedoch mit
sich, daß die Fähigkeit, unsere Vergangenheit zu erinnern, exponentiell
mit der Möglichkeit ansteigt, Erinnerungen mittels Sprache abzuspeichern
und wieder abzurufen.
Einige der neueren Theorien zur kindlichen Amnesie
beruhen auf der Vorstellung, daß es im Laufe des Lebens zu qualitativen
Veränderungen in der Verarbeitung von Erinnerungen kommt (Howe &
Courage, 1993,1997; Nelson &; Fivush, 2004i. Im Unterschied dazu würde
ich die These aufstellen, daß einfache quantitative Ver[>221]änderungen
in grundlegenden Gedächtnisprozessen zur Zeit die einfachste und sparsamste
Erklärung kindlicher Amnesie liefern. Entwicklungen in den höheren
kognitiven Fähigkeiten tragen zum Abbau der kindlichen Amnesie bei,
indem sie das Kodieren, Behalten und Abrufen unserer früheren Erfahrungen
beeinflussen."
Literatur (Auswahl)
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