Erleben und Erlebnis bei Walter Toman
Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Fundstellen für die Erforschung des Erlebens und der Erlebnisse im Vermächtniswerk Tomans
Fundstellen der im Sachregister bezeichneten Seiten
e:= erleben, erlebt(e,en,es) 6
E:= Erlebnis... 10
Fundstellenkürzel
e := erleben, erlebt(e,en,es)
E := Erlebnis....
Phänomenologen ein "esoterischen Verein von Begriffsdichtern"?
S. 112ff: "Stärker und ausdrücklicher von K i e r k
e g a a r d (1844) und H e i d e g -
ger (1927) inspiriert, versuchten J a s p e r s (1946),
B i n s w a n g e r
(1947, 1955), vo n G e b s a t t el (1938, 1954),
B u y t e n d i j k (1936, 1953,
1959) und andere, sich in ihren theoretischen Positionen gegen jede
mecha-
nistische Interpretation des Menschen sowie gegen alle Systematisierung
der
Phänomene, welche ihn und seine Entwicklung charakterisieren,
zu ver-
wahren. Unvoreingenommener und eklektischer als die anderen charakteri-
siert vielleicht Rollo M a y (1958, 1961, auch 1950, 1953)
nach Übersicht
über die europäische Literatur zur Phänomenologie des
Seins die Grund-
thesen existentieller Psychologen und Psychiater: Alle Wirklichkeit
besteht
nur in dem Maße, als ein lebender Mensch an ihr teilnimmt, sie
bewußt
TP112e1erlebt und eine
Beziehung zu ihr hat. Das Unbewußte sind jene Möglich-
keiten des Wissens und TP112e2Erlebens,
welche das Individuum nicht verwirklichen
kann oder nicht verwirklichen wird. Verdrängung ist kein einfacher
Mechanis-
mus, sondern ein komplizierter Kampf des individuellen Seins gegen
das
Nichtsein. Begriffe wie Es, Ich und Überich, Ich und Nicht-Ich,
Selbst und
Nicht-Selbst können diesen Prozeß nicht adäquat erfassen.
Jeder Mechanis-
mus, jede Kraft, jeder Trieb setzt eine ihm zugrundeliegende Struktur
vor-
aus, die unendlich viel größer ist als der Mechanismus,
die Kraft, der Trieb
selbst. Alle genannten Begriffe seien Abstraktionen vom lebendigen
Men-
schen, der solche TP112E1Erlebnisse
hat
und dem Dinge widerfahren (1961, S. 24f).
Jeder existierende Mensch habe das Bedürfnis, sein Zentrum, seine
Zentriert-
heit zu bewahren. Die subjektive Seite dieser Zentriertheit des Menschen
sei das TP112e3Erleben,
das typisch Menschliche daran, das Bewußtsein seiner selbst
als „eines Subjekts, das eine Welt hat“. Drohungen von der Welt implizieren,
daß der Mensch sich selbst als den Bedrohten TP112e4miterlebt.
Auch in der Angst
sei er frei und könne sich entscheiden. Bewußtsein impliziere,
daß der Mensch
sich gegen sich selbst wenden, sich (und auch andere) sogar töten
könne. Die [>113]
Fähigkeit des TP113e1Erlebens
und Bewußtseins konstituiere die Basis für seine
psychologische Freiheit (M a y 1961, 75—84). — L i n s
c h o t e n (1961)
preist in ähnlicher Form William J a m e s ’ Konzept
des „stream of
consciousness“, des dahinfließenden Bewußtseinsstromes.
Die Aufgabe der
Psychologie sei es, die TP113E1Erlebnisse
in ihrem Flusse, in ihrem unmittelbaren
„So-Sein“ zu beschreiben.
Für wen, darf man hier vielleicht fragen. Für
andere Phänomenologen und
Existentialisten, für die Connoisseure solcher Beschreibungen?
Wenn dies
der Fall ist, was fangen diese damit an? Was wissen sie, wenn sie diese
TP113E2Erlebnisberichte
bekommen? Wenn die Beschreibungen auch für andere ge-
dacht sind, für gewöhnliche Menschen, dann erhebt sich diese
Frage nach
dem Erkenntnisgewinn noch dringlicher.
Vom wissenschaftlichen Standpunkt ist man angesichts dieser
Sachlage
etwas in Verlegenheit, Manchmal sieht es aus, als ob man es mit einem
esoterischen Verein von Begriffsdichtern, dann wieder mit TP113E3Erlebnisspezia-
listen im Stile von Zen-Buddhisten
und Yoga-Praktikern zu tun hätte.
Auf alle Fälle aber scheinen sie eine Art von „mutual admiration
society“ zu
bilden, die einander für mitunter recht unbedeutende Wortprägungen
zitieren und einander eigentlich immer wieder dasselbe versichern.
Das gilt
auch für einen sehr differenzierten Essayisten wie M e r
l e a u - P o n t y
(1945, 1956). Seine Phänomenologie der Wahrnehmung enthält
zwar für den Wahrnehmungsforscher in der Psychologie gelegentlich
recht interessante
Facetten, Anregungen für systematischere und experimentelle Unter-
suchungen, wenn man will, aber auf weiten Strecken ist der Diskurs
trivial
und von der Kenntnis des Forschungsstandes in diesem Gebiet zum Teil
völlig unbelastet.
Zur Illustration sei hier auf eine etwas andere,
aber doch eng verwandte
Denomination dieser Gedankenrichtungeingegangen, nämlich auf
v o n W e i z s ä c k e r (1947; siehe auch dessen
Schüler W y s s, 1961).
Nach v o n W e i z s ä c k e r vergaß
F r e u d angeblich das „Du“. Er sei nie
zum „Wir“ vorgestoßen. Für ihn, W e i z s ä c
k e r , beginne „das Mensch-
liche“ mit dem „Umgang“, mit dem wechselseitigen Geben und Nehmen,
das aber ein einheitlicher, ontologisch nicht trennbarer Akt sei. Auch
das
Wahrnehmen und Bewegen sei immer eine Einheit, und der Erfolg einer
stattgehabten Bewegung bestimme den Verlauf des nächsten. Um Lebendes
zu erforschen, müsse man sich am Lebenden beteiligen. Der Mensch
lebe
durch Raum, Zeit, Zahl und Kausalität „hindurch“, er lebe „antilogisch“.
Die antilogischen Begriffe des „Werdens“, der „Bewegung“, des „Ereig-
nisses“, seiner beständigen Auseinandersetzung mit der Umwelt,
sie alle
seien besser geeignet, ihn zu erfassen als F r e u d s
„carthesische“ Men-
schen- und Weltkonzeption.
Im Vergleich dazu wirkt S c h a c h t e l
(1959) wie ein Realist, obwohl
auch er durch ähnliche phänomenologische Studien, sozusagen
auf psycho-
analytischer Basis, hervorgetreten ist und von den Existentialisten
als einer
der ihren beansprucht wird. Er behauptet vor allem, daß es zwei
Arten von
Affekten gebe, nämlich „embeddedness affect“ und „self-actualization-[>114]
affect“. Der erste Affekt aktiviere Gedanken und Verhalten in der Richtung
einer „Fortsetzung der intra-uterinen Existenz“, der kreatürlichen
Behaglich-
keit, der zweite führe zu aktivem Verhalten und zur Weiterentwicklung
der
Person. Auch im Bereich der Wahrnehmung gebe es eine autozentrische
(passive, auf eigene Zustände gerichtete) und eine allozentrische
Komponente.
Letztere bewirke die Aktivität und fortlaufende Differenzierung
im Wahr-
nehmungsgeschehen.
In der Polemik mit Freud und auch Kris (siehe S.
123) über den
schöpferischen Prozeß meint S c h a c h t e l , die
Wahrnehmung sei selbst
schöpferisch, und diese wie jede andere schöpferische Leistung,
sei das Er-
gebnis einer Progression, einer Weiterentwicklung, nicht der Regression.
Der Mensch durchlaufe überhaupt in seiner Entwicklung immer neue
Existenzformen. Seine Metamorphosen bewirken, daß frühere
einfachere
Existenzformen, so etwa die Kindheit und ihre Erinnerungen, untergehen.
Die Umwelt trage mit Erziehungs- und Kultureinflüssen zur Konventionali-
sierung des Gedächtnisses und einem „patterning" der Vorstellungsinhalte
bei.
Insgesamt kann nicht geleugnet werden, daß
all diesen Phänomenologen
und Existenzanalytikem das innere TP114e1Erleben
des Menschen besonders wichtig
ist. Wenn man will, dann sind ihre Erläuterungen Hymnen an die
Reflexion
und Selbstbetrachtung, an die unglaublichen (vielleicht auch nur trivialen)
Erfahrungen über -das eigene „Sein“, welche sie eröffnet.
Von hier zum
„psychedelic research“, zur Erforschung der
TP114E1Erlebnis-
und Existenzformen
in all ihren Spielbreiten unter Verwendung von Drogen (z. B. der notorische
Timothy L e a r y et al. 1962, W e i l et al.
1964) und damit auch zu den Aus-
wüchsen, welches dieses „Forschungsgebiet“ genommen hat — für
manche
Interessierte eine Rationalisierung der eigenen Rauschgiftsucht — ist
viel-
leicht nur mehr ein kleiner Schritt. Auch M c L u h a n ’ s (1964)
dichterische
„Botschaft“ von den Kommunikationsmedien, die keinen anderen Sinn als
sich selbst haben („The medium is the message“), stellt vielleicht
nur eine
Variante dieses Trends dar. Das gleiche gilt wohl auch für das
Lied an die
Freude, mit dem W. C. S c h u t z (1967) das menschliche Bewußtsein
erwei-
tern möchte, oder für G o r d o n ’ s (1961)
„Synektik“, durch die er das
schöpferische Potential eines Menschen zu erhöhen verspricht.
Was diese Beiträge allerdings angesichts der
diagnostischen, psychothera-
peutischen und Forschungsaufgaben leisten sollen, denen Psychologen
und
Psychiater, auch Soziologen und Sozialarbeiter im täglichen Leben
in so
großer Zahl gegenüber stehen, ist nicht recht klar. Es sieht
aus, als ob es
für den tatsächlichen Umgang mit anderen hilfesuchenden Menschen,
Fa-
milien und Personengruppen, darunter psychisch Erkrankten und kriminell
Entgleisten, handfesterer und leistungsfähigerer Vorstellungen
und Modelle
bedürfe, als von Phänomenologen und Existentialisten geboten
werden.
Dabei soll nicht gesagt sein, daß Dichter und Dramatiker, auch
manche soge-
nannte „Existentialisten“ unter diesen (etwa S a r t r e
oder C a m u s),
durch schöpferische Gestaltungen von Problemen menschlichen Eigen-
und
Zusammenlebens wenig geleistet haben und leisten werden. Im Gegenteil,
[>115]
ihre erzieherischen und psychotherapeutischen Wirkungen sind oft viel
nach-
haltiger und allgemeiner als alles, was professionelle Erzieher und
Psycho-
therapeuten als einzelne hoffen können zu erreichen. Ob allerdings
das
gleiche vom endlosen akademischen Vortrag ein und derselben Grund-
gedanken in jeweils etwas anderen oder den gleichen Formulierungen
be-
hauptet werden kann, sei dahingestellt. Kasuistiken menschlicher Probleme
in allen möglichen ihrer Varianten und deren „existentielle“ Aufhellungen,
früher oder später aber auch Statistiken solcher Probleme
und untersuchter
bzw. behandelter Personen wäre mehr. Die Hauptweisheit der Existen-
tialisten, nämlich daß es bei der Betrachtung des Menschen
auf dessen In-
neres, auf seine Erfahrungen, Ansichten und TP115E1Erlebnisse
ankomme, ist wahr-
scheinlich überhaupt keinem Psychologen oder Psychiater gleich
welcher
Provenienz neu. Umgekehrt scheinen dagegen die mannigfachen Wirkungen
mancher objektiver Gegebenheiten in der Umwelt von Personen auf deren
Entwicklung, Charakter und soziales Verhalten unbekümmert um die
be-
sonderen Formen, in denen sie von den betreffenden TP115e1erlebt
werden (siehe
G l u e c k 1943, 1950, B o w l b y 1951, oder
H o l l i n g s h e a d und
R e d l i c h 1958, auch T o m a n 1962a, 1965,
S t r o t z k a 1965) den Exi-
stentialisten irrelevant und/oder unglaubhaft."
S. 180f: "Gefühle und Affekte sind hier unter den Begriff Motivation
subsumiert.
Sie werden als Teile des Motivationsgeschehens betrachtet, wenn man
will,
als die subjektiven TP180E1Erlebnisse
eben dieser Motivationszustände und -prozesse.
Unter sonst vergleichbaren Bedingungen würden Motivbefriedigungen
sub-
jektiv im allgemeinen etwa Freude und Zufriedenheit bedeuten, Behinderun-
gen der Motivbefriedigungen und die damit verbundenen Alarm- oder Angst-
Aggressionszustände subjektiv Zorn, Ärger oder Haß.
Behinderungen, die als
permanent aufgefaßt werden, entsprechen im allgemeinen dem subjektiven
TP180E2Erlebnis von Angst,
Furcht oder Trauer. Aus Furcht vor Personen hinter die-
sen Behinderungen oder vor impliziten Strafen begnügt sich ja
der Betref-
fende mit der Vorbereitung des Verzichts auf die Motivbefriedigungen
und [>181]
mit der Trauer um das fortan nicht mehr Erreichbare, und zwar so lange,
bis
ihm dieser Verzicht gelungen ist. Dann fühlt er sozusagen nichts
mehr
Dann weiß er, daß es die betreffende Freude für ihn
einfach nicht mehr gibt."
S. 223: "Die hier empfohlene Annahme ist, daß die Kenntnis möglichst
vieler
Umweltaspekte eines Menschen hilft, seine Welt und Wirklichkeit zumindest
in wesentlichen Aspekten zu rekonstruieren. Im Kontext dieser Wirklichkeit
ist sein Verhalten in der Vergangenheit, egal ob es von ihm selbst
berichtet
wird oder ob wir Beobachter und Zeugen dafür finden, besser beurteilbar.
Im günstigen Falle sind auf der Basis dieser Beurteilungen auch
indivi-
duelle Voraussagen möglich, wie sie von klinischen Psychologen,
Psychiatern,
Sozialarbeitern, aber auch von Seelsorgern, Richtern, Bewährungshelfern
und Lehrern eigentlich laufend abverlangt werden. Daß die Personen-
umgebung eines Menschen eine besondere Rolle spielt und daß aus
ihr
vielleicht eher als aus vielen anderen Merkmalen einer Person Erwartungen,
darüber formulierbar sind, welche Personenumgebungen diese Person
sich
selbst schaffen wird, wurde bereits im vorigen Kapitel betont. Umso
mehr
Grund bestünde darum, die markantesten der Umweltmerkmale von
allen
jenen Personen zu Protokoll zu bringen, an deren psychologischem Ver-
ständnis Interesse besteht. Dies ist, obschon oft mit ungenügender
Systematik
und Konsequenz, in mancher ärztlichen, psychiatrischen und klinisch-psycho-
logischen und gerichtspsychologischen Praxis ohnedies schon lange üblich.
Das Argument einiger Psychologen und Psychiater,
daß alle Kontextkennt-
nis eines Menschen nichts nütze, wenn man nicht auch seine TP223E1Erlebnisse
dieser
Kontexte und Kontextaspekte kenne, ist sicherlich berechtigt. Das Argument
wird aber oft zur Entschuldigung dafür verwendet, daß man
sich um die
Kontexte selbst, manchmal aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel, andere
Male
sogar aus grundsätzlichem Desinteresse an der untersuchten oder
behandelten
Person, nicht kümmern möchte. Andererseits gilt, daß
gewisse Kontexte und
Kontextaspekte auch ohne die ausdrückliche Frage nach dem TP223E2Erlebnis
der-
selben interpretierbar sind. So bedeutet beispielsweise der Tod eines
Fami-
lienmitgliedes mit ziemlicher Sicherheit die physische Absenz dieser
Person
für immer, die Auswanderung in ein fremdsprachiges Land meist
Verständi-
gungsschwierigkeiten und Anpassungsprobleme in Schule und Beruf, Armut
die geringere Verfügbarkeit von Geld und allem, was Geld kaufen
kann, ein
Gefängnisaufenthalt die erhebliche Reduzierung von Personenkontakten,
Betätigungsmöglichkeiten und Vergnügungen. Die Frage
nach dem TP223E3Erlebnis
erübrigt sich außerdem oft dort, wo der Kontext ohnedies
den Kommen-
taren des Probanden selbst entnommen wird. Wenn dies in einem freien
Gespräch geschieht, entstammen ja die Angaben über seine
Umweltkontexte
den TP223E4Erlebnissen
seiner Erinnerungen an diese. Das aber, was er in Antwort
auf diese Umweltkontexte beziehungsweise deren Abänderungen berichtet,
getan zu haben, ist in der Regel informativer und unmittelbarer interessant
für Voraussagen zukünftigen bedeutsamen Verhaltens als alles,
was er noch
so ausführlich angibt, damals TP223e1erlebt
und gefühlt zu haben."
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Inhaltsverzeichnis site: www.sgipt.org. |
Copyright & Nutzungsrechte
Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen
Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht inhaltlich
verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle
benutzt werden. Das direkte, zugriffsaneignende Einbinden in fremde Seiten
oder Rahmen ist nicht gestattet, Links und Zitate sind natürlich willkommen.
Sofern die Rechte anderer berührt sind, sind diese dort zu erkunden.
Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um
Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus ... geht,
sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.
korrigiert: 16.12.2022irs Rechtschreibprüfung und gelesen