Erleben und Erlebnis bei Walter
Johannes Sommer
mit einem Exkurs nach Prinz zum Leipziger Institut
und dem Nationalsozialismus
Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Zur Methode der Fundstellen-Textanalyse * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis * Zusammenfassung *
Zusammenfassung-Sommer-1937:
Zerfall optischer Gestalten: Erlebensformen und Strukturzusammenhänge
Vorab: Sommer Dissertation liefert keinerlei
Anhaltspunkte für eine Nähe zu den Nationalsozialisten. Die Prüf-Suchtexte
"Volk", "Gemeinschaft" und "Führer" haben jeweils 0 Treffer.
1. Diese brillante Arbeit hat es verdient, wieder ins Licht der Erlebens- und Erlebnisforschung gerückt zu werden. Sie zeigt, dass es auch im 3. Reich ausgezeichnete psychologische Forschung gab, sogar in Leipzig, wo die Ganzheitspsychologen Krueger und Sander mit den Nazis kungelten.
2. Sommers Dissertation glänzt für unseren Zweck, nämlich den Gebrauch, Definition, Erklärung, Beschreibung von Erleben und Erlebnis zu erfassen: die Dissertation weist bislang die höchste Dichte von Erwähnungen "erleb" pro Seite auf, nämlich 5,1 Erwähnungen pro Seite mit sehr vielen Beispielen direkter Erlebensschilderungen der 18 in Selbstbeobachtung mehr oder minder geschulten Versuchspersonen (Psychologen, StudentInnen der Psychologie oder des Lehramts).
3. Aber Erleben und Erlebnis werden nicht definiert, auch nicht näher erklärt und erläutert, auch nicht durch Querverweis, Anmerkung, Fußnote oder Literaturhinweis. Sommer ging offenbar davon aus, dass dieser Begriff bei seinen Versuchspersonen als verständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig vorausgesetzt werden kann.
4. Zur Frage der Selbstbeobachtung: Alle VersuchsteilnehmerInnen waren in "Selbstbeobachtung" "mehr oder minder" geschulte PsychologInnen, Psychologie- oder LehramtsstudentInnen. Worin die Schulung dieser Selbstbeachtung bestand, teilt Sommer nicht mit. Fundstellen zur Selbstbeobachtung:
5. Zu Sommers Zusammenfassung der Ergebnisse
In der Zusammenfassung habe ich für mich einige einige begriffliche
Unklarheiten gefunden. Begriffe definieren oder erklären gehört
nicht zu den Stärken der GanzheitspsychologInnen. Ich werde dies bei
der Vorstellung von Krueger und Sander am Begriff der Erlebnisganzheit
ausführlicher behandeln. Ich habe eine Reihe von Behauptungen
gefunden für die mir die Belege und Begründungen fehlen.
Nicht belegte und begründete Behauptungen:
6. Zählung und Signierung der Fundstellen
erleb 324; e := Erleben 153; erlebt 74; E:= Erlebnis 97
Kürzel für die Arbeit SZ := Sommer 1937
Zerfall, T = Titel, IV := Inhaltsverzeichnis
Lesebeispiel Signierung: SZ5.e2Erleben...
:
SZ := Der Ausdruck wird von Sommer in seiner Dissertation über den
Gestaltzerfall 1937 auf Seite 5 das 2. Mal gebraucht. Wird erleben oder
Erlebnis von einer Versuchsperson gebraucht, wird dies durch einen Zusatz-Index
"v" gekennzeichnet: "Das wurde aber fast nur als Hell-Dunkelgemisch
SZ12.e1verlebt.
" Es ist der erste Gebrauch von "erleb..." auf Seite 12 und "erleb..."
wird von einer Versuchsperson gebraucht.
Ende der RS-Zusammenfassung
Titel: Zerfall optischer Gestalten: SZT.e1Erlebensformen und Strukturzusammenhänge
Einleitung 5
Erster Teil. Symptome und Bereiche des Zerfalles 10
Zweiter Teil. Verlaufsformen des SZIV.E1Gestaltzerfallserlebnisses
32
Dritter Teil. Zur Theorie des Gestaltzerfalles
61
Literaturverzeichnis 64
Tafel
nach 66"
Ende Inhaltsverzeichnis Sommer
Die vorliegende Arbeit schließt sich einer
Reihe von Veröffentlichungen des Forschungskreises des Leipziger Psychologischen
Institutes an, die die Frage nach der Entstehung von Gestalten im „entwickelten
Bewußtsein" (Sander) behandeln. Es sind dies die Arbeiten von Fr.
Sander, E. Wohlfahrt und U. Mantell. Diese „Psychologie der
Aktualgenese" (der Begriff ist von Sander geprägt worden) forderte
gleichsam als ergänzendes Gegenstück Einsicht in den Vorgang
des Vergehens und des Zerfalles der Gestalten.
Zum ersten Male berichtet unseres Wissens Fr.
Sander gemeinsam mit R. Jinuma im Jahre 1928 im Archiv für
die ges. Psychologie Bd. 65 (25 S.191 ff.) [FN1] über Zerfallserscheinungen
an optischen Gestalten. Diese Arbeit zur „Psychologie des stereoskopischen
Sehens" geht nicht unmittelbar auf die Untersuchung des Gestaltzerfalles
aus. Es wird jedoch die Zerstörungsgrenze der mehr oder minder sinnvollen
Gestalten festgestellt. In jenem Bereiche, in dem die Vp Zerfall SZ5.e1erlebt,
treten innere Spannungen und Bewegtheit des Bildes auf. Diesen steht der
Drang nach Erhaltung des SZ5.e2Erlebensganzen
entgegen. Sander erklärt diese SZ5.e3Erlebensweise
als
„Spannung zwischen den Forderungen der Reizkonstellation und den dispositionellen
Gestaltungstendenzen". Dieser Gedanke ist später in größerem
Rahmen in seinem Aufsatze „Funktionale Struktur,
SZ5.E1Erlebnisganzheit
und Gestalt" ausgeführt (23 S. 255 ff.). In derselben Richtung liegen
auch die Ergebnisse der Versuche, die Sander auf dem 13. Kongreß
der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Leipzig (1933) vortrug.
Erscheinungen des Gestaltzerfalles wurden dort „auf dem Gebiete rhythmischer
Gestaltbildungen demonstriert".
Diese Fragerichtung wurde nun mit veränderten
Methoden und an Hand reichhaltigerer Einzelergebnisse weiterverfolgt."
[FN1] Die eingeklammerten Zahlen weisen auf das Literaturverzeichnis am Schlusse der Arbeit hin.
"2. Die Methode
Da es sich bei der Untersuchung des Gestaltzerfalles
um ein relativ unbekanntes Teilgebiet der Auffassungspsychologie handelt,
war es ratsam, die Experimente auf einem Sinnesgebiete anzusetzen, wo die
Reiz-[>6]bedingungen gut überschaubar sind. Im Optischen scheint diese
Forderung am weitestgehendsten erfüllt. Außerdem fällt
es der Vp verhältnismäßig leicht, ihre SZ6.E1Erlebnisse
auf diesem Gebiete sprachlich zu fassen.
Damit der Gestaltzerfall der Beschreibung zugänglich
wurde, mußte der Prozeß künstlich in die Länge gezogen
werden. Wir bedienten uns einer Methode, die sich schon bei den Versuchen
zur Aktualgenese im Prinzip fruchtbar erwiesen hatte (vgl. Wohlfahrt,
Mantell). — Mit einem Projektionsapparat erzeugten wir zunächst
ein Bild von normalem, gut übersehbaren Größenformat. Das
SZ6.E2Gestaltzerfallserlebnis
wurde nun dadurch hervorgerufen, daß dieses Bild in einer Reihe kurzzeitiger
Darbietungen schrittweise vergrößert wurde, bis es schließlich
von der Vp nicht mehr überschaut werden konnte und SZ6.e1erlebensmäßig
Zerfall gegeben war.
Die Bilder der Reihe A wurden bei der ersten Darbietung
1/2 Sekunde, bei den vier weiteren je 1/5 Sekunde dargeboten. In Reihe
B wurde jedes Bild siebenmal exponiert, und zwar das erstemal 1 Sekunde
lang, bei jeder weiteren Darbietung 1/2 Sekunde. Gleichzeitig wurde das
Bild vergrößert. Seine Fläche nahm durch die Vergrößerung
bei Reihe A im Verhältnis von 1:3,3:6,7:12,3:19,4 zu. Bei Reihe B
im Verhältnis von 1:2,5:3,6:5,3:7,3:11,6:19,3 zu.
Die Veränderung der Versuchsbedingungen in
Bezug auf die Darbietungszeiten erschien erforderlich, um den Vpn in der
ersten oder zumindest in den ersten Darbietungen ein einigermaßen
abgerundetes SZ6.E3Bilderlebnis
zu verschaffen. Es entspricht trotz der relativ langen Expositionszeit
noch keineswegs dem einer Dauerdarbietung. Aber geraddiese „Lockerheit"
des Gefügezusammenhanges war unserer Versuchsabsicht in besonderem
Maße günstig."
"3. Das Versuchsmaterial
Als Versuchsmaterial dienten Diapositive nach Handzeichnungen mehr
oder minder bekannter Künstler. Die Auswahl der Bilder erfolgte nach
verschiedenen Gesichtspunkten. Es wurde Wert gelegt 1. auf Klarheit und
Abgesetztheit der Striche gegeneinander, damit bei der Vergrößerung
nicht durch Verwaschungen und Verschwommenheiten bildfremde Qualitäten
auftreten konnten, 2. auf Unterschiede der Bilder im Grade der Gestaltetheit
(vgl. Bild 3 und Bild 9), 3. auf den Wechsel des Bildmotives (a. Organisches:
Menschen- und Tierdarstellungen, Porträts, [>7] 5, 1, 8, 7, 11, Situationen
3, 2, 12, 10, 16, b. Landschaftsmotive: 14, 9, 6, 15, c. Technisches: 13,
4).
Folgende Blätter dienten als Vorlagen zur Herstellung
der Lichtbilder:
Die Bilder 1-11 sind auf der Tafel am Schluß der Arbeit abgebildet
[FN1]" [RS: hier vorgezogen]
"Weiter wurden einige nicht wiedergegebene Bilder benutzt :
12. Slevogt : Wilde Pferde. Handzeichnung. Mus. d. graph. Künste.
Leipzig.
13. R. Koch: Darstellung einer Maschine, in der Festschrift für
Faber & Schleicher AG., Offenbach, S. 76.
14. Orlik: Wüstenlandschaft. Druck. Mus. d. graph. Künste.
Leipzig.
15. H. Daur: Landschaft. Abgebildet in: Katalog des Künstlerbundes,
Karlsruhe 1910.
16. Altdorfer : Der heilige Christophorus, mit dem Kinde durch das
Wasser watend.
Der Versuchsreihe A gehörten die Bilder 5, 14, 3, 2, 9, 1, 12 an, der Reihe B 8, 7, 11, 6, 4, 13, 10, 15, 16. Bei den Zitaten der Rohprotokolle bezeichnet die erste arabische Zahl die Vp, die zweite das Bild und die nach unten herausgerückte Zahl die Nummer der Darbietung; ein z an dieser Stelle weist auf das zusammenfassende Schlußprotokoll hin.
[FN1] Die Bilder: 6. D. Milde, Weiden am Bach; 10. E. Pottner, Schwäne und 11. J. Dietz, Hexe, stammen aus dem Kalender „Kunst und Leben" des Verlages Fritz Heyder, Berlin-Zehlendorf, der freundlicherweise die Genehmigung zum Abdruck erteilte. Auch für die sonstigen Genehmigungen zur Wiedergabe sind wir zu Dank verpflichtet." [>8]
"4. Die Versuchsanordnung
Die Experimente wurden als Einzelversuche durchgeführt.
Die Vp saß hinter einem durchscheinenden Projektionsschirm auf einem
Stuhl mit Kopfhalter, der ein Ausweichen nach hinten verhinderte (Größe
des Projektionsschirmes 1,90 X 2,90 m). Die Bilder erschienen jeweils in
der Mitte des Schirmes in Augenhöhe der Vp. Der Abstand Auge — Bildfläche
betrug etwa 55 cm. Rechts von der Vp stand ein Tisch mit einer elektrischen
Lampe. Vor dem Schirme befand sich in 9,50 m Entfernung der Projektionsapparat.
Der Versuchsraum wurde während der Versuche stark abgedunkelt.
5. Die Versuchsdurchführung
Vor Beginn der Versuche wurde der Vp folgende Instruktion
vorgelesen:
„Wir zeigen Ihnen in den Versuchen bildliche Darstellungen
in Schwarz-Weiß-Technik. Jedes Bild wird Ihnen mehrmals nacheinander
mit mittlerer Darbietungszeit gezeigt werden. Gehen wir zu einem neuen
Objekt über, so kündigen wir das an (neue Reihe!). In der Aufeinanderfolge
der Darbietungen werden die Bilder ständig vergrößert,
so daß schließlich die gesamte Bildfläche eingenommen
wird.
Sehen Sie bitte zwanglos in die Mitte der Projektionsfläche
und bemühen Sie sich, größere Blick- und Kopfbewegungen
zu vermeiden. Nach jeder Darbietung schreiben Sie bitte Selbstbeobachtungen
nieder, nötigenfalls geben Sie auch erläuternde Skizzen.
Geben Sie an, ob und in welcher Weise Sie etwas
Sinnvolles erfaßt haben, wobei auch auf unbestimmte Formen des Anmutens
zu achten wäre. Ferner sollen Sie über die gefühlsmäßige
Einstellung zum Dargebotenen Angaben machen. Berichten Sie über alle
sich bemerkbar machenden Veränderungen des Aufgefaßten und Ihres
Zumuteseins."
Die Vp löschte danach die Tischlampe aus. Nach
etwa zwei Minuten kündigte der Vl den Versuch in folgender Weise an:
„Achtung - bitte - jetzt". Bei „jetzt" löste er den Kompurverschluß
und auf dem Schirm erschien eine halbe bzw. in der Reihe B eine Sekunde
lang das Bild. Durch einen Vorversuch wurde die Vp mit der Methode vertraut
gemacht. - Nach der Darbietung zündete die Vp das Licht an und beschrieb
in beliebig langer Zeit ihr SZ8.e1Erleben
während des Versuches. Die 2.-5. bzw. 7. Darbietung wurde in derselben
Weise vorbereitet. Die Expositionszeit betrug nun aber nur noch 1/5, bei
Reihe B 1/2 Sekunde, was der Vp jeweils mitgeteilt wurde. Am Ende jeder
Versuchsreihe wurde die Vp gebeten, einen „Gesamtüberblick" zu geben.
Danach wurde ihr das Bild in Dauerdarbietung gezeigt.
6. Die Versuchspersonen
Alle Vpn waren Mitglieder des Psychologischen Institutes der Universität
Leipzig. Es wurden nur solche herangezogen, die schon längere Zeit
psychologisch gearbeitet hatten und in der Selbstbeobachtung mehr oder
minder geschult waren. Unter ihnen
befanden sich vier Fachpsychologen (Vp 1, Vp 6, Vp 12, Vp 14). Die
übrigen der insgesamt 18 Vpn waren Studierende der Psychologie oder
des Lehramtes. Eine Aus-[>9]länderin (Vp 7) schrieb ihre Selbstbeobachtungen
in ihrer Muttersprache nieder und übertrug sie später ins Deutsche.
Sprachliche Unklarheiten wurden vom Vl nach mündlicher Übereinkunft
richtig gestellt.
7. Die Methode der Auswertung und die Fragestellung
Im ersten Teile der Arbeit kam es zunächst darauf an, klarzustellen,
wie sich Gestaltzerfall äußert. Es wurde deshalb gefragt :
1. Welche SZ9.e1Erlebensweisen
sind für den Gestaltzerfall charakteristisch? Welche Zerfallssymptome
sind im Verlaufe des SZ8.e2Erlebensprozesses
nachzuweisen?
Im zweiten Teile der Untersuchung wurden diese Einzelsymptome
im Zusammenhange des SZ9.e3Erlebensprozesses
gesehen. Während der Auswertung der Protokolle wurde ersichtlich,
daß die Ergebnisse zu strukturpsychologischen Gedankengängen
Anregung boten. Der zweite Teil ist deshalb in dieser Richtung angelegt.
Die von F. Krueger ausgebildete Strukturtheorie scheint damit sachlich
unterbaut werden zu können. — Die Vp ist an dem SZ9.e4Zerfallserleben
als ganze Person beteiligt, d. h. mit der ihr eigenen Gesamtstruktur. In
dem Augenblick, wo diese Ganzheit der Person angegriffen wird, zeigt sich
in der Weise, wie sie sich damit abfindet, das wahre Wesen dieser lebendigen
strukturellen Ordnung deutlicher als sonst. Gerade darum erscheint die
Methode insonderheit fruchtbar für die Aufhellung struktureller Fragen.
Die zweite Frage lautet deshalb:
2. Welche endogenen, strukturellen Bedingungen liegen
dem SZ9.E1Zerfallserlebnis
zugrunde? Gibt es verschiedene, gegeneinander abzuhebende Weisen strukturmäßiger
Äußerungen dem Zerfall gegenüber? [>10]
I SYMPTOME UND BEREICHE DES ZERFALLS
Wenn wir den Zerfall optischer Gestalten als SZ10.e1Erlebenstatsache
beschreiben wollen, so müssen wir zunächst die Züge und
Seiten am Verlauf des SZ10.e2Gesamterlebens
herausheben, durch die sich der Zerfall bekundet, d. h. die Symptomwert
für den Zerfall haben.
Symptomwert in dem genannten Sinne kommt allen in
den Protokollen beschriebenen Tatsachen des SZ10.e3Erlebens
zu, die im Hinblick auf das ursprünglich psychisch Erfahrene — wir
bezeichnen es fortan mit SZ10.E1Ausgangserlebnis
— eine Veränderung bedeuten und denen gleichzeitig ein Wechsel der
Gefühlslage und Wertänderung eigen ist. Um Irrtümer von
vornherein zu vermeiden, sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß
es in diesem ersten Teile ausschließlich um den Nachweis von Einzelsymptomen
geht. Ihr Für- und Gegeneinander und ihre Stellung im ganzen SZ10.e4Erlebensverlauf
wird vorläufig nicht beachtet.
Bei der Bearbeitung der Protokolle in dieser Blickrichtung
ergab sich, daß man die Einzelsymptome bestimmten Bereichen zuteilen
kann.
An solchen Bereichen hoben sich folgende heraus:
Diese vier Bereiche, die sich in unserem Material als bedeutungsvoll
erwiesen, schließen einander nicht aus, sondern sind im Gegenteil
in jedem SZ10.e5Bilderleben
mitwirkend zu denken, wenn sich auch nicht in jedem Einzelfalle auf sie
hinweisende Äußerungen der Vpn aufzeigen lassen. ..." [>11]
"Unsere Aufgabe besteht nun darin, durch Beispiele aus dem Protokollmaterial den Symptomnachweis zu führen. Wir werden dabei die oben angegebene Reihenfolge beibehalten, weil wir glauben, daß dadurch das Eindringen in den Gestaltzerfallsprozeß erleichtert wird. Formale Veränderungen des Aufgefaßten können am ehesten als Zerfallserscheinungen erkannt werden, während wesenhafte Umprägungen des Ganzen schwerer aufzeigbar und verständlich sind.
1. Der Bereich des Gestalthaft -Formalen
Eines der häufigsten Symptome in diesem Bereiche ist die Ausgliederung
dominanter Glieder aus dem Bildganzen. An einigen Beispielen soll zunächst
gezeigt werden, wie sich die Vergrößerung des Bildes SZ11.e1erlebensmäßig
auswirken kann.
14,142: „Aus einer verschwommenen Umgebung
hob sich für mich eine Palmengruppe heraus, die auch objektiv weiter
im Vordergrunde zu liegen schien, diese Gruppe war bestimmt, dagegen war
um sie auch noch etwas. Das wurde aber fast nur als Hell-Dunkelgemisch
SZ11.e1verlebt."
[>12]
16, 32: „Das Sonnige von vorhin blieb.
Doch was war das für ein Riese? Nichts als nur die riesigen Beine,
die fast das ganze Bild (subjektive) ausfüllten."
9, 82: „Ich habe die Vergrößerung
deutlich SZ12.e2vbemerkt.
Nur der Kopf hob sich noch heraus, das andere wurde mehr geahnt als gesehen.
. . ."
9, 102: „. . . Sehr klar ist mir nur
der Hals und der Kopf des rechten Schwanes gegeben. Alles andere ist hintergrundartige
Fleckigkeit von ziemlicher Ruhe (große Flächen). Um den zweiten
Schwan und die Spiegelbilder weiß ich von der ersten Darbietung her."
Bei diesen SZ12.e2Erlebensverläufen
und einer Reihe anderer vermag die Vp das Gestaltganze nicht mehr auffassungsmäßig
zu umspannen. Einzelmomente werden deshalb gewichtig und geben von sich
aus dem SZ12.e3Gesamterlebensinhalt
ein spezifisches Gepräge. Sie heben sich von einem diffusen Hintergrunde
ab, der nur noch im Wissen um ein Bildganzes zur Gesamtgestalt gehört.
Diese Gestaltdominanten geben dem SZ12.e3Erlebensganzen
den sinnhaften Halt. Sie sind gleichsam Rückgrat des SZ12.e4Erlebten,
während alles andere zur blassen Nebensächlichkeit absinkt. Infolge
dieser Verlagerung werden die im Bildganzen bereits angelegten Gegensätzlichkeiten
zu klarer Kontrastwirkung gesteigert.
10, 44: „Die mittlere Schiene drängt sich auf. . .
. Alles andere verschwimmt und macht den Eindruck des Nebensächlichen,
sozusagen unwichtigen Anhängsels. . . ."
Bei unseren Beispielen betrifft diese Ausgliederung
in den meisten Fällen die sinnträchtigsten. Glieder des SZ12.e5erlebten
Bildganzen : die Palmengruppe als Charakteristikum der Wüstenlandschaft,
den Bauern, ohne Zweifel die Hauptperson des Bildes dem Sinne und auch
der Gestaltgröße nach. Auch an anderen SZ12.e6Erlebensbeschreibungen
kann die Ausgliederung der dem Sinne nach „tragenden" Gliedstücke
nachgewiesen werden.
Man könnte diese Tatsache aus dem verwendeten
Material und der Methode der Darbietung zu verstehen versuchen. Bei der
Bildreihe A ist das Sinngewichtige des Bildes fast immer in die Mitte der
Bildfläche gerückt. Die Mitte muß nun aber notwendig auf
Grund der Versuchsanordnung im Blickpunkt der Auffassung stehen. Es ist
deshalb nicht verwunderlich, wenn Teile, die dort liegen, sich leicht aus
dem Bildganzen herausheben, sobald dieses vergrößert wird.
Mit anderem Bildmaterial mußte deshalb entschieden
werden, ob das Dominantwerden sinnträchtiger Teile material- und methodenbedingt
ist. In der Bildreihe B wurde die Sinnakzentuierung auf die Gestalt-[>13]glieder
der Bildmitte bei den Bildern „Abendzug" (4) und „Weiden am Bach" (6) vermieden.
Bis zu einem gewissen Grade gelang das auch bei dem Bilde „Hexe", weil
dort das Gesicht durch seine Ausdruckshaftigkeit besonders anziehend wirkt.
Es zeigt sich nun, daß sinnträchtige Glieder auch dann, wenn
sie nicht in der Mitte des Bildes liegen, SZ13.e1erlebensmäßig
dominant werden können. Als Sinnzentren üben sie anziehende Wirkung
aus, obwohl ihre Lage auf der Darbietungsfläche ungünstig geworden
ist.
4, 112: „Alles war ein großes Durcheinander.
. . . Ich mußte aber zu dem Gesicht sehen. Es hatte etwas Anziehendes
an sich."
10, 44: „Die mittlere Schiene drängt
sich auf und führt unwillkürlich sofort zur Lokomotive hin. .
."
Sofern es der Vp nun nicht gelingt, diesen anziehenden Sinnkomplex auch gestalthaft sinnvoll aufzufassen, drängt sie doch unablässig danach. Dieses Drängen verliert sich erst dann, wenn andere Gestaltteile, die für die Auffassung günstig gelegen sind, dominant werden und in sinnvolle Bezüge gebracht werden können. Aber immer tragen diese dann irgendwie den Charakter eines aufgedrängten Ersatzes für das, was die Vp eigentlich zu haben wünscht.
8, 43: „Die Lokomotive rückt nach
oben. Dafür habe ich Weichen und helle Flecke gesehen. . . ." 44:
„Eine Schienenkreuzung liegt im Mittelpunkt. Das sieht man gerade so schön
mit einem Blick, das ist so etwas Bedeutsames. Der Sachverhalt Weiche wird
gewichtig, geradezu gefühlsgeladen. Kindheitserinnerungen tauchen
auf. . . . Da kann die Maschine da oben unklar bleiben. Ich habe ja hier
etwas, da kann ich das andere gern vergessen."
Das Gestaltganze „Bild" stellt demnach nicht ein homogenes Sinnfeld
dar, sondern die SZ13.e2erlebensmäßig
aufzeigbaren Gestaltdominanten erweisen sich als Sinnzentren von eigentümlich
bestimmender Macht. Von hier aus werden auch Spannungen verständlich,
die sich aus den sich behauptenden Sinndominanten und den objektiv im Mittelpunkt
stehenden Gestaltdominanten ergeben. Daraus entwickeln sich bestimmte Aktions-
und Reaktionsformen der Seele. Wir werden später darauf zurückkommen.
Im Gegensatz zu dem Dominantwerden von Gestaltteilen
wird für manche Vpn das Fehlen von Gliedstücken SZ13.e3erlebensmäßig
bedeutsam. Die Ungunst der Auffassungsbedingungen verhindert ihr Erscheinen.
Sie liegen gleichsam hinter einem Vorhang verborgen. Im Rahmen des gefühlsmäßig
vorschwebenden Sinn- und Gestaltganzen sind sie aber [>14] noch unberührt
von jedem zerstörenden Einfusse mitgegeben. „SZ14.E1Lücke-Erlebnis",
nicht eigentlich Zerfall, sondern Fehlen. Es müßte überblickt
werden können, dieses Gefühl dauert an", (6, 62).
„Beobachtungslücken", (5, 32) werden festgestellt. Die
Vp vermag nur ein Bruchstück des „mitgewußten" Sinn- und Gestaltganzen
aufzufassen.
6, 93: „Daß die Gestalt zerfallen
wäre, könnte ich nicht eigentlich sagen. Mir ist mehr so, als
ob man bis auf ein kleines Stück abgedeckt hätte. Ich muß
immer wieder daran denken, das ist so, als wenn man von einem zu großen
Objekt Teile durch das
Gesichtsfeld des Mikroskopes führt."
11, 94: „Jetzt hatte ich das Gefühl,
als ob nur ein Bruchstück dargestellt sei. ..."
Bedeutend ganzheitlicher wird das proportionale Unstimmigwerden des Bildes SZ14.e1erlebt. Auch hierbei hat die Vp das Bild als Gliedergefüge. Zerfall äußert sich nun aber nicht von vornherein als Dominantwerden von Gliedstücken. Innerhalb des Gestaltganzen treten vielmehr räumlich-figurale Verschiebungen und Verzerrungen der Verhältnisse aller Gestaltglieder auf. (Objektiv ändert sich an den Verhältnissen nichts. Siehe Beschreibung der Versuchsanordnung.)
7, 33: „In dem ganzen Bilde herrschte
Unproportioniertheit. Es ist sehr unangenehm."
8, 114: „Hier verliere ich die Maßverhältnisse.
Es wird schnell zu groß. . ."
1, 82: „. . . das Bild erschien in anderen
Proportionen."
Bei den letzten Darbietungen geht das SZ14.e2Erleben bisweilen auf Frühformen der Gliederung zurück. Diese primitiven Gliederungsformen liegen in vielen Fällen ganz außerhalb des Zuges des ursprünglichen Sinnganzen. Symmetrieeindrücke, Hell-Dunkelgegensätze, mitunter auch Gewichtsverteilungen machen das SZ14.E2Erlebnistotal aus. SZ14.E3Erlebnisse dieser Art werden von Gefühlen des Gegensatzes getragen.
11, 12: „Während bei der ersten Darbietung
alles Sinnvolle im Gegenständlichen lag, so ist es hier im Helldunkel."
2, 14: „Nur das Schwarz-Weiße,
die kräftige Gegenübersetzung von Schwarz-Weiß bleibt sympathisch."
Das SZ14.e3Erlebte wird nicht mehr als Bild behandelt, sondern ist Sachverhalt geworden, der geometrische Eigenschaften aufweist. Sinnvoll ist das Dargebotene nur noch in Bezug auf seine Geformtheit.
10, 104: „Jetzt zerfällt das Bild
in zwei Teile, indem nämlich aus der unteren Wellenlinie zwei werden.
Symmetrischer Eindruck." [>15]
10, 86: „Jetzt machen sich die Stücke
selbständig. Ich hatte den Eindruck verhältnismäßig
wenig verbundener Komplexe, die gleichsam gegeneinander gesetzt sind und
nur noch dem Gewicht nach aufeinander bezogen sind. . . ."
Damit hängt zusammen, daß bei fortschreitender Vergrößerung das SZ15.e1Gestalterleben mehr und mehr zurücktritt und die Zeichentechnik sich aufdrängt.
8, 46: „Das Zwischen-den-Schienen ist
ein bißchen löcherig geworden. Die Technik kommt etwas durch."
10, 75: „Das Schwarz-Weiße der
Zeichnung trat hervor."
Dieser Übergang vom Gestalthaften zum Strichhaften
geht nicht in einem Schritt vor sich. Oftmals ist deutlich eine Zwischenstufe
gegeben. Das SZ15.e2Erleben
spannt sich dann zwischen zwei Pole. Einerseits ist das Bildganze noch
lebendig und will sich als solches erhalten, anderseits drängen aber
auch die Striche unruhig nach Selbständigkeit. Der Kontur löst
sich auf und wirkt nur noch als nichtssagende Linie. Der SZ15.e3erlebte
Raum wird zur Fläche, die mit sinnlosen Strichen gefüllt
ist. Dieses spannungsreiche Oszillieren „zwischen den beiden Bedeutungsintentionen"
(Ganzes — Strich) (6, 24) wird von Gefühlen der Unsicherheit,
der Unruhe, des Schwankens u. ä. untermalt.
6, 24: „Einerseits drängten noch
die mehr geahnten Konturen zum Haben der Gesamtqualität, anderseits
schien darin schon etwas Gewaltsames zu liegen, und es klang das SZ15.e4vErleben
an: Das sind doch eigentlich nur noch Striche ohne Zusammenhang. — Gefühlsmäßiges
Schwanken!"
3, 13: „Hier SZ15.e5verlebte
ich zweierlei: Einmal glaubte ich hindurchsehen zu können durch das
Gerippe, sah also Tiefe. Und dann begannen hier schon die einzelnen Linien
und Flächen sich zusammenzuordnen. . . ."
3, 33: „Wiederum aber steht das Bild
irgendwie an einer Schwelle, wo es schon seine Körperhaftigkeit zu
verlieren droht und flächenhaft wirkt."
11, 144: „. . . sogleich sehe ich auffällige
schwarze Striche, bei denen ich das unangenehme Gefühl nicht unterdrücken
kann, daß sie etwas darstellen sollen, für sich genommen aber
nur Striche sind."
Bisweilen kommt dieser Übergang vom Gestalthaften zum Linienhaften der Vp nicht deutlich zum Bewußtsein. Ganz beiläufig wird innerhalb der SZ15.E1Erlebnisbeschreibung von Linien gesprochen, deren bisherige Funktion verändert ist.
10, 87: „. . Die anderen Linien verlieren an Gewicht, obwohl sie im engeren Gesichtsfelde sind." [>16]
Sommers "Zusammenfassung der Ergebnisse
Im folgenden soll in knapper Form der psychologische Ertrag der Arbeit herausgestellt werden. Die von F. Krueger durchgebildete Ganzheits- und Strukturlehre gibt dafür die Grundlage ab. Von hier aus werden die Zerfallserscheinungen und die ihnen entgegenwirkenden Tendenzen verständlich.
1. Im Zerfallsprozeß erweisen sich bildliche Darstellungen als Gliedergefüge, die dinglichen Sinn verkörpern. Das ausgewogene sinnvolle Zueinander der Einzelglieder, von denen jedes seinen bestimmten Sinnwert im Ganzen hat, wird zugunsten bereits vorhandener, aber bisher orga-[>59]nisch eingebetteter Dominanten einseitig verlagert und damit das ursprüngliche Ganze zerbrochen.
2. Auf höheren Stufen des Zerfalles werden auch diese Dominanten ihres Sinngehaltes entleert. Es kommt zu Nebenordnungen und Angleichung aller Glieder. Aus einem Sinngefüge wird eine Ansammlung von Einzeltatsachen.
3. Am frühesten wird Zerfall in komplexen Anmutungsqualitäten erfahren. Diese können als Ausdrucks- oder auch als Wesensqualitäten, die in der Hauptsache gefühlsartiger Natur sind, SZ59.e1erlebt werden (funktionaler Primat des Gefühls).
4. Ausdrucks- und Wesenhaftigkeit setzt einen gewissen Grad von dinglich-sinnvoller Gestaltetheit voraus. Zerfall bedeutet Trennung zwischen Ausdruck und Gestalthaftigkeit insofern, als jener zu bloßer qualitativer Gesamtfärbung einer relativ sinnlosen Gegebenheit herabsinkt.
5. Ausdruckswechsel und -verlust sind verbunden mit gefühlsmäßigen Wertungen. Zerfall wird in dieser Hinsicht als ein Abfallen vom Wohlgefällig-Stimmigen zum Minderwertig-Häßlichen erfahren.
6. Damit ist erwiesen, daß die SZ59.e2erlebten Bildgestalten der Vp als innere Wertgehalte nahestehen und Bedeutungsgewicht besitzen. Zerfall bekundet sich deshalb im Gleichgültigwerden der Vp gegenüber dem Dargebotenen. Der Wesenskern des SZ59.e3erlebten Ganzen wird getroffen, es geht um die Zerstörung eines Wertgehaltenen.
7. Der Grad an Widerstandsfähigkeit einer Bildgestalt dem Zerfallsprozeß gegenüber ist vom Darstellungssinne mit abhängig und im Zusammenhang damit von der Tiefe [FN1] des SZ59.e4Erlebens. Das „Lebendige", insonderheit die Qualität des „Menschlichen", ist zwar am empfindlichsten gegen Angriffe auf seine Existenz, setzt sich aber auch am nachhaltigsten durch.
8. Ein bezeichnendes Symptom für den Zerfall optischer Gestalten
ist das Auftreten dynamischer Erscheinungen „in dem Moment, wo ein einheitliches
und sinnvolles Ganze an der Grenze seiner Selbsterhaltungsfähigkeit
anlangt" (Sander). Sie können in Sinnzusammenhänge eingebunden
sein (bewegtes Wasser u. ä.) oder auf höheren Stufen des Zerfalles
als freie Dynamik in Erscheinung treten.
Der Zerstörungstendenz, die in der fortschreitenden
Vergrößerung des Bildes begründet liegt, wirkt der Drang
nach Erhaltung von Ganzheit entgegen. Er kann sich in verschiedener Art
und Weise äußern.
1. Erlebnisse
besitzen Einstellungscharakter „insofern, als sie nicht mit dem sachlichen
Vollzug der ihnen zugrunde liegenden Motive abgeschlossen sind, sondern
weiter gehen und sich hemmend oder fördernd auf die Realisierung neuer
SZ60.E1Erlebnismotive
auswirken" (Schadeberg 27 S. 6). Der SZ60.e1Erlebende
kommt mit dem SZ60.E2Erlebnis
in eine spezifische Ausrichtung, die sich beizubehalten trachtet. Im Zerfallsprozeß
bestimmt sie sich inhaltlich in verschiedener Art und Weise, d. h. als
Streben nach spezifischen Sachgehalten.
Sie kann als Tendenz nach Gestaltetheit, nach begrifflicher
Erfassung, nach dinglich-sinnvoller Ausdeutung, nach Ausdruckshaftigkeit
oder Wesenhaftigkeit erscheinen. Diese Tendenzen sind nicht isoliert, auf
die einzelnen SZ60.E3Erlebnisverläufe
verteilt, zu denken. Es bestehen vielmehr mannigfache Beziehungen untereinander.
Gestaltetheit und Ausdruckshaftigkeit bedingen sich bis zu gewissem Grade
wechselseitig, ebenso dingnahes Erfassen und gestalthafte Prägung,
Wesenhaftigkeit — Sinn — Ausdruck.
Das übergreifende seelische Prinzip der Erhaltung
von Ganzheit nimmt im Eingestelltsein der Vp feste Form an. Am einsichtigsten
ist das beim begrifflichen Erkennen. Dort ist durch die Verbegrifflichung
des Dargebotenen das im SZ60.E4Ausgangserlebnis
erfahrene Sinnganze den Zerstörungseinflüssen entzogen. Damit
ist Ganzerhaltung weitgehend gewährleistet.
2. Daß es beim Gestaltzerfall nicht nur um
die Zerstörung einer momentanen SZ60.E6Erlebniskonstellation
geht, beweisen die Ausrichtungen auf spezifische Sachgehalte. Das Gegebene
ist in besonderer Weise „wertvoll". Normative Züge können nicht
mehr allein aus dem vorgefundenen SZ60.E7Erlebnistatbestand
erklärt werden, sondern sind nur aus überdauernden Gerichtetheiten
der Seele zu verstehen.
Diese Erkenntnis rechtfertigt theoretische Folgerungen.
[>61]
III ZUR THEORIE DES GESTALTZERFALLES
1. Sowohl aus dem Symptomnachweis als auch aus der Darstellung der Verlaufsformen
der SZ61.E1Erlebnisse dürfte
deutlich geworden sein, daß Gestaltzerfall kein bloßes Zerbrechen
einer optischen Reizkonstellation ist.
Der Gestaltzerfallsprozeß zeigt ein doppeltes
Gesicht : Einmal SZ61.e1erlebt die
Vp in der Aufeinanderfolge der Darbietungen, wie das Bild, methodenbedingt
und gewollt, immer unüberschaubarer wird und dadurch als Gestalt-,
Sinn-, Ausdrucks- und Wesensganzheit zerfällt. Gleichzeitig werden
Wünsche, Hoffnungen und Forderungen wach, die auf Erhaltung des SZ61.e2Erlebten
und auf Verwirklichung eines Sein-Sollenden, einer Idee, hindrängen.
Inhaltlich wurden diese Ideen im SZ61.e3Erleben
als Tendenzen nach „Gestaltetsein", nach „Sinn- und Bedeutunghaben", nach
„ausdrucksvoller Dinglichkeit" und nach „Wesenhaftigkeit" vorgefunden.
— Damit wird auf Vollständigkeit kein Anspruch erhoben, sondern es
ist lediglich aufgezeigt, was die Methode geleistet hat. — Mit diesen Tendenzen
sind überdauernde Strukturgerichtetheiten getroffen, die sich hier
auf dem Gebiete optischer Wahrnehmung gegenüber den Zerfallserscheinungen
bewähren. Es darf aber nicht so verstanden werden, als sei jeder Mensch
nur zu einer dieser Ausrichtungen fähig. Die Tendenzen wollen
nur als Neigungen zu einer spezifischen SZ61.e4Erlebensweise
aufgefaßt sein, ohne dadurch andere auszuschließen. In der
SZ61.E2Erlebniswirklichkeit
differenziert sich das Problem noch dadurch, daß auch die jeweils
vorliegende optische Reizkonstellation als Bedingungskomplex für die
„Strukturauslösung", d. i. die Art der wirkenden Tendenz, mitbeachtet
werden muß. Beim SZ61.e5Erlebensverlauf
im
Bereich des Wesenhaften konnte das an einigen Bildern deutlicher als anderswo
gezeigt werden. — Es handelt sich dabei nur um eine Auslösung struktureller
Gerichtetheiten, nicht um die Prägung des Prozesses durch die Artung
des Bildes. Wesentlich für die SZ61.E3Erlebnisgestaltung
ist der strukturelle Grund, auf dem das SZ61.E4Erlebnis
aufruht.
2. „SZ61.E5Erlebnisganzheit
will sich wie jede strukturelle Ganzheit erhalten und bewahren", so formuliert
W.
Schadeberg (27 S. 62). Der Einstellungscharakter des ersten SZ61.E6Bilderlebnisses
(SZ61.E7Ausgangserlebnis)
erweist sich auch im Zerfallsprozeß. Jedoch nicht so, daß sich
dasSZ61.E7Erlebnis
[>62] in seiner Eigenart als Ganzheit erhalten will, sondern darin, daß
die Vp das SZ62.E1Erlebnisgesamt
zu bewahren versucht. Im oben angeführten Satze wird das übergreifende
seelische Prinzip der „Erhaltung von Ganzheit", von F. Krueger insonderheit
für Strukturen aufgewiesen, in doppelter Weise zur Erklärungsgrundlage
gemacht. Einmal wird den gehabten SZ62.e1Erlebensbeständen
der Drang nach Ganzerhaltung zugesprochen, anderseits aber auch den Strukturen.
Man könnte meinen, daß beides grundverschiedene Tatbestände
seien und wenig oder nichts miteinander zu tun hätten. — Durch unsere
Versuchsergebnisse wurde jedoch deutlich gemacht, daß das SZ62.Ee2Erleben
wesentlich vom strukturellen Grunde her bestimmt ist. Es muß deshalb
möglich sein, den Zerfallsprozeß auch theoretisch einheitlich
zu fassen.
Inneres „Gespannt"- und Eingestelltsein der Vp auf
ein „adäquates SZ62.E2Erlebnis"
und darüber hinaus die Tendenz nach Vollendung eines nur angerührten
SZ62.E3Erlebnismotives
als Ideeverwirklichung, wie es des öfteren in den SZ62.e3Erlebensverläufen,
besonders in den Haltungen der Vpn zum Dargebotenen aufgezeigt wurde, ist
symptomatisch für strukturelles Ausgerichtetsein der Vpn. Und zwar
in dem Sinne, daß sich im SZ62.E4Ausgangserlebnis,
entsprechend den äußeren Reizbedingungen, auf dem dispositionell-strukturellen
Grunde der Person eine spezifische strukturelle Konstellation ausbildet,
die sich in ihrer Art zu erhalten trachtet. Sie ist mitbestimmt zu denken
von der Gesamtstruktur der Persönlichkeit, von überdauernden
Gerichtetheiten, als aktuelle Konstellation erhält sie aber ihr Gepräge
vom Dargebotenen (vgl. oben u. 1: Struktur und Strukturauslösung),
nämlich insofern als die objektiven Bedingungen die inneren Kräfte
in eine bestimmte Ausrichtung bringen können.
Zwar scheint diese strukturelle Konstellation in
gewissem Grade plastisch, widerstandsfähig und unverletzlich (z. B.
kann der Ausdruck innerhalb einer gewissen Spannweite wechseln).
Zu ihrer Erhaltung bedarf sie aber „adäquater"
Reizkonstellationen. Wir müssen notwendig annehmen, daß sich
bei jeder Exposition eine den jeweiligen Reizbedingungen entsprechende
strukturelle Konstellation auszubilden sucht. Ihrer Ausformung wirkt aber
jeweils das Ganze der ursprünglichen Strukturkonstellation (SZ62.E4Ausgangserlebnis)
entgegen (z. B. als wirkungsmächtiger Einstellungscharakter erfahren).
Infolge ihrer Wertbetontheit ist diese ursprüngliche Konstellation
besonders tief und fest verankert und kann sich so den späteren gegenüber,
[>63] die relativ lockere und zerbrechliche Gefüge sind, behaupten.
Mit zunehmender Vergrößerung des Bildes läßt aber
die Straffung der ursprünglichen Ausrichtung nach (Gedächtnisbestände
verblassen; Gesetze des Vergessens!), die sich neu bildenden strukturellen
Gerichtetheiten nehmen überhand. Spannungen müssen notwendig
aus den Gegensätzen der verschieden geprägten strukturellen Ausgerichtetheiten
entstehen, eben deshalb, weil sie sich alle erhalten wollen, es aber je
nach dem Grade ihrer Verwurzeltheit im überdauernd strukturellen Sein
der Persönlichkeit nur in bestimmtem Maße vermögen. (SZ62.e4Erlebensmäßige
Äußerungen
sind Haltungsänderungen der Vp.)
F. Sander erklärt die Zerfallserscheinungen
folgendermaßen: „Die auf Ganzheitlichkeit und optimale Geformtheit
und deren Erhaltung gerichteten immanenten Kräfte des psychophysischen
Ganzen werden durch Veränderung der äußeren Bedingungen
überwältigt !" (23, 256 ff.). Man müßte danach annehmen,
daß seelische Kräfte unmittelbar auf die äußeren
Bedingungen einzuwirken vermöchten und umgekehrt. Wir können
nach dem Vorausgegangenen in folgender Weise formulieren: Spannungen bestehen
nicht zwischen Reizbedingungen und Struktur, sondern innerhalb der Struktur
selbst.
Nicht alle SZ62.E5Spannungserlebnisse
lassen sich als Strukturspannungen verstehen oder müßten als
solche verstanden werden. Man kann wohl sagen, daß Spannungen mehr
oder minder aktuell sind, wenn es sich nur um wenig belangvolle Tatbestände
handelt. Je stärker Werthaftes einbezogen ist, wie in unseren Versuchen,
um so mehr ist die Struktur beteiligt.
Mit diesen theoretischen Erörterungen haben
wir die Doppelheit der Erklärungsprinzipien auf eine Grundlage
zurückgeführt, nämlich auf die strukturelle. Die „Objektivierung
der Ergebnisse", d. h. die Verlegung seelischer Prinzipien in die „Gegenstände"
des
SZ62.e5Erlebens (vgl.
Gestaltgesetze), ist damit vermieden. Das Erscheinungsmäßige
wird von innen her geformt und ist nur von dort aus zu verstehen. Zerfall
und Erhaltung von Ganzheit vollzieht sich als Zerfall und Erhaltung struktureller
Bestände."
Ende der Sommer Zusammenfassung
und des Buches (es folgen Lit-Verz-Tafel und Lebenslauf)
»Wenn Menschen zusammen sind, etwa in einer bestimmten Arbeit zusammen, dann ist das unnatürlichste Verhalten, das erst in späten Fällen oder in krankhaften Fällen vorhandene Verhalten, daß da mehrere Ich zusammen da sind, sondern die Verschiedenen arbeiten gemeinsam zusammen, jeder als sinnvoll funktionierender Teil des Ganzen, unter normalen Umständen.« [FN18] ''
Krüger unterscheidet zwischen echten Gemeinschaften und zweckhaften Organisationen und erkennt den Status der sinnerfüllten Ganzheit nur den echten Gemeinschaften zu:
»Je mehr eine Sozialform echte Gemeinschaft ist, je nachhaltiger sie ihre Glieder bindet, je tiefer überhaupt sie in deren Tun und Lassen eingreift - ... im Gegensatz zu der Starrheit des bloß Herkömmlichen und zu den zweckhaften Organisationen - umso mehr ist eine solche Form durchwirkt von organisch erwachsenem und wieder Ganzheit zeugendem Leben. Daher ist sie umso voller durchblutet von Seelentum. Das bedeutet erscheinungsmäßig, sie ist von Erlebnissen gesättigt, ist reich und ergiebig, zuma1 an innigen Gefühlen.« [FN19]
Wie die Ideengeschichte des Ganzheitsdenkens zeigt,
ist ein derart universell interpretiertes Ganzheitsprinzip keineswegs auf
eine besondere theoretische Entwicklung innerhalb der Psychologie zurückzuführen,
sondern vielmehr als der in der Psychologie sichtbare Widerschein einer
sehr viel umfassenderen organisch-ganzheitlichen Ideentradition zu verstehen,
die im ersten Drittel de 20. Jahrhunderts auf den verschiedensten Wissenschaftsgebiete
Fuß gefaßt hatte.[FN20] Die Psychologie ist nur eine der Disziplinen
die von dieser Grundwelle universalistisch-ganzheitlichen Denkens erfaßt
wurden.
Ähnliches gilt auch für
das von beiden Schulen gelehrte Prinzip vom Vorrang des Ganzen vor seinen
Teilen. Der Vorrang, der dem Ganzen gegenüber den Teilen zukommt,
ist ein Vorrang der Entstehung nach, der Anschauung nach, der Wirkung nach
und schließlich - mehr implizit - dem Wert nach. Der genetische Vorrang
kommt in der Lehre zum Ausdruck, daß das soziale Wir früher
ist als das individuierte Ich. Der anschauliche Vorrang des sozialen Ganzen
wird darin sichtbar, daß das Ich sich in einer echten sozialen Ganzheit
kaum noch als getrennten, ausgesonderten Be-[>69]standteil erlebt, der
sich anderen Individuen gegenübersieht. Das Ich wird vielmehr von
der Gemeinschaft getragen, geht im gemeinschaftlichen Wir mehr oder weniger
vollständig auf. Der funktionale Vorrang besteht darin, daß
die Individuen sich die Belange des jeweiligen sozialen Ganzen selbst zu
eigen machen. Der Schritt aus der Welt der Tatsachen in die Welt der Werte
ist von dort nicht mehr weit: Faßt man den funktionalen Vorrang des
Ganzen vor seinen Teilen nicht nur deskriptiv - als Tatsache, die gegeben
ist-, sondern auch präskriptiv - als Zustand, der anzustreben ist
—, so hat man, ohne es gewahr zu werden, die Grenze zwischen Wissenschaft
und Weltanschauung überschritten.
Aufgrund dieser Prinzipien
ist klar, daß alle Formen der Gesellschaft oder sozialen Verbindung,
in denen sich das Ich gegenüber dem gemeinschaftlichen Wir vereinzelt,
als Fehlformen sozialen Lebens betrachtet werden müssen. Überall,
wo organisierte Zweckverbände an die Stelle blutvoller Gemeinschaften
treten, sind die im Überpersönlich-Seelischen waltenden Prinzipien
natürlicher Ganzheit verletzt. Idealformen des sozialen Lebens sind
demgegenüber solche Gebilde, die auf Blutsverwandtschaft beruhen:
Einheit von Mutter und Kind, Familie, Großfamilie, Sippe, Stamm und
Volk. Das Volk als das größte natürliche Ganze, das durch
Blutsbande zusammengehalten wird, bedarf dann allerdings des Panzers der
staatlichen Macht (der allerdings nur dann legitim und wirksam ist, wenn
Staat und Volk einander korrespondieren: Staaten, in denen viele Völker
zusammenleben, können auf Dauer keinen Bestand haben). [FN21]
Ist nun für Krueger der
nationalsozialistische Staat eine Verkörperung dieses Ideals? Als
er im Oktober 1933 den 13. Kongreß für Psychologie eröffnet,
scheint er dies noch zu hoffen. Seinen Eröffnungsvortrag über
Die
Lage der Seelenwissenschaft in der deutschen Gegenwart beendet er mit
einer Reverenz an »Adolf Hitler, den weitschauenden, kühnen
und gemütstiefen Kanzler«, dem es zu verdanken ist, daß
dem bisherigen Verfall Einhalt geboten und daß nunmehr Neuland in
Sicht ist. [FN22] Aber nur wenige Monate später, beim 14. Kongreß,
der bereits im Mai 1934 in Tübingen stattfindet, ist Krueger wesentlich
weniger emphatisch. Zwar meldet er mit Nachdruck den Anspruch an, daß
die von ihm begründete Ganzheitslehre auch auf die Psychologie der
Gemeinschaft angewendet werden muß. Aber seine Rede ist bereits durchzogen
von dem abwehrenden Mißtrauen, vielleicht auch der Angst des
kon-[>70]servativen Geistesaristokraten gegenüber der unkontrollierbaren
Wucht einer kollektivistischen Massenbewegung, die ebenso leichtfertig
wie hohlköpfig mit den Begriffen wie »Volksganzes« oder
»totaler Staat« umgeht und sich dabei am Ende auf die psychologische
Ganzheitslehre berufen möchte. Für diese Ganzheitsbegriffe
will Krueger auf keinen Fall in Anspruch genommen werden, und für
die Rechtfertigung dieser proletarischen Massenbewegung will er
seine subtile Ganzheitslehre doch nicht usurpieren lassen:
»Seit Kurzem erschallt auf
beinahe der ganzen Linie der geistigen Bewegungen . . . der Ruf nach Ganzheit.
Jetzt breitet er sich gleichlautend sogar in den. Zeitungen aus, und Massenversammlungen
lassen sich davon erregen. An diesen Orten soll gewöhnlich bei dem
uralten deutschen Wort lehrreicherweise eine überpersönliche
Verbundenheit zwischen leibhaftigen, aber möglichst wenig individuierten
Menschen vorgestellt werden. Das Schwergewicht verlegt man dann in die
»Volksgemeinschaft«, und zu ihr wird neuerdings der »totale
Staat« umrißweise hinzugenommen. Der Stand, die Familie und
der Bund treten hinter diesen bevorzugten Gegenstand des Öffentlichen
Meinens zurück, mehr noch die überzeitlichen Gebilde des Geistes,
am meisten die schöpferische Persönlichkeit. . . Wohlgesinnte
mit ungeschultem Kopf sehen die komplexen Allgemeinheiten, die sie verehren,
gern teilweise verhüllt von nebulöser Mystik oder verstellt
von handgreiflicher Mythologie. So ist es hoch an der Zeit, daß die
Erfahrungswissenschaft ihre Scheinwerfer auf die gemeinten Sachverhalte
richte.« [FN23]"
Suchen in der IP-GIPT,
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z.B. Inhaltsverzeichnis site: www.sgipt.org. |
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korrigiert:11.01.2023 irs Rechtschribprüfung und gelesen