Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=11.01.2023 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: TMJ
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Allgemeine Psychologie, Bereich Erleben, und hier speziell zum Thema:

    Erleben und Erlebnis bei Walter Johannes Sommer
    mit einem Exkurs nach Prinz zum Leipziger Institut und dem Nationalsozialismus

    Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Zur  Methode der Fundstellen-Textanalyse  * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis  * Zusammenfassung *

    Zusammenfassung-Sommer-1937: Zerfall optischer Gestalten: Erlebensformen und Strukturzusammenhänge
    Vorab: Sommer Dissertation liefert keinerlei Anhaltspunkte für eine Nähe zu den Nationalsozialisten. Die Prüf-Suchtexte "Volk", "Gemeinschaft" und "Führer" haben jeweils 0 Treffer.

    1. Diese brillante Arbeit hat es verdient, wieder ins Licht der Erlebens- und Erlebnisforschung gerückt zu werden. Sie zeigt, dass es auch im 3. Reich ausgezeichnete psychologische Forschung gab, sogar in Leipzig, wo die Ganzheitspsychologen Krueger und Sander mit den Nazis kungelten.

    2. Sommers Dissertation glänzt für unseren Zweck, nämlich den Gebrauch, Definition, Erklärung, Beschreibung von Erleben und Erlebnis zu erfassen: die Dissertation weist bislang die höchste Dichte von Erwähnungen "erleb" pro Seite auf, nämlich  5,1 Erwähnungen pro Seite mit sehr vielen Beispielen direkter Erlebensschilderungen der 18 in Selbstbeobachtung mehr oder minder geschulten Versuchspersonen (Psychologen, StudentInnen der Psychologie oder des Lehramts).

    3. Aber Erleben und Erlebnis werden nicht definiert, auch nicht näher erklärt und erläutert, auch nicht durch Querverweis, Anmerkung, Fußnote oder Literaturhinweis. Sommer ging offenbar davon aus, dass dieser Begriff bei seinen Versuchspersonen als verständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig vorausgesetzt werden kann.

    4. Zur Frage der Selbstbeobachtung: Alle VersuchsteilnehmerInnen waren in "Selbstbeobachtung" "mehr oder minder" geschulte PsychologInnen, Psychologie- oder LehramtsstudentInnen. Worin die Schulung dieser Selbstbeachtung bestand, teilt Sommer nicht mit. Fundstellen zur Selbstbeobachtung:

    • 8 Aus der Instruktion (>Lewin: Erziehung der Versuchsperson) zur Versuchsdurchführung: "Sehen Sie bitte zwanglos in die Mitte der Projektionsfläche und bemühen Sie sich, größere Blick- und Kopfbewegungen zu vermeiden. Nach jeder Darbietung schreiben Sie bitte Selbstbeobachtungen nieder, nötigenfalls geben Sie auch erläuternde Skizzen.

    •     Geben Sie an, ob und in welcher Weise Sie etwas Sinnvolles erfaßt haben, wobei auch auf unbestimmte Formen des Anmutens zu achten wäre. Ferner sollen Sie über die gefühlsmäßige Einstellung zum Dargebotenen Angaben machen. Berichten Sie über alle sich bemerkbar machenden Veränderungen des Aufgefaßten und Ihres Zumuteseins."
    • 8 Die Versuchspersonen: "Alle Vpn waren Mitglieder des Psychologischen Institutes der Universität Leipzig. Es wurden nur solche herangezogen, die schon längere Zeit psychologisch gearbeitet hatten und in der Selbstbeobachtung mehr oder minder geschult waren.
    • 8f: "Eine Aus-[9]länderin (Vp 7) schrieb ihre Selbstbeobachtungen in ihrer Muttersprache nieder und übertrug sie später ins Deutsche. Sprachliche Unklarheiten wurden vom V1 nach mündlicher Übereinkunft richtig gestellt
    • 11: "Wenn wir im folgenden die vorliegenden Selbstbeobachtungen nach den vier Bereichen ordnen und vergleichen, soll damit also nicht gesagt sein, daß die betreffenden Erlebensformen und Abläufe ausschließlich dem einen oder anderen Bereiche zugehören. Vielmehr bedeutet unsere Zuordnung nur, daß die Symptome des Zerfalles in dem betreffenden Bereiche — mehr oder minder überwiegend — auftreten, wobei auf die in anderen Bereichen vorkommenden Veränderungen oftmals hinzuweisen sein wird."


    5. Zu Sommers Zusammenfassung der Ergebnisse
    In der Zusammenfassung habe ich für mich einige einige  begriffliche  Unklarheiten gefunden. Begriffe definieren oder erklären gehört nicht zu den Stärken der GanzheitspsychologInnen. Ich werde dies bei der Vorstellung von Krueger und Sander am Begriff der Erlebnisganzheit ausführlicher behandeln. Ich habe eine Reihe von  Behauptungen  gefunden für die mir die Belege und Begründungen fehlen.

        Unklare Begriffe

    1. Dominanten 59
    2. Sinngehalt (entleerung) 59
    3. komplexen Anmutungsqualitäten 59
    4. Wesensqualitäten 59
    5. Wesenskern des erlebten Ganzen 59
    6. Tiefe des SZ59.e4Erlebens.
    7. strukturelle Gerichtetheiten 61
    8. strukturelle Grund, auf dem das SZ61.E4Erlebnis aufruht 61
    9. dispositionell-strukturellen Grunde der Person 62


        Nicht belegte und begründete Behauptungen:

    1. "4. Ausdrucks- und Wesenhaftigkeit setzt einen gewissen Grad von dinglich-sinnvoller Gestaltetheit voraus. ..." S. 59
    2. "6. Damit ist erwiesen, daß die SZ59.e2erlebten Bildgestalten der Vp als innere Wertgehalte nahestehen und Bedeutungsgewicht besitzen. ..." S. 59
    3. "1. Erlebnisse besitzen Einstellungscharakter "insofern, ..." S. 60
    4.     Das übergreifende seelische Prinzip der Erhaltung von Ganzheit ..." S. 60
    5. "... Normative Züge können nicht mehr allein aus dem vorgefundenen SZ60.E7Erlebnistatbestand erklärt werden, sondern sind nur aus überdauernden Gerichtetheiten der Seele zu verstehen." S. 60
    6. "... Im oben angeführten Satze wird das übergreifende seelische Prinzip der „Erhaltung von Ganzheit", von F. Krueger insonderheit für Strukturen aufgewiesen, in doppelter Weise zur Erklärungsgrundlage gemacht. ..." S. 62
    7. "... Und zwar in dem Sinne, daß sich im SZ62.E4Ausgangserlebnis, entsprechend den äußeren Reizbedingungen, auf dem dispositionell-strukturellen Grunde der Person eine spezifische strukturelle Konstellation ausbildet, die sich in ihrer Art zu erhalten trachtet. ..." S. 62
    8. "(SZ63.e4Erlebensmäßige Äußerungen sind Haltungsänderungen der Vp.)" S. 63

    9. Zerfall und Erhaltung von Ganzheit vollzieht sich als Zerfall und Erhaltung struktureller Bestände. [RS: könnte analytisch wahr/tautologisch sein]

     

    6. Zählung und Signierung der Fundstellen
    erleb 324; e := Erleben 153;  erlebt 74;  E:= Erlebnis 97
        Kürzel für die Arbeit SZ := Sommer 1937 Zerfall, T = Titel, IV := Inhaltsverzeichnis
    Lesebeispiel Signierung: SZ5.e2Erleben... :  SZ := Der Ausdruck wird von Sommer in seiner Dissertation über den Gestaltzerfall 1937 auf Seite 5 das 2. Mal gebraucht. Wird erleben oder Erlebnis von einer Versuchsperson gebraucht, wird dies durch einen Zusatz-Index "v" gekennzeichnet: "Das wurde aber fast nur als Hell-Dunkelgemisch SZ12.e1verlebt. " Es ist der erste Gebrauch von "erleb..." auf Seite 12 und "erleb..." wird von einer Versuchsperson gebraucht.

    Ende der RS-Zusammenfassung



    Beschreibung der Arbeit durch den Autor
         G e s p e r r t bei Sommer wird hier durch fett ersetzt.

    Titel:  Zerfall optischer Gestalten: SZT.e1Erlebensformen und Strukturzusammenhänge

    GLIEDERUNG

    Einleitung   5

    Erster Teil. Symptome und Bereiche des Zerfalles   10

      1. Bereich des Gestalthaft-Formalen   11
      2. Bereich des Sinnes und der Bedeutung   16
      3. Bereich ausdrucksvoller Dinglichkeit   21
      4. Bereich des Wesenhaften   27
      Überblick   30


    Zweiter Teil. Verlaufsformen des SZIV.E1Gestaltzerfallserlebnisses   32

      1. Der SZIV.e1Erlebensverlauf im Bereiche des Gestalthaft-Formalen   33
      2. Der SZIV.e2Erlebensverlauf im Sinnbereiche   42
      3. Der SZIV.e3Erlebensverlauf im Bereiche des Ausdruckes   49
      4. Der SZIV.e4Erlebensverlauf im Bereiche des Wesenhaften   55
      Zusammenfassung der Ergebnisse   58


    Dritter Teil. Zur Theorie des Gestaltzerfalles   61

    Literaturverzeichnis   64
    Tafel                nach 66"

    Ende Inhaltsverzeichnis Sommer

    "EINLEITUNG

    "1. Das Problem

        Die vorliegende Arbeit schließt sich einer Reihe von Veröffentlichungen des Forschungskreises des Leipziger Psychologischen Institutes an, die die Frage nach der Entstehung von Gestalten im „entwickelten Bewußtsein" (Sander) behandeln. Es sind dies die Arbeiten von Fr. Sander, E. Wohlfahrt und U. Mantell. Diese „Psychologie der Aktualgenese" (der Begriff ist von Sander geprägt worden) forderte gleichsam als ergänzendes Gegenstück Einsicht in den Vorgang des Vergehens und des Zerfalles der Gestalten.
        Zum ersten Male berichtet unseres Wissens Fr. Sander gemeinsam mit R. Jinuma im Jahre 1928 im Archiv für die ges. Psychologie Bd. 65 (25 S.191 ff.) [FN1] über Zerfallserscheinungen an optischen Gestalten. Diese Arbeit zur „Psychologie des stereoskopischen Sehens" geht nicht unmittelbar auf die Untersuchung des Gestaltzerfalles aus. Es wird jedoch die Zerstörungsgrenze der mehr oder minder sinnvollen Gestalten festgestellt. In jenem Bereiche, in dem die Vp Zerfall SZ5.e1erlebt, treten innere Spannungen und Bewegtheit des Bildes auf. Diesen steht der Drang nach Erhaltung des SZ5.e2Erlebensganzen entgegen. Sander erklärt diese SZ5.e3Erlebensweise als „Spannung zwischen den Forderungen der Reizkonstellation und den dispositionellen Gestaltungstendenzen". Dieser Gedanke ist später in größerem Rahmen in seinem Aufsatze „Funktionale Struktur, SZ5.E1Erlebnisganzheit und Gestalt" ausgeführt (23 S. 255 ff.). In derselben Richtung liegen auch die Ergebnisse der Versuche, die Sander auf dem 13. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Leipzig (1933) vortrug. Erscheinungen des Gestaltzerfalles wurden dort „auf dem Gebiete rhythmischer Gestaltbildungen demonstriert".
        Diese Fragerichtung wurde nun mit veränderten Methoden und an Hand reichhaltigerer Einzelergebnisse weiterverfolgt."

    [FN1] Die eingeklammerten Zahlen weisen auf das Literaturverzeichnis am Schlusse der Arbeit hin.

    "2. Die Methode
        Da es sich bei der Untersuchung des Gestaltzerfalles um ein relativ unbekanntes Teilgebiet der Auffassungspsychologie handelt, war es ratsam, die Experimente auf einem Sinnesgebiete anzusetzen, wo die Reiz-[>6]bedingungen gut überschaubar sind. Im Optischen scheint diese Forderung am weitestgehendsten erfüllt. Außerdem fällt es der Vp verhältnismäßig leicht, ihre SZ6.E1Erlebnisse auf diesem Gebiete sprachlich zu fassen.
        Damit der Gestaltzerfall der Beschreibung zugänglich wurde, mußte der Prozeß künstlich in die Länge gezogen werden. Wir bedienten uns einer Methode, die sich schon bei den Versuchen zur Aktualgenese im Prinzip fruchtbar erwiesen hatte (vgl. Wohlfahrt, Mantell). — Mit einem Projektionsapparat erzeugten wir zunächst ein Bild von normalem, gut übersehbaren Größenformat. Das SZ6.E2Gestaltzerfallserlebnis wurde nun dadurch hervorgerufen, daß dieses Bild in einer Reihe kurzzeitiger Darbietungen schrittweise vergrößert wurde, bis es schließlich von der Vp nicht mehr überschaut werden konnte und SZ6.e1erlebensmäßig Zerfall gegeben war.
        Die Bilder der Reihe A wurden bei der ersten Darbietung 1/2 Sekunde, bei den vier weiteren je 1/5 Sekunde dargeboten. In Reihe B wurde jedes Bild siebenmal exponiert, und zwar das erstemal 1 Sekunde lang, bei jeder weiteren Darbietung 1/2 Sekunde. Gleichzeitig wurde das Bild vergrößert. Seine Fläche nahm durch die Vergrößerung bei Reihe A im Verhältnis von 1:3,3:6,7:12,3:19,4 zu. Bei Reihe B im Verhältnis von 1:2,5:3,6:5,3:7,3:11,6:19,3 zu.
        Die Veränderung der Versuchsbedingungen in Bezug auf die Darbietungszeiten erschien erforderlich, um den Vpn in der ersten oder zumindest in den ersten Darbietungen ein einigermaßen abgerundetes SZ6.E3Bilderlebnis zu verschaffen. Es entspricht trotz der relativ langen Expositionszeit noch keineswegs dem einer Dauerdarbietung. Aber geraddiese „Lockerheit" des Gefügezusammenhanges war unserer Versuchsabsicht in besonderem Maße günstig."

    "3. Das Versuchsmaterial
    Als Versuchsmaterial dienten Diapositive nach Handzeichnungen mehr oder minder bekannter Künstler. Die Auswahl der Bilder erfolgte nach verschiedenen Gesichtspunkten. Es wurde Wert gelegt 1. auf Klarheit und Abgesetztheit der Striche gegeneinander, damit bei der Vergrößerung nicht durch Verwaschungen und Verschwommenheiten bildfremde Qualitäten auftreten konnten, 2. auf Unterschiede der Bilder im Grade der Gestaltetheit (vgl. Bild 3 und Bild 9), 3. auf den Wechsel des Bildmotives (a. Organisches: Menschen- und Tierdarstellungen, Porträts, [>7] 5, 1, 8, 7, 11, Situationen 3, 2, 12, 10, 16, b. Landschaftsmotive: 14, 9, 6, 15, c. Technisches: 13, 4).
        Folgende Blätter dienten als Vorlagen zur Herstellung der Lichtbilder:

      1. A. Menzel: Alarm.
      2. Rembrandt : Kampf zwischen Lapithen und Zentaur.
      3. A. Menzel: Pflügender Bauer.
      4. G. Kampmann: Abendzug.
      5. Murillo : Johannes der Täufer.
      6. D. Milde: Weiden am Bach.
      7. Fr. Lang: Hundekopf.
      8. G. v. Max: Mädchen mit der Seifenblase.
      9. Corot : Dom von Florenz.
      10. E. Pottner: Schwäne.
      11. J. Dietz : Hexe.


    Die Bilder 1-11 sind auf der Tafel am Schluß der Arbeit abgebildet [FN1]" [RS: hier vorgezogen]

    Tafel

     

    "Weiter wurden einige nicht wiedergegebene Bilder benutzt :
    12. Slevogt : Wilde Pferde. Handzeichnung. Mus. d. graph. Künste. Leipzig.
    13. R. Koch: Darstellung einer Maschine, in der Festschrift für Faber & Schleicher AG., Offenbach, S. 76.
    14. Orlik: Wüstenlandschaft. Druck. Mus. d. graph. Künste. Leipzig.
    15. H. Daur: Landschaft. Abgebildet in: Katalog des Künstlerbundes, Karlsruhe 1910.
    16. Altdorfer : Der heilige Christophorus, mit dem Kinde durch das Wasser watend.

    Der Versuchsreihe A gehörten die Bilder 5, 14, 3, 2, 9, 1, 12 an, der Reihe B 8, 7, 11, 6, 4, 13, 10, 15, 16. Bei den Zitaten der Rohprotokolle bezeichnet die erste arabische Zahl die Vp, die zweite das Bild und die nach unten herausgerückte Zahl die Nummer der Darbietung; ein z an dieser Stelle weist auf das zusammenfassende Schlußprotokoll hin.

    [FN1] Die Bilder: 6. D. Milde, Weiden am Bach; 10. E. Pottner, Schwäne und 11. J. Dietz, Hexe, stammen aus dem Kalender „Kunst und Leben" des Verlages Fritz Heyder, Berlin-Zehlendorf, der freundlicherweise die Genehmigung zum Abdruck erteilte. Auch für die sonstigen Genehmigungen zur Wiedergabe sind wir zu Dank verpflichtet."  [>8]

    "4. Die Versuchsanordnung
        Die Experimente wurden als Einzelversuche durchgeführt. Die Vp saß hinter einem durchscheinenden Projektionsschirm auf einem Stuhl mit Kopfhalter, der ein Ausweichen nach hinten verhinderte (Größe des Projektionsschirmes 1,90 X 2,90 m). Die Bilder erschienen jeweils in der Mitte des Schirmes in Augenhöhe der Vp. Der Abstand Auge — Bildfläche betrug etwa 55 cm. Rechts von der Vp stand ein Tisch mit einer elektrischen Lampe. Vor dem Schirme befand sich in 9,50 m Entfernung der Projektionsapparat. Der Versuchsraum wurde während der Versuche stark abgedunkelt.

    5. Die Versuchsdurchführung
        Vor Beginn der Versuche wurde der Vp folgende Instruktion vorgelesen:
        „Wir zeigen Ihnen in den Versuchen bildliche Darstellungen in Schwarz-Weiß-Technik. Jedes Bild wird Ihnen mehrmals nacheinander mit mittlerer Darbietungszeit gezeigt werden. Gehen wir zu einem neuen Objekt über, so kündigen wir das an (neue Reihe!). In der Aufeinanderfolge der Darbietungen werden die Bilder ständig vergrößert, so daß schließlich die gesamte Bildfläche eingenommen wird.
        Sehen Sie bitte zwanglos in die Mitte der Projektionsfläche und bemühen Sie sich, größere Blick- und Kopfbewegungen zu vermeiden. Nach jeder Darbietung schreiben Sie bitte Selbstbeobachtungen nieder, nötigenfalls geben Sie auch erläuternde Skizzen.
        Geben Sie an, ob und in welcher Weise Sie etwas Sinnvolles erfaßt haben, wobei auch auf unbestimmte Formen des Anmutens zu achten wäre. Ferner sollen Sie über die gefühlsmäßige Einstellung zum Dargebotenen Angaben machen. Berichten Sie über alle sich bemerkbar machenden Veränderungen des Aufgefaßten und Ihres Zumuteseins."
        Die Vp löschte danach die Tischlampe aus. Nach etwa zwei Minuten kündigte der Vl den Versuch in folgender Weise an: „Achtung - bitte - jetzt". Bei „jetzt" löste er den Kompurverschluß und auf dem Schirm erschien eine halbe bzw. in der Reihe B eine Sekunde lang das Bild. Durch einen Vorversuch wurde die Vp mit der Methode vertraut gemacht. - Nach der Darbietung zündete die Vp das Licht an und beschrieb in beliebig langer Zeit ihr SZ8.e1Erleben während des Versuches. Die 2.-5. bzw. 7. Darbietung wurde in derselben Weise vorbereitet. Die Expositionszeit betrug nun aber nur noch 1/5, bei Reihe B 1/2 Sekunde, was der Vp jeweils mitgeteilt wurde. Am Ende jeder Versuchsreihe wurde die Vp gebeten, einen „Gesamtüberblick" zu geben. Danach wurde ihr das Bild in Dauerdarbietung gezeigt.

    6. Die Versuchspersonen
    Alle Vpn waren Mitglieder des Psychologischen Institutes der Universität Leipzig. Es wurden nur solche herangezogen, die schon längere Zeit psychologisch gearbeitet hatten und in der Selbstbeobachtung mehr oder minder geschult waren. Unter ihnen
    befanden sich vier Fachpsychologen (Vp 1, Vp 6, Vp 12, Vp 14). Die übrigen der insgesamt 18 Vpn waren Studierende der Psychologie oder des Lehramtes. Eine Aus-[>9]länderin (Vp 7) schrieb ihre Selbstbeobachtungen in ihrer Muttersprache nieder und übertrug sie später ins Deutsche. Sprachliche Unklarheiten wurden vom Vl nach mündlicher Übereinkunft richtig gestellt.

    7. Die Methode der Auswertung und die Fragestellung
    Im ersten Teile der Arbeit kam es zunächst darauf an, klarzustellen, wie sich Gestaltzerfall äußert. Es wurde deshalb gefragt :
        1. Welche SZ9.e1Erlebensweisen sind für den Gestaltzerfall charakteristisch? Welche Zerfallssymptome sind im Verlaufe des SZ8.e2Erlebensprozesses nachzuweisen?
        Im zweiten Teile der Untersuchung wurden diese Einzelsymptome im Zusammenhange des SZ9.e3Erlebensprozesses gesehen. Während der Auswertung der Protokolle wurde ersichtlich, daß die Ergebnisse zu strukturpsychologischen Gedankengängen Anregung boten. Der zweite Teil ist deshalb in dieser Richtung angelegt. Die von F. Krueger ausgebildete Strukturtheorie scheint damit sachlich unterbaut werden zu können. — Die Vp ist an dem SZ9.e4Zerfallserleben als ganze Person beteiligt, d. h. mit der ihr eigenen Gesamtstruktur. In dem Augenblick, wo diese Ganzheit der Person angegriffen wird, zeigt sich in der Weise, wie sie sich damit abfindet, das wahre Wesen dieser lebendigen strukturellen Ordnung deutlicher als sonst. Gerade darum erscheint die Methode insonderheit fruchtbar für die Aufhellung struktureller Fragen.
        Die zweite Frage lautet deshalb:
        2. Welche endogenen, strukturellen Bedingungen liegen dem SZ9.E1Zerfallserlebnis zugrunde? Gibt es verschiedene, gegeneinander abzuhebende Weisen strukturmäßiger Äußerungen dem Zerfall gegenüber? [>10]

    I     SYMPTOME UND BEREICHE DES ZERFALLS

        Wenn wir den Zerfall optischer Gestalten als SZ10.e1Erlebenstatsache beschreiben wollen, so müssen wir zunächst die Züge und Seiten am Verlauf des SZ10.e2Gesamterlebens herausheben, durch die sich der Zerfall bekundet, d. h. die Symptomwert für den Zerfall haben.
        Symptomwert in dem genannten Sinne kommt allen in den Protokollen beschriebenen Tatsachen des SZ10.e3Erlebens zu, die im Hinblick auf das ursprünglich psychisch Erfahrene — wir bezeichnen es fortan mit SZ10.E1Ausgangserlebnis — eine Veränderung bedeuten und denen gleichzeitig ein Wechsel der Gefühlslage und Wertänderung eigen ist. Um Irrtümer von vornherein zu vermeiden, sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es in diesem ersten Teile ausschließlich um den Nachweis von Einzelsymptomen geht. Ihr Für- und Gegeneinander und ihre Stellung im ganzen SZ10.e4Erlebensverlauf wird vorläufig nicht beachtet.
        Bei der Bearbeitung der Protokolle in dieser Blickrichtung ergab sich, daß man die Einzelsymptome bestimmten Bereichen zuteilen kann.
    An solchen Bereichen hoben sich folgende heraus:
     

      1. ein Bereich des Gestalthaft-Formalen,
      2. ein Bereich des Sinnes und der Bedeutung,
      3. ein Bereich der ausdrucksvollen Dinglichkeit,
      4. ein Bereich des Wesenhaften.


    Diese vier Bereiche, die sich in unserem Material als bedeutungsvoll erwiesen, schließen einander nicht aus, sondern sind im Gegenteil in jedem SZ10.e5Bilderleben mitwirkend zu denken, wenn sich auch nicht in jedem Einzelfalle auf sie hinweisende Äußerungen der Vpn aufzeigen lassen. ..." [>11]

        "Unsere Aufgabe besteht nun darin, durch Beispiele aus dem Protokollmaterial den Symptomnachweis zu führen. Wir werden dabei die oben angegebene Reihenfolge beibehalten, weil wir glauben, daß dadurch das Eindringen in den Gestaltzerfallsprozeß erleichtert wird. Formale Veränderungen des Aufgefaßten können am ehesten als Zerfallserscheinungen erkannt werden, während wesenhafte Umprägungen des Ganzen schwerer aufzeigbar und verständlich sind.

    1. Der Bereich des Gestalthaft -Formalen
    Eines der häufigsten Symptome in diesem Bereiche ist die Ausgliederung dominanter Glieder aus dem Bildganzen. An einigen Beispielen soll zunächst gezeigt werden, wie sich die Vergrößerung des Bildes SZ11.e1erlebensmäßig auswirken kann.

        14,142: „Aus einer verschwommenen Umgebung hob sich für mich eine Palmengruppe heraus, die auch objektiv weiter im Vordergrunde zu liegen schien, diese Gruppe war bestimmt, dagegen war um sie auch noch etwas. Das wurde aber fast nur als Hell-Dunkelgemisch SZ11.e1verlebt." [>12]
        16, 32: „Das Sonnige von vorhin blieb. Doch was war das für ein Riese? Nichts als nur die riesigen Beine, die fast das ganze Bild (subjektive) ausfüllten."
        9, 82: „Ich habe die Vergrößerung deutlich SZ12.e2vbemerkt. Nur der Kopf hob sich noch heraus, das andere wurde mehr geahnt als gesehen. . . ."
        9, 102: „. . . Sehr klar ist mir nur der Hals und der Kopf des rechten Schwanes gegeben. Alles andere ist hintergrundartige Fleckigkeit von ziemlicher Ruhe (große Flächen). Um den zweiten Schwan und die Spiegelbilder weiß ich von der ersten Darbietung her."

        Bei diesen SZ12.e2Erlebensverläufen und einer Reihe anderer vermag die Vp das Gestaltganze nicht mehr auffassungsmäßig zu umspannen. Einzelmomente werden deshalb gewichtig und geben von sich aus dem SZ12.e3Gesamterlebensinhalt ein spezifisches Gepräge. Sie heben sich von einem diffusen Hintergrunde ab, der nur noch im Wissen um ein Bildganzes zur Gesamtgestalt gehört.
    Diese Gestaltdominanten geben dem SZ12.e3Erlebensganzen den sinnhaften Halt. Sie sind gleichsam Rückgrat des SZ12.e4Erlebten, während alles andere zur blassen Nebensächlichkeit absinkt. Infolge dieser Verlagerung werden die im Bildganzen bereits angelegten Gegensätzlichkeiten zu klarer Kontrastwirkung gesteigert.
    10, 44: „Die mittlere Schiene drängt sich auf. . . . Alles andere verschwimmt und macht den Eindruck des Nebensächlichen, sozusagen unwichtigen Anhängsels. . . ."
        Bei unseren Beispielen betrifft diese Ausgliederung in den meisten Fällen die sinnträchtigsten. Glieder des SZ12.e5erlebten Bildganzen : die Palmengruppe als Charakteristikum der Wüstenlandschaft, den Bauern, ohne Zweifel die Hauptperson des Bildes dem Sinne und auch der Gestaltgröße nach. Auch an anderen SZ12.e6Erlebensbeschreibungen kann die Ausgliederung der dem Sinne nach „tragenden" Gliedstücke nachgewiesen werden.
        Man könnte diese Tatsache aus dem verwendeten Material und der Methode der Darbietung zu verstehen versuchen. Bei der Bildreihe A ist das Sinngewichtige des Bildes fast immer in die Mitte der Bildfläche gerückt. Die Mitte muß nun aber notwendig auf Grund der Versuchsanordnung im Blickpunkt der Auffassung stehen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Teile, die dort liegen, sich leicht aus dem Bildganzen herausheben, sobald dieses vergrößert wird.
        Mit anderem Bildmaterial mußte deshalb entschieden werden, ob das Dominantwerden sinnträchtiger Teile material- und methodenbedingt ist. In der Bildreihe B wurde die Sinnakzentuierung auf die Gestalt-[>13]glieder der Bildmitte bei den Bildern „Abendzug" (4) und „Weiden am Bach" (6) vermieden. Bis zu einem gewissen Grade gelang das auch bei dem Bilde „Hexe", weil dort das Gesicht durch seine Ausdruckshaftigkeit besonders anziehend wirkt. Es zeigt sich nun, daß sinnträchtige Glieder auch dann, wenn sie nicht in der Mitte des Bildes liegen, SZ13.e1erlebensmäßig dominant werden können. Als Sinnzentren üben sie anziehende Wirkung aus, obwohl ihre Lage auf der Darbietungsfläche ungünstig geworden ist.

        4, 112: „Alles war ein großes Durcheinander. . . . Ich mußte aber zu dem Gesicht sehen. Es hatte etwas Anziehendes an sich."
        10, 44: „Die mittlere Schiene drängt sich auf und führt unwillkürlich sofort zur Lokomotive hin. . ."

        Sofern es der Vp nun nicht gelingt, diesen anziehenden Sinnkomplex auch gestalthaft sinnvoll aufzufassen, drängt sie doch unablässig danach. Dieses Drängen verliert sich erst dann, wenn andere Gestaltteile, die für die Auffassung günstig gelegen sind, dominant werden und in sinnvolle Bezüge gebracht werden können. Aber immer tragen diese dann irgendwie den Charakter eines aufgedrängten Ersatzes für das, was die Vp eigentlich zu haben wünscht.

        8, 43: „Die Lokomotive rückt nach oben. Dafür habe ich Weichen und helle Flecke gesehen. . . ." 44: „Eine Schienenkreuzung liegt im Mittelpunkt. Das sieht man gerade so schön mit einem Blick, das ist so etwas Bedeutsames. Der Sachverhalt Weiche wird
    gewichtig, geradezu gefühlsgeladen. Kindheitserinnerungen tauchen auf. . . . Da kann die Maschine da oben unklar bleiben. Ich habe ja hier etwas, da kann ich das andere gern vergessen."

    Das Gestaltganze „Bild" stellt demnach nicht ein homogenes Sinnfeld dar, sondern die SZ13.e2erlebensmäßig aufzeigbaren Gestaltdominanten erweisen sich als Sinnzentren von eigentümlich bestimmender Macht. Von hier aus werden auch Spannungen verständlich, die sich aus den sich behauptenden Sinndominanten und den objektiv im Mittelpunkt stehenden Gestaltdominanten ergeben. Daraus entwickeln sich bestimmte Aktions- und Reaktionsformen der Seele. Wir werden später darauf zurückkommen.
        Im Gegensatz zu dem Dominantwerden von Gestaltteilen wird für manche Vpn das Fehlen von Gliedstücken SZ13.e3erlebensmäßig bedeutsam. Die Ungunst der Auffassungsbedingungen verhindert ihr Erscheinen. Sie liegen gleichsam hinter einem Vorhang verborgen. Im Rahmen des gefühlsmäßig vorschwebenden Sinn- und Gestaltganzen sind sie aber [>14] noch unberührt von jedem zerstörenden Einfusse mitgegeben. „SZ14.E1Lücke-Erlebnis", nicht eigentlich Zerfall, sondern Fehlen. Es müßte überblickt werden können, dieses Gefühl dauert an",  (6, 62). „Beobachtungslücken", (5, 32) werden festgestellt. Die Vp vermag nur ein Bruchstück des „mitgewußten" Sinn- und Gestaltganzen aufzufassen.

        6, 93: „Daß die Gestalt zerfallen wäre, könnte ich nicht eigentlich sagen. Mir ist mehr so, als ob man bis auf ein kleines Stück abgedeckt hätte. Ich muß immer wieder daran denken, das ist so, als wenn man von einem zu großen Objekt Teile durch das
    Gesichtsfeld des Mikroskopes führt."
        11, 94: „Jetzt hatte ich das Gefühl, als ob nur ein Bruchstück dargestellt sei. ..."

    Bedeutend ganzheitlicher wird das proportionale Unstimmigwerden des Bildes SZ14.e1erlebt. Auch hierbei hat die Vp das Bild als Gliedergefüge. Zerfall äußert sich nun aber nicht von vornherein als Dominantwerden von Gliedstücken. Innerhalb des Gestaltganzen treten vielmehr räumlich-figurale Verschiebungen und Verzerrungen der Verhältnisse aller Gestaltglieder auf. (Objektiv ändert sich an den Verhältnissen nichts. Siehe Beschreibung der Versuchsanordnung.)

        7, 33: „In dem ganzen Bilde herrschte Unproportioniertheit. Es ist sehr unangenehm."
        8, 114: „Hier verliere ich die Maßverhältnisse. Es wird schnell zu groß. . ."
        1, 82: „. . . das Bild erschien in anderen Proportionen."

    Bei den letzten Darbietungen geht das SZ14.e2Erleben bisweilen auf Frühformen der Gliederung zurück. Diese primitiven Gliederungsformen liegen in vielen Fällen ganz außerhalb des Zuges des ursprünglichen Sinnganzen. Symmetrieeindrücke, Hell-Dunkelgegensätze, mitunter auch Gewichtsverteilungen machen das SZ14.E2Erlebnistotal aus. SZ14.E3Erlebnisse dieser Art werden von Gefühlen des Gegensatzes getragen.

        11, 12: „Während bei der ersten Darbietung alles Sinnvolle im Gegenständlichen lag, so ist es hier im Helldunkel."
        2, 14: „Nur das Schwarz-Weiße, die kräftige Gegenübersetzung von Schwarz-Weiß bleibt sympathisch."

    Das SZ14.e3Erlebte wird nicht mehr als Bild behandelt, sondern ist Sachverhalt geworden, der geometrische Eigenschaften aufweist. Sinnvoll ist das Dargebotene nur noch in Bezug auf seine Geformtheit.

        10, 104: „Jetzt zerfällt das Bild in zwei Teile, indem nämlich aus der unteren Wellenlinie zwei werden. Symmetrischer Eindruck." [>15]
        10, 86: „Jetzt machen sich die Stücke selbständig. Ich hatte den Eindruck verhältnismäßig wenig verbundener Komplexe, die gleichsam gegeneinander gesetzt sind und nur noch dem Gewicht nach aufeinander bezogen sind. . . ."

    Damit hängt zusammen, daß bei fortschreitender Vergrößerung das SZ15.e1Gestalterleben mehr und mehr zurücktritt und die Zeichentechnik sich aufdrängt.

        8, 46: „Das Zwischen-den-Schienen ist ein bißchen löcherig geworden. Die Technik kommt etwas durch."
        10, 75: „Das Schwarz-Weiße der Zeichnung trat hervor."

    Dieser Übergang vom Gestalthaften zum Strichhaften geht nicht in einem Schritt vor sich. Oftmals ist deutlich eine Zwischenstufe
    gegeben. Das SZ15.e2Erleben spannt sich dann zwischen zwei Pole. Einerseits ist das Bildganze noch lebendig und will sich als solches erhalten, anderseits drängen aber auch die Striche unruhig nach Selbständigkeit. Der Kontur löst sich auf und wirkt nur noch als nichtssagende Linie. Der SZ15.e3erlebte Raum wird zur Fläche, die mit sinnlosen Strichen gefüllt ist. Dieses spannungsreiche Oszillieren „zwischen den beiden Bedeutungsintentionen" (Ganzes —  Strich) (6, 24) wird von Gefühlen der Unsicherheit, der Unruhe, des Schwankens u. ä. untermalt.

        6, 24: „Einerseits drängten noch die mehr geahnten Konturen zum Haben der Gesamtqualität, anderseits schien darin schon etwas Gewaltsames zu liegen, und es klang das SZ15.e4vErleben an: Das sind doch eigentlich nur noch Striche ohne Zusammenhang. — Gefühlsmäßiges Schwanken!"
        3, 13: „Hier SZ15.e5verlebte ich zweierlei: Einmal glaubte ich hindurchsehen zu können durch das Gerippe, sah also Tiefe. Und dann begannen hier schon die einzelnen Linien und Flächen sich zusammenzuordnen. . . ."
        3, 33: „Wiederum aber steht das Bild irgendwie an einer Schwelle, wo es schon seine Körperhaftigkeit zu verlieren droht und flächenhaft wirkt."
        11, 144: „. . . sogleich sehe ich auffällige schwarze Striche, bei denen ich das unangenehme Gefühl nicht unterdrücken kann, daß sie etwas darstellen sollen, für sich genommen aber nur Striche sind."

    Bisweilen kommt dieser Übergang vom Gestalthaften zum Linienhaften der Vp nicht deutlich zum Bewußtsein. Ganz beiläufig wird innerhalb der SZ15.E1Erlebnisbeschreibung von Linien gesprochen, deren bisherige Funktion verändert ist.

        10, 87: „. . Die anderen Linien verlieren an Gewicht, obwohl sie im engeren Gesichtsfelde sind." [>16]


    Sommers "Zusammenfassung der Ergebnisse

        Im folgenden soll in knapper Form der psychologische Ertrag der Arbeit herausgestellt werden. Die von F. Krueger durchgebildete Ganzheits- und Strukturlehre gibt dafür die Grundlage ab. Von hier aus werden die Zerfallserscheinungen und die ihnen entgegenwirkenden Tendenzen verständlich.

        1. Im Zerfallsprozeß erweisen sich bildliche Darstellungen als Gliedergefüge, die dinglichen Sinn verkörpern. Das ausgewogene sinnvolle Zueinander der Einzelglieder, von denen jedes seinen bestimmten Sinnwert im Ganzen hat, wird zugunsten bereits vorhandener, aber bisher orga-[>59]nisch eingebetteter Dominanten einseitig verlagert und damit das ursprüngliche Ganze zerbrochen.

        2. Auf höheren Stufen des Zerfalles werden auch diese Dominanten ihres Sinngehaltes entleert. Es kommt zu Nebenordnungen und Angleichung aller Glieder. Aus einem Sinngefüge wird eine Ansammlung von Einzeltatsachen.

        3. Am frühesten wird Zerfall in komplexen Anmutungsqualitäten erfahren. Diese können als Ausdrucks- oder auch als Wesensqualitäten, die in der Hauptsache gefühlsartiger Natur sind, SZ59.e1erlebt werden (funktionaler Primat des Gefühls).

        4. Ausdrucks- und Wesenhaftigkeit setzt einen gewissen Grad von dinglich-sinnvoller Gestaltetheit voraus. Zerfall bedeutet Trennung zwischen Ausdruck und Gestalthaftigkeit insofern, als jener zu bloßer qualitativer Gesamtfärbung einer relativ sinnlosen Gegebenheit herabsinkt.

        5. Ausdruckswechsel und -verlust sind verbunden mit gefühlsmäßigen Wertungen. Zerfall wird in dieser Hinsicht als ein Abfallen vom Wohlgefällig-Stimmigen zum Minderwertig-Häßlichen erfahren.

        6. Damit ist erwiesen, daß die SZ59.e2erlebten Bildgestalten der Vp als innere Wertgehalte nahestehen und Bedeutungsgewicht besitzen. Zerfall bekundet sich deshalb im Gleichgültigwerden der Vp gegenüber dem Dargebotenen. Der Wesenskern des SZ59.e3erlebten Ganzen wird getroffen, es geht um die Zerstörung eines Wertgehaltenen.

    7. Der Grad an Widerstandsfähigkeit einer Bildgestalt dem Zerfallsprozeß gegenüber ist vom Darstellungssinne mit abhängig und im Zusammenhang damit von der Tiefe [FN1] des SZ59.e4Erlebens. Das „Lebendige", insonderheit die Qualität des „Menschlichen", ist zwar am empfindlichsten gegen Angriffe auf seine Existenz, setzt sich aber auch am nachhaltigsten durch.

    8. Ein bezeichnendes Symptom für den Zerfall optischer Gestalten ist das Auftreten dynamischer Erscheinungen „in dem Moment, wo ein einheitliches und sinnvolles Ganze an der Grenze seiner Selbsterhaltungsfähigkeit anlangt" (Sander). Sie können in Sinnzusammenhänge eingebunden sein (bewegtes Wasser u. ä.) oder auf höheren Stufen des Zerfalles als freie Dynamik in Erscheinung treten.
     

      [FN1S.59] „Tiefe" im Sinne F. Kruegers gebraucht. Vgl. „Die Tiefendimension und die Gegensätzlichkeit des Gefühlslebens" (15).
    [>60]

        Der Zerstörungstendenz, die in der fortschreitenden Vergrößerung des Bildes begründet liegt, wirkt der Drang nach Erhaltung von Ganzheit entgegen. Er kann sich in verschiedener Art und Weise äußern.
        1. Erlebnisse besitzen Einstellungscharakter „insofern, als sie nicht mit dem sachlichen Vollzug der ihnen zugrunde liegenden Motive abgeschlossen sind, sondern weiter gehen und sich hemmend oder fördernd auf die Realisierung neuer SZ60.E1Erlebnismotive auswirken" (Schadeberg 27 S. 6). Der SZ60.e1Erlebende kommt mit dem SZ60.E2Erlebnis in eine spezifische Ausrichtung, die sich beizubehalten trachtet. Im Zerfallsprozeß bestimmt sie sich inhaltlich in verschiedener Art und Weise, d. h. als Streben nach spezifischen Sachgehalten.
        Sie kann als Tendenz nach Gestaltetheit, nach begrifflicher Erfassung, nach dinglich-sinnvoller Ausdeutung, nach Ausdruckshaftigkeit oder Wesenhaftigkeit erscheinen. Diese Tendenzen sind nicht isoliert, auf die einzelnen SZ60.E3Erlebnisverläufe verteilt, zu denken. Es bestehen vielmehr mannigfache Beziehungen untereinander. Gestaltetheit und Ausdruckshaftigkeit bedingen sich bis zu gewissem Grade wechselseitig, ebenso dingnahes Erfassen und gestalthafte Prägung, Wesenhaftigkeit — Sinn — Ausdruck.
        Das übergreifende seelische Prinzip der Erhaltung von Ganzheit nimmt im Eingestelltsein der Vp feste Form an. Am einsichtigsten ist das beim begrifflichen Erkennen. Dort ist durch die Verbegrifflichung des Dargebotenen das im SZ60.E4Ausgangserlebnis erfahrene Sinnganze den Zerstörungseinflüssen entzogen. Damit ist Ganzerhaltung weitgehend gewährleistet.
        2. Daß es beim Gestaltzerfall nicht nur um die Zerstörung einer momentanen SZ60.E6Erlebniskonstellation geht, beweisen die Ausrichtungen auf spezifische Sachgehalte. Das Gegebene ist in besonderer Weise „wertvoll". Normative Züge können nicht mehr allein aus dem vorgefundenen SZ60.E7Erlebnistatbestand erklärt werden, sondern sind nur aus überdauernden Gerichtetheiten der Seele zu verstehen.
        Diese Erkenntnis rechtfertigt theoretische Folgerungen. [>61]

    III     ZUR THEORIE DES GESTALTZERFALLES

    1. Sowohl aus dem Symptomnachweis als auch aus der Darstellung der Verlaufsformen der SZ61.E1Erlebnisse dürfte deutlich geworden sein, daß Gestaltzerfall kein bloßes Zerbrechen einer optischen Reizkonstellation ist.
        Der Gestaltzerfallsprozeß zeigt ein doppeltes Gesicht : Einmal SZ61.e1erlebt die Vp in der Aufeinanderfolge der Darbietungen, wie das Bild, methodenbedingt und gewollt, immer unüberschaubarer wird und dadurch als Gestalt-, Sinn-, Ausdrucks- und Wesensganzheit zerfällt. Gleichzeitig werden Wünsche, Hoffnungen und Forderungen wach, die auf Erhaltung des SZ61.e2Erlebten und auf Verwirklichung eines Sein-Sollenden, einer Idee, hindrängen. Inhaltlich wurden diese Ideen im SZ61.e3Erleben als Tendenzen nach „Gestaltetsein", nach „Sinn- und Bedeutunghaben", nach „ausdrucksvoller Dinglichkeit" und nach „Wesenhaftigkeit" vorgefunden. — Damit wird auf Vollständigkeit kein Anspruch erhoben, sondern es ist lediglich aufgezeigt, was die Methode geleistet hat. — Mit diesen Tendenzen sind überdauernde Strukturgerichtetheiten getroffen, die sich hier auf dem Gebiete optischer Wahrnehmung gegenüber den Zerfallserscheinungen bewähren. Es darf aber nicht so verstanden werden, als sei jeder Mensch nur zu einer dieser Ausrichtungen fähig. Die Tendenzen wollen nur als Neigungen zu einer spezifischen SZ61.e4Erlebensweise aufgefaßt sein, ohne dadurch andere auszuschließen. In der SZ61.E2Erlebniswirklichkeit differenziert sich das Problem noch dadurch, daß auch die jeweils vorliegende optische Reizkonstellation als Bedingungskomplex für die „Strukturauslösung", d. i. die Art der wirkenden Tendenz, mitbeachtet werden muß. Beim SZ61.e5Erlebensverlauf im Bereich des Wesenhaften konnte das an einigen Bildern deutlicher als anderswo gezeigt werden. — Es handelt sich dabei nur um eine Auslösung struktureller Gerichtetheiten, nicht um die Prägung des Prozesses durch die Artung des Bildes. Wesentlich für die SZ61.E3Erlebnisgestaltung ist der strukturelle Grund, auf dem das SZ61.E4Erlebnis aufruht.
        2. „SZ61.E5Erlebnisganzheit will sich wie jede strukturelle Ganzheit erhalten und bewahren", so formuliert W. Schadeberg (27 S. 62). Der Einstellungscharakter des ersten SZ61.E6Bilderlebnisses (SZ61.E7Ausgangserlebnis) erweist sich auch im Zerfallsprozeß. Jedoch nicht so, daß sich dasSZ61.E7Erlebnis [>62] in seiner Eigenart als Ganzheit erhalten will, sondern darin, daß die Vp das SZ62.E1Erlebnisgesamt zu bewahren versucht. Im oben angeführten Satze wird das übergreifende seelische Prinzip der „Erhaltung von Ganzheit", von F. Krueger insonderheit für Strukturen aufgewiesen, in doppelter Weise zur Erklärungsgrundlage gemacht. Einmal wird den gehabten SZ62.e1Erlebensbeständen der Drang nach Ganzerhaltung zugesprochen, anderseits aber auch den Strukturen. Man könnte meinen, daß beides grundverschiedene Tatbestände seien und wenig oder nichts miteinander zu tun hätten. — Durch unsere Versuchsergebnisse wurde jedoch deutlich gemacht, daß das SZ62.Ee2Erleben wesentlich vom strukturellen Grunde her bestimmt ist. Es muß deshalb möglich sein, den Zerfallsprozeß auch theoretisch einheitlich zu fassen.
        Inneres „Gespannt"- und Eingestelltsein der Vp auf ein „adäquates SZ62.E2Erlebnis" und darüber hinaus die Tendenz nach Vollendung eines nur angerührten SZ62.E3Erlebnismotives als Ideeverwirklichung, wie es des öfteren in den SZ62.e3Erlebensverläufen, besonders in den Haltungen der Vpn zum Dargebotenen aufgezeigt wurde, ist symptomatisch für strukturelles Ausgerichtetsein der Vpn. Und zwar in dem Sinne, daß sich im SZ62.E4Ausgangserlebnis, entsprechend den äußeren Reizbedingungen, auf dem dispositionell-strukturellen Grunde der Person eine spezifische strukturelle Konstellation ausbildet, die sich in ihrer Art zu erhalten trachtet. Sie ist mitbestimmt zu denken von der Gesamtstruktur der Persönlichkeit, von überdauernden Gerichtetheiten, als aktuelle Konstellation erhält sie aber ihr Gepräge vom Dargebotenen (vgl. oben u. 1: Struktur und Strukturauslösung), nämlich insofern als die objektiven Bedingungen die inneren Kräfte in eine bestimmte Ausrichtung bringen können.
        Zwar scheint diese strukturelle Konstellation in gewissem Grade plastisch, widerstandsfähig und unverletzlich (z. B. kann der Ausdruck innerhalb einer gewissen Spannweite wechseln).
        Zu ihrer Erhaltung bedarf sie aber „adäquater" Reizkonstellationen. Wir müssen notwendig annehmen, daß sich bei jeder Exposition eine den jeweiligen Reizbedingungen entsprechende strukturelle Konstellation auszubilden sucht. Ihrer Ausformung wirkt aber jeweils das Ganze der ursprünglichen Strukturkonstellation (SZ62.E4Ausgangserlebnis) entgegen (z. B. als wirkungsmächtiger Einstellungscharakter erfahren). Infolge ihrer Wertbetontheit ist diese ursprüngliche Konstellation besonders tief und fest verankert und kann sich so den späteren gegenüber, [>63] die relativ lockere und zerbrechliche Gefüge sind, behaupten. Mit zunehmender Vergrößerung des Bildes läßt aber die Straffung der ursprünglichen Ausrichtung nach (Gedächtnisbestände verblassen; Gesetze des Vergessens!), die sich neu bildenden strukturellen Gerichtetheiten nehmen überhand. Spannungen müssen notwendig aus den Gegensätzen der verschieden geprägten strukturellen Ausgerichtetheiten entstehen, eben deshalb, weil sie sich alle erhalten wollen, es aber je nach dem Grade ihrer Verwurzeltheit im überdauernd strukturellen Sein der Persönlichkeit nur in bestimmtem Maße vermögen. (SZ62.e4Erlebensmäßige Äußerungen sind Haltungsänderungen der Vp.)
        F. Sander erklärt die Zerfallserscheinungen folgendermaßen: „Die auf Ganzheitlichkeit und optimale Geformtheit und deren Erhaltung gerichteten immanenten Kräfte des psychophysischen Ganzen werden durch Veränderung der äußeren Bedingungen überwältigt !" (23, 256 ff.). Man müßte danach annehmen, daß seelische Kräfte unmittelbar auf die äußeren Bedingungen einzuwirken vermöchten und umgekehrt. Wir können nach dem Vorausgegangenen in folgender Weise formulieren: Spannungen bestehen nicht zwischen Reizbedingungen und Struktur, sondern innerhalb der Struktur selbst.
        Nicht alle SZ62.E5Spannungserlebnisse lassen sich als Strukturspannungen verstehen oder müßten als solche verstanden werden. Man kann wohl sagen, daß Spannungen mehr oder minder aktuell sind, wenn es sich nur um wenig belangvolle Tatbestände handelt. Je stärker Werthaftes einbezogen ist, wie in unseren Versuchen, um so mehr ist die Struktur beteiligt.
        Mit diesen theoretischen Erörterungen haben wir die Doppelheit der Erklärungsprinzipien auf eine Grundlage zurückgeführt, nämlich auf die strukturelle. Die „Objektivierung der Ergebnisse", d. h. die Verlegung seelischer Prinzipien in die „Gegenstände" des SZ62.e5Erlebens (vgl. Gestaltgesetze), ist damit vermieden. Das Erscheinungsmäßige wird von innen her geformt und ist nur von dort aus zu verstehen. Zerfall und Erhaltung von Ganzheit vollzieht sich als Zerfall und Erhaltung struktureller Bestände."

    Ende der Sommer Zusammenfassung und des Buches (es folgen Lit-Verz-Tafel und Lebenslauf)
     



    Fundstellenkürzel zum Erleben des Gestaltzerfalls
     





    Literatur (Auswahl)
    Sommer, Walter Johannes (1937) Zerfall optischer Gestalten: Erlebensformen und Strukturzusammenhänge. Dissertation Leipzig. München: C.H. Beck..



    Links (Auswahl: beachte)
    Wittmann, Simone  (2022)  Zur „paradoxen Doppelnatur des Intellektuellen" Der Fall Friedrich Sander [Online]
    https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwj3soHh_L38AhVMPuwKHRKKC-kQFnoECAkQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.psycharchives.org%2Fbitstream%2F20.500.12034%2F41%2F1%2F315-1273-1-PB.pdf&usg=AOvVaw2n88-DmE8s3UR4X_iV8fvE
     



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    __
    Nazis: Psychologie im 3. Reich
        Prinz (1985) kritisch-differenziert über Krueger, S. 67f : "Aus einigen der zuvor zitierten Äußerungen Kruegers mag schon deutlich geworden sein, daß eine zumindest latente Affinität zwischen seiner im strengsten Sinne des Wortes konservativen Weltsicht und gewissen Prinzipien der nationalsozialistischen Ideologie zu bestehen scheint. Wie sind diese und ähnliche Äußerungen zu verstehen? Als politische Äußerungen eines Privatmannes, der zufällig von Beruf Psychologe ist, oder als wissenschaftliche Aussagen eines Psychologen, für die er die Autorität dieser Wissenschaft in Anspruch nimmt? Ohne Zweifel ist letzteres der Fall. Denn wenn Krueger oder andere Vertreter der Ganzheits- und Gestaltpsychologie sich zu Fragen von Gemeinschaft, Volk und Staat äußern, begeben sie sich nach ihrem eigenen wissenschaftlichen Selbstverständnis keineswegs dilettierend auf ein Gebiet, für das sie als Psychologen nicht zuständig sind, sondern sie befinden sich auf ureigenstem Terrain. Die Legitimationsgrundlage für die Zuständigkeit der Psychologie liefert das Prinzip der Universalität der Ganzheit in Verbindung mit dem Prinzip vom Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen. Beide Prinzipien sind - mit einigen Unterschieden, die wir hier wieder außer Betracht lassen - in beiden Schulen gleichermaßen ausgebildet.
        Das Universalitätsprinzip besagt, daß ganzheitlicher bzw. gestalthafter Charakter nicht nur die Erscheinungen des individuellen Seelenlebens auszeichnet (Wahrnehmungsinhalte, Gedanken, Gefühle etc.), sondern ebenso alle Erscheinungen des Überpersön-[>68]lich-Seelischen, d. h. des sozialen Lebens. Auch soziale Gebilde, sind stets Ganze, d.h. sie sind als eine bloße Summe von Individuen nur unzulänglich beschrieben. So heißt es etwa bei Wertheimer:

    »Wenn Menschen zusammen sind, etwa in einer bestimmten Arbeit zusammen, dann ist das unnatürlichste Verhalten, das erst in späten Fällen oder in krankhaften Fällen vorhandene Verhalten, daß da mehrere Ich zusammen da sind, sondern die Verschiedenen arbeiten gemeinsam zusammen, jeder als sinnvoll funktionierender Teil des Ganzen, unter normalen Umständen.« [FN18] ''

        Krüger unterscheidet zwischen echten Gemeinschaften und zweckhaften Organisationen und erkennt den Status der sinnerfüllten Ganzheit nur den echten Gemeinschaften zu:

    »Je mehr eine Sozialform echte Gemeinschaft ist, je nachhaltiger sie ihre Glieder bindet, je tiefer überhaupt sie in deren Tun und Lassen eingreift - ... im Gegensatz zu der Starrheit des bloß Herkömmlichen und zu den zweckhaften Organisationen - umso mehr ist eine solche Form durchwirkt von organisch erwachsenem und wieder Ganzheit zeugendem Leben. Daher ist sie umso voller durchblutet von Seelentum. Das bedeutet erscheinungsmäßig, sie ist von Erlebnissen gesättigt, ist reich und ergiebig, zuma1 an innigen Gefühlen.« [FN19]

    Wie die Ideengeschichte des Ganzheitsdenkens zeigt, ist ein derart universell interpretiertes Ganzheitsprinzip keineswegs auf eine besondere theoretische Entwicklung innerhalb der Psychologie zurückzuführen, sondern vielmehr als der in der Psychologie sichtbare Widerschein einer sehr viel umfassenderen organisch-ganzheitlichen Ideentradition zu verstehen, die im ersten Drittel de 20. Jahrhunderts auf den verschiedensten Wissenschaftsgebiete Fuß gefaßt hatte.[FN20] Die Psychologie ist nur eine der Disziplinen die von dieser Grundwelle universalistisch-ganzheitlichen Denkens erfaßt wurden.
        Ähnliches gilt auch für das von beiden Schulen gelehrte Prinzip vom Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen. Der Vorrang, der dem Ganzen gegenüber den Teilen zukommt, ist ein Vorrang der Entstehung nach, der Anschauung nach, der Wirkung nach und schließlich - mehr implizit - dem Wert nach. Der genetische Vorrang kommt in der Lehre zum Ausdruck, daß das soziale Wir früher ist als das individuierte Ich. Der anschauliche Vorrang des sozialen Ganzen wird darin sichtbar, daß das Ich sich in einer echten sozialen Ganzheit kaum noch als getrennten, ausgesonderten Be-[>69]standteil erlebt, der sich anderen Individuen gegenübersieht. Das Ich wird vielmehr von der Gemeinschaft getragen, geht im gemeinschaftlichen Wir mehr oder weniger vollständig auf. Der funktionale Vorrang besteht darin, daß die Individuen sich die Belange des jeweiligen sozialen Ganzen selbst zu eigen machen. Der Schritt aus der Welt der Tatsachen in die Welt der Werte ist von dort nicht mehr weit: Faßt man den funktionalen Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen nicht nur deskriptiv - als Tatsache, die gegeben ist-, sondern auch präskriptiv - als Zustand, der anzustreben ist —, so hat man, ohne es gewahr zu werden, die Grenze zwischen Wissenschaft und Weltanschauung überschritten.
        Aufgrund dieser Prinzipien ist klar, daß alle Formen der Gesellschaft oder sozialen Verbindung, in denen sich das Ich gegenüber dem gemeinschaftlichen Wir vereinzelt, als Fehlformen sozialen Lebens betrachtet werden müssen. Überall, wo organisierte Zweckverbände an die Stelle blutvoller Gemeinschaften treten, sind die im Überpersönlich-Seelischen waltenden Prinzipien natürlicher Ganzheit verletzt. Idealformen des sozialen Lebens sind demgegenüber solche Gebilde, die auf Blutsverwandtschaft beruhen: Einheit von Mutter und Kind, Familie, Großfamilie, Sippe, Stamm und Volk. Das Volk als das größte natürliche Ganze, das durch Blutsbande zusammengehalten wird, bedarf dann allerdings des Panzers der staatlichen Macht (der allerdings nur dann legitim und wirksam ist, wenn Staat und Volk einander korrespondieren: Staaten, in denen viele Völker zusammenleben, können auf Dauer keinen Bestand haben). [FN21]
        Ist nun für Krueger der nationalsozialistische Staat eine Verkörperung dieses Ideals? Als er im Oktober 1933 den 13. Kongreß für Psychologie eröffnet, scheint er dies noch zu hoffen. Seinen Eröffnungsvortrag über Die Lage der Seelenwissenschaft in der deutschen Gegenwart beendet er mit einer Reverenz an »Adolf Hitler, den weitschauenden, kühnen und gemütstiefen Kanzler«, dem es zu verdanken ist, daß dem bisherigen Verfall Einhalt geboten und daß nunmehr Neuland in Sicht ist. [FN22] Aber nur wenige Monate später, beim 14. Kongreß, der bereits im Mai 1934 in Tübingen stattfindet, ist Krueger wesentlich weniger emphatisch. Zwar meldet er mit Nachdruck den Anspruch an, daß die von ihm begründete Ganzheitslehre auch auf die Psychologie der Gemeinschaft angewendet werden muß. Aber seine Rede ist bereits durchzogen von  dem abwehrenden Mißtrauen, vielleicht auch der Angst des kon-[>70]servativen Geistesaristokraten gegenüber der unkontrollierbaren Wucht einer kollektivistischen Massenbewegung, die ebenso leichtfertig wie hohlköpfig mit den Begriffen wie »Volksganzes« oder »totaler Staat« umgeht und sich dabei am Ende auf die psychologische Ganzheitslehre berufen möchte. Für diese Ganzheitsbegriffe will Krueger auf keinen Fall in Anspruch genommen werden, und für die Rechtfertigung dieser proletarischen Massenbewegung will er seine subtile Ganzheitslehre doch nicht usurpieren lassen:
    »Seit Kurzem erschallt auf beinahe der ganzen Linie der geistigen Bewegungen . . . der Ruf nach Ganzheit. Jetzt breitet er sich gleichlautend sogar in den. Zeitungen aus, und Massenversammlungen lassen sich davon erregen. An diesen Orten soll gewöhnlich bei dem uralten deutschen Wort lehrreicherweise eine überpersönliche Verbundenheit zwischen leibhaftigen, aber möglichst wenig individuierten Menschen vorgestellt werden. Das Schwergewicht verlegt man dann in die »Volksgemeinschaft«, und zu ihr wird neuerdings der »totale Staat« umrißweise hinzugenommen. Der Stand, die Familie und der Bund treten hinter diesen bevorzugten Gegenstand des Öffentlichen Meinens zurück, mehr noch die überzeitlichen Gebilde des Geistes, am meisten die schöpferische Persönlichkeit. . . Wohlgesinnte mit ungeschultem Kopf sehen die komplexen Allgemeinheiten, die sie verehren, gern  teilweise verhüllt von nebulöser Mystik oder verstellt von handgreiflicher Mythologie. So ist es hoch an der Zeit, daß die Erfahrungswissenschaft ihre Scheinwerfer auf die gemeinten Sachverhalte richte.« [FN23]"
     

    • Geuter, U. (1988). Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt: Suhrkamp.
    • Graumann, C. (1985, Hrsg.). Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin: Springer.
    • Prinz, Wolfgang (1985) Ganzheits- und Gestaltspsychologie im Nationalsozialismus. In (55-81) Lundgreen, Peter (1985, Hrsg.) Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt: Suhrkamp.
    __
    Rassenkunde an der Universität Leipzig: Pflichtfach für alle Lehramtsstudenten.
    "In der Philosophischen Fakultät mit ihren vielfältigen Gliederungen in Institute und Fachgebiete waren die Auswirkungen der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten entsprechend weit gefächert. Es soll hier nur auf einige ausgewählte Beispiele verwiesen werden.
    Die Erziehungswissenschaften standen unter besonderen Einfluss der NS-Ideologie. Die von Prof. Theodor Litt aufgebaute Sozialpädagogik wurde schrittweise zerlegt und nach seiner vorzeitigen Emeritierung 1937 durch das neu geschaffene "Psychologisch-pädagogische Institut" des NS-Getreuen Hans Volkelt ersetzt. Die "Rassenkunde" wurde Pflichtfach für alle Lehramtsstudenten.
    Auch die Geschichtswissenschaften waren eine anfällige Disziplin für ideologische Verführungen. Das Lamprechtsche "Institut für Kultur- und Universalgeschichte" von Walter Goetz wurde unter Hans Freyer zum "Institut für Politik" mit dem Ziel der Einflussnahme auf die politische Erziehung der Studentenschaft, die in drei Stufen erfolgen sollte:
         Stufe 1 - Grundausbildung der Studenten durch das "Amt für politische Schulung" in
                       Verantwortung des NS-Studentenbundes,
         Stufe 2 - Erziehung durch Lehrveranstaltungen im "Seminar für politische Erziehung", welches
                       zeitweise unter Leitung von Werner Studentkowski stand, dem Leiter des
                       Gauschulungsamtes der sächsischen NSDAP und späteren einflussreichsten Akteur in
                       der sächsischen Hochschulpolitik,
         Stufe 3 - Einführung der Wissenschaft in der Politik durch das Freyersche Institut, in welchem
                       das "Reich der Deutschen als ewige Idee" angesehen wurde.
    Die sächsische Landesgeschichte, seit 1906 im "Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde" unter Rudolf Kötzschke angesiedelt, geriet ebenfalls immer mehr unter den Einfluss der völkischen Vorstellungen. Mit der Ablösung Kötzschkes 1935 durch den nazitreuen Adolf Helbock und der Umbenennung der Professur in "Landesgeschichte und Volkstum" war der Weg geebnet."
        Quelle (Abruf 10.01.2023): https://research.uni-leipzig.de/agintern/UNIGESCH/ug235.htm
    __
    Spektrum Lexikon der Psychologie: Gestaltzerfall
    "Gestaltzerfall, alte Testreihe von F. Sander, bei dem durch allmähliches Drehen von fünf Ecken einer Zeichnung das vorher deutlich sichtbare Gesichtsbild "zerfällt". Es zeigen sich individuelle Unterschiede bei der gegenläufigen Testanordnung: Manche Personen bauen schneller Deutungsprofile auf als andere (Gestaltwahrnehmung).
    __
    Sommer, Walter Johanes Lebenslauf aus der Dissertation
    "Am 5. Juli 1911 wurde ich, Walter Johannes Sommer, in Großschönau in Sachsen geboren. Ich besuchte dort die Volksschule und trat 1925 in die Quarta des Realgymnasiums zu Zittau ein. Ostern 1932 bestand ich die Reifeprüfung dieser Schule. Im Sommersemester 1932 wurde ich im Pädagogischen Institut der Universität Leipzig aufgenommen. Am 6. Juni 1935 legte ich die Prüfung für das Lehramt an Volksschulen ab, blieb aber weiterhin immatrikuliert und studierte an der Universität Psychologie, Philosophie, Pädagogik und Rassenkunde, besonders bei den Herren Professoren Krueger, Litt, Reche, Volkelt, Klemm und Freyer. - Vom September bis Dezember 1935 K war ich Aushilfslehrer an einer Leipziger Volksschule. Im Januar 1936 wurde ich vom P. Psychologischen Laboratorium des Reichskriegsministeriums als Psychologe an der I Prüfstelle II, Stettin, eingestellt.
    __                                                       W. Sommer"


    Querverweise
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Erleben und Erlebnis bei W. J. Sommer. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/erleben/SommerW.htm

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    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    11.01.2023    irs Rechtschreibprüfung und gelesen
    11.01.2023    Fundstellen signiert, Zusammenfassung
    10.01.2023    Gesichtet, bis S. 15 Fundstellen markiert
    09.01.2023    Angelegt.