Erleben und Erlebnis in Nagels
Wie ist es, eine Fledermaus
zu sein?
Neben weiteren Schlüsselbegriffen.
Originalanalyse von Rudolf Sponsel,
Erlangen
1. Version 29.11.2022
Zusammenfassung-Nagel-1974-Fledermaus:
Nagel, Thomas (1974, dt. 1981) Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
Zur Methode der Fundstellen-Textanalyse.
* Hauptbedeutungen
Erleben und Erlebnis
Wesentliches Ergebnis: das Problem, wie es ist, ein
X. zu sein, ist ungelöst und möglicherweise gar nicht lösbar.
Ganz allgemein geht es in Nagels weltberühmten
Aufsatz um die Frage verstehen fremden Erlebens von erlebensfähigen
Lebewesen, hier speziell am Beispiel Fledermaus und dem Zugang zum Subjektiven,
besonders auch zum Verhältnis subjektiv und objektiv, das, wie Nagel
am Schluss seiner Arbeit ausführt, noch viel besser verstanden werden
muss, um in der Frage des Leib-Seele-Problems weiter zu kommen.
Erleben (1 Erwähnung) und Erlebnis (40 Erwähnungen)
werden - wie auch die anderen Schlüsselbegriffe - als allgemeinverständliche
Grundbegriffe vorausgesetzt
Bemerkenswert: Einmal schreibt Nagel S. 263, ohne
es zu bemerken und zu reflektieren, einer Fledermaus Erleben zu: "... Jeder,
der einige Zeit in einem geschlossenen Raum mit einer aufgeregten
Fledermaus verbracht hat, weiß auch ohne die Hilfe
philosophischer Reflexion, was es heißt, einer grundsätzlich
fremden
Form von Leben zu begegnen."
Anmerkungen: Die Frage ist wissenschaftstheoretisch
schlecht gestellt. Das erkennt man sofort, wenn man sich fragt, wie ist
es, ein Mensch zu sein? Einen Menschen gibt es in der Wirklichkeit (Realität)
so wenig wie eine Fledermaus, es gibt nur konkrete Repräsentanten
(>Begriffsanalyse
konkret, allgemein, abstrakt am Beispiel Fledermaus). Der erste grundlegende
Fehler Nagels besteht also darin, nach dem Seinserleben einer Gattung,
eines allgemeinen Sachverhalts zu fragen. Hier ist Nagel womöglich
ein Opfer seines Platonismus, S. 266: "... Schließlich hätte
es auch dann transfinite Zahlen gegeben, wenn jedermann vom Schwarzen Tod
hinweggerafft worden wäre, bevor Cantor sie entdeckte". Nagel hätte
viel mehr präzisieren müssen. Z.B. hätte er sich fragen
können: wie ist es, Thomas Nagel zu sein? Er hätte dann schnell
gemerkt, dass er mit dieser Frage nicht weiter kommt. Vielleicht wäre
der Kern: ich lebe und bin mir dessen bewusst. Warum sollte das
bei der Fledermaus nicht auch so sein können? Sofern Nagel allerdings
auf das subjektive Gefühl des Erlebenskerns ich lebe und bin mir
dessen bewusst abzielt, wird es schwieriger, weil die Erregungsmuster
bei spezifischen Empfindungen bei Lebenswesen auch der gleichen Art sehr
unterschiedlich sein können und damit unterschiedliche subjektive
Erlebensweisen codieren könnten, wie Kaninchenexperimente
zum Karottenduft bewiesen (Arzt & Birmelin 1995, Haben Tiere ein Bewusstsein?
S. 76):
Fundstellen der Schlüsselbegriff in Textabschnitten,
in denen erleben oder Erlebnis vorkommt
262: "... Die Tatsache, daß ein Organismus überhauptbewußte
Erfahrung hat, heißt im wesentlichen,
daß es irgendwie ist, dieser Organis-
mus zu sein. Es mag weitere Implikationen bezüglich der Form der
Erfahrung
geben; es mag sogar (obwohl ich es bezweifle) Implikationen bezüglich
des
Verhaltens des Organismus geben. Grundsätzlich aber hat ein Organismus
bewußte mentale Zustände
dann und nur dann, wenn es irgendwie ist,
dieser
Organismus zu sein — wenn es irgendwie für diesen
Organismus ist.
Wir können dies den subjektiven
Charakter von Erfahrung nennen. Er wird
von keiner der vertrauten, neuerdings entwickelten reduktiven Analysen
des
Mentalen erfaßt. Alle diese
Analysen sind nämlich mit seiner Abwesenheit
logisch vereinbar. Er ist nicht in der Begrifflichkeit
irgendeines explanatori-
schen Systems funktionaler oder intentionaler Zustände analysierbar.
Diese
Zustände könnten nämlich auch Robotern oder Automaten,
die sich wie
Menschen verhielten, zugeschrieben werden, obwohl sie keine Erlebnisse
hätten. [FN2] Er ist aus ähnlichen Gründen nicht in
der Begrifflichkeit der kausa-
len Rolle analysierbar, die Erlebnisse
in Beziehung auf typisch menschliches
Verhalten spielen. [FN3] Ich leugne weder, daß bewußte
mentale Zustände und
Ereignisse Verhalten verursachen, noch, daß man sie funktional
charakteri-
sieren könnte. Ich leugne nur, daß derartiges eine vollständige
Analyse er-
gibt. Jedes reduktionistische Programm muß auf einer Analyse
dessen beru-
hen, was reduziert werden soll. Wenn die Analyse etwas ausläßt,
wird das
Problem falsch gestellt sein. Es ist zwecklos, eine Verteidigung des
Materia-
lismus auf irgendeine Analyse mentaler Phänomene
zu gründen, die es ver-
säumt, sich explizit mit ihrem subjektiven
Charakter zu beschäftigen. Es gibt
nämlich keinen Grund zu der Annahme, daß eine Reduktion,
die plausibel
zu sein scheint, solange kein Versuch gemacht wird, Bewußtsein
zu erklären,
so ausgeweitet werden kann, daß sie Bewußtsein
einschließt. Ohne irgend-
eine Vorstellung von dem, was der subjektive Charakter
der Erfahrung ist,
können wir nicht wissen, was von einer physikalistischen Theorie
gefordert
wird"
263: "Zuerst möchte ich versuchen, die Sache etwas ausführlicher
darzulegen als
durch Bezugnahme auf das Verhältnis zwischen Subjektivem
und Objektivem
oder zwischen pour soi [für sich] und en soi [an
sich]. Das ist nicht so leicht. Tatsachen
bezüg-
lich dessen, wie es ist, ein X zu
sein, sind sehr sonderbar; so sonderbar, daß
man geneigt sein könnte, ihre Wirklichkeit
oder den Sinn von Behauptungen
über sie zu bezweifeln. Um die Verknüpfung zwischen Subjektivität
und ei-
ner Perspektive zu veranschaulichen
und um die Wichtigkeit subjektiver Ei-
genschaften deutlich zu machen,
wird es helfen, den Sachverhalt anhand ei-
nes Beispiels zu untersuchen, das die Verschiedenheit der subjektiven
und
objektiven Betrachtungsweisen klar
herausstellt.
Ich nehme an: Wir alle glauben, daß Fledermäuse
Erlebnisse
haben.
Schließlich sind sie Säugetiere, und es gibt keinen größeren
Zweifel daran,
daß sie Erlebnisse haben als
daran, daß Mäuse, Tauben oder Wale Erlebnisse
haben. Ich habe Fledermäuse gewählt statt Wespen oder Flundern,
weil man
das Vertrauen darauf, daß es da Erlebnisse
gibt, schrittweise verliert, wenn
man den phylogenetischen Baum zu weit nach unten klettert. Obwohl Fle-
dermäuse uns näher verwandt sind als diese anderen Arten,
weisen sie einen
Sinnesapparat und eine Reihe von Aktivitäten auf, die von den
unsrigen so
verschieden sind, daß das Problem, das ich vorstellen möchte,
besonders an-
schaulich ist (obwohl es gewiß auch anhand anderer Arten aufgeworfen
wer-
den könnte). Jeder, der einige Zeit in einem geschlossenen Raum
mit einer
aufgeregten Fledermaus verbracht
hat, weiß auch ohne die Hilfe philosophi-
scher Reflexion, was es heißt, einer grundsätzlich fremden
Form von Leben
zu begegnen.
Ich habe gesagt, das Wesentliche an dem Glauben,
daß Fledermäuse Erleb-
nisse haben, sei, daß es irgendwie
ist, eine Fledermaus zu sein. Heute wissen
wir, daß die meisten Fledermäuse (der microchiroptera, um
genau zu sein)
die Außenwelt primär durch Radar oder Echolotortung wahrnehmen,
indem
sie das von Objekten in ihrer Reichweite zurückgeworfene Echo
ihrer ra-
schen und kunstvoll modulierten Hochfrequenzschreie registrieren. Ihre
Ge-
hirne sind dazu bestimmt, die Ausgangsimpulse mit dem darauf folgenden
Echo zu korrelieren. Die so erhaltene Information befähigt Fledermäuse,
ei-
ne genaue Unterscheidung von Abstand, Größe, Gestalt, Bewegung
und
Struktur vorzunehmen, die derjenigen vergleichbar ist, die wir beim
Sehen
machen. Obwohl das Fledermaus-Radar klarerweise eine Form von Wahr-
nehmung ist, ist es in seinem Funktionieren
keinem der Sinne ähnlich, die
wir besitzen. Auch gibt es keinen Grund zu der Annahme, daß es
subjektiv
so wie irgendetwas ist, das wir erleben
oder das wir uns vorstellen können.
Das scheint für den Begriff
davon, wie es ist, eine Fledermaus zu
sein,
Schwierigkeiten zu bereiten. Wir müssen überlegen, ob uns
irgendeine Me-
thode erlauben wird, das Innenleben
der Fledermaus aus unserem eigenen [>264]
"Fall zu erschließen [FN5], und falls nicht, welche alternativen
Methoden es geben
mag, um sich davon einen Begriff zu
machen.
264: Unsere eigene Erfahrung liefert
die grundlegenden Bestandteile für unsere
Phantasie, deren Spielraum deswegen beschränkt ist. Es wird nicht
helfen,
sich vorzustellen, daß man Flughäute an den Armen hätte,
die einen befä-
higten, bei Einbruch der Dunkelheit und im Morgengrauen herumzufliegen,
während man mit dem Mund Insekten finge; daß man ein schwaches
Seh-
vermögen hätte und die Umwelt mit einem System reflektierter
akustischer
Signale aus Hochfrequenzbereichen wahrnähme; und daß man
den Tag an
den Füßen nach unten hängend in einer Dachkammer verbrächte.
Insoweit
ich mir dies vorstellen kann (was nicht sehr weit ist), sagt es mir
nur, wie es
für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus
verhält. Das
aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie
es für eine Fledermaus ist,
eine Fledermaus zu sein. Wenn ich
mir jedoch dies nur vorzustellen versu-
che, bin ich auf die Ressourcen meines eigenen Bewußtseins
eingeschränkt,
und diese Ressourcen sind für das Vorhaben unzulänglich.
Ich kann es weder
ausführen, indem ich mir etwas zu meiner gegenwärtigen Erfahrung
hinzu-
denke, noch indem ich mir vorstelle, Ausschnitte würden davon
schrittwei-
se weggenommen, noch indem ich mir Kombinationen aus Hinzufügungen,
Wegnahmen und Veränderungen ausmale.
Bis zu dem Grade, in dem ich mich wie eine Wespe
oder eine Fledermaus
verhalten kann, ohne meine grundlegende Gestalt zu verändern,
würden mei-
ne Erlebnisse gar nicht wie die
Erlebnisse
dieser Tiere sein. Auf der anderen
Seite ist es zweifelhaft, ob der Annahme, ich besäße die
innere physiologi-
sche Konstitution einer Fledermaus, irgendeine Bedeutung gegeben werden
kann. Selbst wenn ich schrittweise in eine Fledermaus verwandelt werden
könnte, könnte ich mir in meiner gegenwärtigen Konstitution
überhaupt
nicht vorstellen, wie die Erlebnisse
in einem solchen zukünftigen Stadium
nach meiner Verwandlung beschaffen wären. Die besten Indizien
würden
von den Erlebnissen von Fledermäusen
kommen, wenn wir nur wüßten, wie
sie beschaffen sind.
Wenn nun die Extrapolation unseres eigenen Falles
in der Vorstellung da-
von, wie es ist, eine Fledermaus
zu sein, enthalten ist, muß diese Extrapola-
tion unvollständig bleiben. Wir können uns nicht mehr als
einen schemati-
schen Begriff davon machen, wie
es ist. Zum Beispiel können wir einem Tier
auf der Grundlage seiner Struktur und seines Verhaltens allgemeine
Arten
von Erfahrung zuschreiben. Wir beschreiben
nämlich das Radar der Fleder-
maus als eine Form dreidimensionaler, vorwärtsgerichteter Wahrnehmung.
Wir glauben, daß Fledermäuse irgendwelche Spielarten von
Schmerz, Angst,
Hunger und Verlangen fühlen und daß sie neben dem Radar
andere, vertrau-
tere Arten von Wahrnehmungen besitzen.
Wir glauben aber, daß diese Erleb-
nisse in jedem Fall auch einen bestimmten
subjektiven
Charakter haben, der
jenseits unserer Fähigkeit liegt, uns einen Begriff
davon
zu machen. Und
wenn es anderswo im Universum bewußtes Leben
gibt, ist es wahrscheinlich, [>265]
daß einiges davon selbst in den allgemeinsten
Erfahrungsbegriffen, die uns
zur Verfügung stehen, nicht beschrieben werden kann. [FN6]
(Das Problem ist jedoch nicht auf exotische Fälle beschränkt;
es besteht
nämlich auch zwischen zwei Personen. Der subjektive
Charakter der Erfah-
rung einer z.B. von Geburt an tauben
und blinden Person ist mir nicht zu-
gänglich, und wahrscheinlich ihr auch der meinige nicht. Dies
hält keinen
von uns davon ab zu glauben, daß die Erlebnisse
des anderen einen subjekti-
ven Charakter haben.)
Wenn irgend jemand zu leugnen geneigt ist, daß
wir glauben können, es
gäbe solche Tatsachen, deren genaue Natur wir unmöglich erfassen
können,
sollte er bedenken, daß wir uns beim Nachdenken über Fledermäuse
im
großen und ganzen in der gleichen Lage befinden, in der sich
intelligente
Fledermäuse oder Marsmenschen[FN7] befinden würden, wenn
sie versuchten,
sich einen Begriff davon zu machen,
wie
es ist, wir zu sein. Die Struktur ih-
res eigenen Bewußtseins mag
es ihnen unmöglich machen, Erfolg zu haben;
wir jedenfalls wissen, daß sie sich irrten, wenn sie zu dem Schluß
gelangten,
daß es keine bestimmte Erfahrung davon
gibt, wie es ist, wir zu sein: daß
uns nur gewisse allgemeine Arten von mentalen Zuständen zugeschrieben
werden könnten (vielleicht wären uns die Begriffe
von Wahrnehmung und
Begierde gemeinsam; vielleicht aber auch nicht). Wir wissen, daß
sie darin
fehl gingen, solch eine skeptische Konsequenz zu ziehen, weil wir wissen,
wie es ist, wir zu sein. Obwohl
dies eine außerordentlich hohe Vielfalt und
Komplexität einschließt, und obwohl wir kein Vokabular besitzen,
es ange-
messen zu beschreiben, wissen wir, daß sein subjektiver
Charakter sehr spezi-
fisch ist und in einigen Hinsichten in einer Begrifflichkeit
beschrieben werden
muß, die nur von Wesen verstanden
werden kann, die uns ähnlich sind. Die
Tatsache, daß wir nicht erwarten können, in unserer Sprache
jemals eine de-
taillierte Beschreibung der Phänomenologie
von Marsmenschen oder Fleder-
mäusen zustandezubringen, sollte uns nicht dazu verleiten, die
Behauptung,
daß Fledermäuse und Marsmenschen Erlebnisse
haben, die an Reichtum an
Details unseren eigenen voll vergleichbar sind, als sinnlos zu verwerfen.
Es
wäre schön, wenn jemand Begriffe
und eine Theorie entwickeln würde, die
es uns möglich machten, über solche Dinge nachzudenken. Es
kann aber
auch sein, daß uns ein solches Verständnis
aufgrund der Schranken unserer
Natur dauerhaft versagt ist. Die plumpste Form gedanklicher Unstimmigkeit
ist es, die Wirklichkeit dessen,
was wir niemals beschreiben können, oder
den Sinn dessen, was wir niemals verstehen
können, zu leugnen.
Dies führt uns an den Rand eines Themas, das
viel weiterer Ausführungen
bedarf, als ich sie hier machen kann: nämlich der Beziehung zwischen
Tatsa-
chen einerseits und begrifflichen
Schemata oder Repräsentationssystemen
andererseits. Mein Realismus bezüglich der subjektiven
Domäne in allen ihren
Formen impliziert die Überzeugung, daß es Tatsachen
jenseits der
Reichweite menschlicher Begriffe
gibt. Gewiß ist es für ein menschliches
Wesen möglich zu glauben, daß es Tatsachen
gibt, die darzustellen oder zu [266]
erfassen Menschen niemals die erforderlichen Begriffe
haben werden. Es
wäre in der Tat töricht, dies angesichts der begrenzten Lebenserwartungen
der Menschheit zu bezweifeln. Schließlich hätte es auch
dann transfinite
Zahlen gegeben, wenn jedermann vom Schwarzen Tod hinweggerafft wor-
den wäre, bevor Cantor sie entdeckte. Man kann aber auch annehmen,
daß
es Tatsachen gibt, die von menschlichen Wesen niemals dargestellt oder
er-
faßt werden können, selbst wenn diese Spezies für
immer bestünde — ein-
fach, weil unsere Struktur es uns nicht erlaubt, mit Begriffen
der erforderli-
chen Art zu operieren. Diese Unmöglichkeit könnte sogar von
anderen We-
sen beobachtet werden; aber es ist nicht klar, daß die Existenz
oder die Mög-
lichkeit der Existenz solcher Wesen eine Voraussetzung für den
Sinn der
Hypothese ist, daß es für den Menschen unerreichbare
Tatsachen gibt.
(Schließlich ist die Natur von Wesen, die Zugang zu Tatsachen
haben, die
für den Menschen unerreichbar sind, wahrscheinlich selbst eine
für den
Menschen unerreichbare Tatsache.)
Überlegungen darüber, wie es ist, eine
Fledermaus zu sein, scheinen uns
daher zu der Schlußfolgerung zu führen,
daß es Tatsachen gibt, die
nicht in der Wahrheit von Gedanken bestehen, die
in menschlicher Sprache ausgedrückt werden können. Wir können
zur An-
erkennung der Existenz solcher Fakten gezwungen werden, ohne die Fähigkeit
zu besitzen, sie festzustellen oder zu erfassen.
Ich werde diese Überlegung jedoch nicht weiter
verfolgen. Ihre Relevanz
für das vor uns liegende Thema (nämlich das Leib-Seele-Problem)
besteht
in der Tatsache, daß sie uns
eine allgemeine Feststellung über den subjekti-
ven Charakter der Erfahrung machen
läßt. Welchen Status Tatsachen
bezüg-
lich dessen, wie es ist, ein Mensch,
eine Fledermaus oder ein Marsmensch zu
sein, auch immer haben mögen, es scheinen Tatsachen
zu sein, die an eine
besondere Perspektive gebunden sind.
Es geht mir hier nicht darum, daß Erlebnisse
für diejenigen, die sie haben,
angeblich privat sind. Die Perspektive,
um die es mir geht, ist nicht etwas,
das nur einem einzelnen Individuum zugänglich ist. Es handelt
sich eher um
einen Typus. Es ist oft möglich, eine andere als die eigene
Perspektive
einzu-
nehmen, so daß das Erfassen von solchen Tatsachen
nicht auf den eigenen
Fall beschränkt ist. Es gibt einen Sinn, in dem phänomenologische
Tatsa-
chen völlig objektiv sind:
Eine Person kann von einer anderen Person wissen
oder sagen, welche Qualität das Erlebnis des
anderen hat. Dennoch sind sie
in dem Sinne subjektiv, daß
diese objektive Zuschreibung von Erlebnissen
nur für jemanden möglich ist, der dem Objekt der Zuschreibung
ähnlich ge-
nug ist, um dessen Perspektive einnehmen
zu können — um sozusagen die
Zuschreibung in der ersten Person ebenso gut zu verstehen
wie die in der
dritten. Je verschiedener das andere Wesen von einem selbst ist, desto
weni-
ger Erfolg kann man von diesem Versuch erwarten. In unserem eigenen
Fall
nehmen wir die maßgebliche Perspektive
ein; wir werden aber dann, wenn
wir uns ihr von einer anderen Perspektive
nähern würden, ebenso viele
Schwierigkeiten haben wie dann, wenn wir versuchten, die Erlebnisse
einer [>267]
anderen Spezies zu verstehen, ohne
derenPerspektive
einzunehmen. [FN8]
Dies ist für das Leib-Seele-Problem
unmittelbar relevant. Wenn nämlich Er-
lebnistatsachen — Tatsachen
bezüglich dessen, wie es für den Organismus ist
— nur einer bestimmten Perspektive
zugänglich sind, dann ist es ein Rätsel,
wie der wahre Charakter von Erlebnissen
in der Funktionsweise dieses Orga-
nismus entdeckt werden könnte. Diese Funktionsweise gehört
in eine Domä-
ne objektiver Tatsachen par excellence —einer
Art von Tatsachen, die aus
verschiedenen Perspektiven und von Individuen mit verschiedenen
Wahrneh-
mungssystemen beobachtet und verstanden
werden können. Nichts Ver-
gleichbares steht der Vorstellung im Wege, daß menschliche Wissenschaftler
Wissen über die Neurophysiologie der Fledermaus erwerben; und
intelligente
Fledermäuse oder Marsmenschen könnten vielleicht mehr über
das Gehirn
lernen, als wir jemals lernen werden.
Für sich allein ist das noch kein Argument
gegen Reduktion. Ein Wissen-
schaftler vom Mars ohne Verständnis
für visuelle Wahrnehmung könnte
den
Regenbogen, den Blitz oder die Wolke als physikalische Phänomene
verste-
hen, obwohl er niemals fähig
wäre, die menschlichen Begriffe
von Regenbo-
gen, Blitz oder Wolke zu verstehen
oder den Ort, den diese Dinge in unserer
phänomenalen Welt einnehmen.
Die objektive Natur der Dinge, die durch
diese Begriffe herausgegriffen werden,
könnte von ihnen verstanden werden,
weil diese Dinge nicht, wie die Begriffe
von ihnen, an eine besondere
Per-
spektive und an eine besondere visuelle
Phänomenologie
geknüpft sind: Sie
können von einer bestimmten Perspektive
aus beobachtet werden, sind aber
von ihr unabhängig; daher können sie auch von anderen Perspektiven
aus er-
faßt werden, entweder von den gleichen oder von anderen Organismen.
Ein
Blitz hat einen objektiven Charakter,
der sich nicht in seiner visuellen Er-
scheinung erschöpft und der von einem Marsmenschen ohne visuelle
Wahr-
nehmung untersucht werden kann.
Um genau zu sein, besitzt er einen Cha-
rakter, der objektiver ist als das,
was sich in seiner visuellen Erscheinung
zeigt. Wenn ich von dem Übergang von einer
subjektiven zu einer objekti
ven Charakterisierung spreche, möchte
ich mich nicht auf die Annahme der
Existenz eines Endpunktes festlegen, also der Existenz einer vollständig
ob-
jektiven inneren Natur eines Dinges,
die man erreichen können mag oder
auch nicht. Vielleicht ist es richtiger, sich Objektivität
als eine Richtung zu
denken, in die der Verstand schreiten kann. Und um ein Phänomen
wie ei-
nen Blitz zu verstehen, hat man das Recht, sich so weit wie möglich
von
einem streng menschlichen Standpunkt zu entfernen. [FN9]
Im Falle von Erlebnissen
scheint auf der anderen Seite die Verbindung mit
einer besonderen Perspektive viel
enger zu sein. Es ist schwierig zu verste-
hen, was mit dem objektiven Charakter eines Erlebnisses gemeint sein
könn-
te — unabhängig von der besonderen Perspektive,
von der aus ein Subjekt
sie erfaßt. Was bliebe letzten Endes von der Weise übrig,
wie es ist, eine Fle-
dermaus zu sein, wenn man die Perspektive
der Fledermaus entfernte? Wenn
aber Erlebnisse nicht zusätzlich
zu ihrem subjektiven Charakter eine objek-[>268]
tive Natur haben, die von vielen verschiedenen Perspektiven aus erfaßt
wer-
den kann, wie kann man dann annehmen, daß ein Marsmensch, der
mein
Gehirn untersuchte, physikalische Prozesse beobachten könnte,
die meine
mentalen Prozesse wären (so wie er physikalische Prozesse beobachten
könnte, die Blitze wären), nur eben von einer anderen Perspektive
aus? Wie,
schließlich, könnte ein menschlicher Physiologe sie von
einer anderen Perspektive
aus beobachten? [FN10]"
...
Doch Erfahrung
selbst scheint nicht in dieses Schema hineinzupassen. Die
Idee, sich von der Erscheinung zur Realität hin zu bewegen, scheint
hier nicht
sinnvoll zu sein. Was entspricht in diesem Fall dem Versuch, ein objektiveres
Verständnis der gleichen Phänomene
zu gewinnen, indem man die anfängli-
che subjekte Perspektive zugunsten
einer anderen verläßt, die objektiver ist,
aber ein und dieselbe Sache betrifft? Gewiß scheint es
unwahrscheinlich,
daß wir uns der wirklichen
Natur der menschlichen Erfahrung nähern,
in-
dem wir die Besonderheit unserer menschlichen Perspektive
hinter uns las-
sen und eine Beschreibung in einer Begrifflichkeit
suchen,
die auch solchen
Wesen zugänglich ist, die sich nicht vorstellen können, wie
es wäre, wir zu
sein. Wenn der subjektive Charakter
der Erfahrung nur von einer einzigen
Perspektive aus ganz erfaßt werden kann, dann bringt uns jeder
Schritt hin
zu größerer Objektivität, d.h. zu geringerer Bindung
an eine spezifische Er-
lebnisperspektive, nicht näher
an die wirkliche Natur des Phänomens
heran:
sie führt uns weiter von ihr weg.
271: "Sehr wenig Mühe wurde auf die grundsätzliche Frage
verwendet (für die die
Rede vom Gehirn ganz übergangen werden kann), ob es überhaupt
irgendei-
nen Sinn ergibt zu sagen, daß Erlebnisse
einen objektiven Charakter haben.
Ergibt es (mit anderen Worten) einen Sinn zu fragen, wie meine Erlebnisse
wirklich sind — im Gegensatz zu
der Art und Weise, wie sie mir erscheinen?
Wir können kein echtes Verständnis der Hypothese erlangen,
daß ihre Na-
tur von einer physikalischen Beschreibung erfaßt wird, ohne die
grundsätzl-
ichere Idee zu verstehen, daß
sie eine objektive Natur haben (oder daß ob-
jektive Prozesse eine subjektive Natur
haben können). [FN14]
Ich möchte mit einem spekulativen Vorschlag
abschließen. Es mag möglich
sein, sich der Lücke zwischen Subjektivem
und Objektivem von einer ande-
ren Richtung her zu nähern. Wenn wir vorübergehend die Beziehung
zwi-
schen dem Mentalen und dem Gehirn beiseite lassen, können wir
uns um ein
objektiveres Verständnis des Mentalen als solchem bemühen.
Gegenwärtig sind wir völlig unausgerüstet,
um über den subjektiven Cha-
rakter der Erfahrung nachzudenken, ohne uns auf die Phantasie zu verlas-
sen — ohne die Perspektive des Subjektes
einzunehmen, das Erlebnisse hat.
Diese Tatsache sollte als eine Herausforderung
angesehen werden, neue Be-
griffe zu bilden und neue Methoden
zu entwickeln: eine objektive Phänome-
nologie, die von Einfühlung
oder Phantasie unabhängig ist. Obwohl sie wahr-
scheinlich nicht alles erfassen würde, wäre es ihre Aufgabe,
den subjektiven
Charakter von Erlebnissen wenigstens
teilweise in einer Form zu beschrei-
ben, die für Wesen verständlich
ist, die solche Erlebnisse nicht haben
kön-
nen.
Wir hätten eine solche Phänomenologie
zu entwickeln, um die
Radar-Er-
lebnisse von Fledermäusen zu
beschreiben; es wäre aber auch möglich, mit
Menschen zu beginnen. Man könnte zum Beispiel versuchen, Begriffe
zu
entwickeln, die verwendet werden könnten, um einer von Geburt
an blinden
Person zu erklären, wie es ist
zu sehen. Man mag unter Umständen auf
ein totes Gleis geraten; es sollte aber möglich sein, eine Methode
zu entwik-
keln, um in einer objektiven Begrifflichkeit
viel mehr auszudrücken, als wir
gegenwärtig können, und das mit viel größerer
Genauigkeit. Die vagen inter-[>272]
modalen Analogien — wie z.B. 'Rot ist wie der Ton einer Trompete' —,
die in
der Diskussion über dieses Thema auftauchen, sind wenig ergiebig.
Das
sollte jedem klar sein, der sowohl eine Trompete gehört als auch
etwas Ro-
tes gesehen hat. Strukturelle Eigenschaften der
Wahrnehmung könnten aber
einer objektiven Beschreibung zugänglicher sein, obwohl selbst
dann etwas
ausgelassen würde. Begriffe,
die Alternativen zu denen sind, die wir in der
ersten Person lernen, mögen uns in die Lage versetzen, zu einer
Art von Ver-
ständnis selbst unserer eigenen
Erfahrung zu gelangen, das uns gerade durch
die Zwangslosigkeit der Beschreibung und durch die Distanzlosigkeit,
die
uns durch subjektive Begriffe gestattet
wird, versagt ist.
Unabhängig von ihrem eigenen Interesse könnte
eine Phänomenologie, die
in diesem Sinne objektiv ist, Fragen über die physikalische [FN15]
Grundlage der
Erfahrung eine einsichtigere Form
geben. Aspekte der subjektiven Erfah-
rung, die diese Art von objektiver
Beschreibung zulassen, könnten bessere
Kandidaten für objektive Erklärungen einer vertrauteren Art
sein. Aber
ganz gleich, ob diese Vermutung richtig ist oder nicht, scheint es
unwahr-
scheinlich zu sein, daß irgendeine physikalische Theorie des
Mentalen
erwo-
gen werden kann, bevor man sich nicht mehr Gedanken über das allgemeine
Problem des Subjektiven und des Objektiven gemacht
hat. Andernfalls kön-
nen wir das Leib-Seele-Problem nicht
einmal stellen, ohne ihm zugleich aus-
zuweichen."
15: "Aus dem Leben der Spinne: 1. Gruppe. — Ich
hatte Gelegenheit,
eine Radspinne, welche sich im Innern meiner
Stube im
Fensterrahmen angesiedelt hatte, über vier
Wochen hindurch zu beobachten,
und zwar in voller Freiheit, nicht in Gefangenschaft.
Sie
gehörte zu denen, die nicht, wie die Kreuzspinne,
im Zentrum ihres
Netzes auf Beute warten, sondern zu denen, die
auf das Einfliegen
der Insekten in einem röhrenförmigen
Neste (der sog. »Wohnung«)
hockend lauern, welches sie seitlich von dem
vertikal gespannten Netze
angelegt haben, und das mit dem Zentrum durch
einen isoliert gespannten
Leitfaden (den sog. »Signalfaden«)
verbunden ist. Fliegt nun
eine Mücke ein, so stürzt die Spinne
bekanntlich aus ihrer Wohnung
längs des Leitfadens hervor, tötet
oder betäubt die Mücke mit kräftigen
Bissen, umspinnt sie zumeist ein wenig und schleppt
den Raub
gleichsam huckepack in ihre Wohnung, wo sie sich
dann sogleich
an das Aussaugen der Beute macht. Läßt
man nun, während sie
hiermit beschäftigt ist, eine weitere Fliege
oder Mücke einfliegen, so
unterbricht sie sogleich das Geschäft des
Aussaugens, befestigt mit
ungeheuerer Schnelligkeit den Bissen, mit dem
sie beschäftigt war,
vor dem Eingang der Wohnung, eilt in das Netz
hinaus und betäubt
und umspinnt daselbst den neuen Fang; nun aber
nimmt sie ihn
nicht, wie sie mit dem ersten tat, mit sich,
sondern läßt ihn wohlbefestigt
draußen im Netze zurück, begibt sich
in die Wohnung und
saugt das erste Opfer bis zu Ende aus. Erst dann
holt sie den vorhin
draußen befestigten zweiten Fang herein.
Man kann sie ihr Sauggeschäft
bis drei und vier Mal in eben dieser Weise unterbrechen
sehen, wenn man der Reihe nach noch weitere Mücken
oder Fliegen
in das Netz hineinfliegen läßt.
Diese einfachen Tatsachen ließen sich natürlich
von vielen Seiten
aus betrachten. Uns aber kommt es hier gemäß
den vorausgeschickten
Bemerkungen nur darauf an, einen Fall hoher Angepaßtheit
der
tierischen Handlung an komplizierte Sachverhalte
deutlich in Erinnerung
zu bringen, einen Fall jener hohen Angepaßtheit,
über die seit
jeher der Mensch gestaunt hat. Man beachte wohl:
eine erste [>16]
Handlung, das Aussaugen des Opfers, wird durch
den neuen Reiz,
nämlich das Einfliegen der zweiten Mücke
in das Netz, nicht einfach
verdrängt; aber sie wird auch nicht bloß
einfach unterbrochen, sondern
sie wird zu einem vorläufigen anderen Abschluß
gebracht: die
Spinne läßt den Bissen nicht liegen,
sondern sie hängt den Bissen
vor ihrer Wohnung auf. Und weiter: die zweite
Haupthandlung,
die Bergung des zweiten Fanges, sie wird nicht
so vollzogen, als
wäre die erste nicht vorhanden: der Raub
wird nur draußen im Netze
befestigt, nicht in die Wohnung hereingeschleppt
1). Und schließlich
ist nach dem Zuendebringen der ersten Haupthandlung,
nach dem
völligen Verzehren des ersten Opfers, die
innere Verfassung der
Spinne nicht die gleiche
wie dann, wenn diese Handlung nicht durch
die zweite Handlung unterbrochen
worden wäre. Zunächst freilich
ist diese letzte Behauptung noch unerwiesen;
denn die Spinne benimmt
sich, indem sie nun den zweiten Fang hereinholt,
genau so,
als wäre er erst soeben ins Netz gefallen
(bis auf dies natürlich,
daß sie das Opfer nun nicht erst im Netze
zu befestigen braucht').
Indessen es läßt
sich sofort zeigen, daß auch jetzt die innere Verfassung
der Spinne eine andere ist,
als wenn die zweite Haupthandlung
sich nicht ereignet hätte.
Dies lehrt ein einfacher Versuch.
Ich schnitt ein anderes Mal, nachdem bis zur
Wiederaufnahme des
Sauggeschäftes der Versuch genau ebenso
verlaufen war, nun, während
die Spinne in ihrer Wohnung das erste Opfer bis
zu Ende verzehrte,
den zweiten Fang vorsichtig aus dem Netz heraus.
Als nun
die erste Haupthandlung beendet war, blieb die
Spinne nicht, wie
man erwarten müßte, wenn die zweite
Haupthandlung ohne Nachwirkung
sein sollte, ruhig sitzen, sondern, kaum hatte
sie das Sauggeschäft
beendet, so begann sie sehr
erregt am Leitfaden mit beiden
Vorderbeinen zu rucken,
kehrte sodann, was sonst allein auf einen
von hinten erfolgenden Angriff geschah, in ihrer
Wohnung um, und
tastete heftig nach dieser Richtung; dann stürzte
sie am Leitfaden
entlang ins Zentrum, rüttelte daselbst,
sich eineinhalbmal um sich
selbst drehend, der Reihe nach an allen radialen
Fäden des Netzes,
nicht verwendete. [>17]
und kehrte schließlich in ihre Wohnung
zurück, um jetzt erst die
normale Lauerstellung wieder einzunehmen.
Wir sehen also auch hier: nicht nur der jeweils
gegenwärtigen
Konstellation der Dinge, sondern sogar auch den
Sachzusammenhängen,
deren Wahrnehmung, durch andere Handlungen getrennt,
zurückliegt, trägt das Verhalten der
Spinne in einer staunenswert
zweckentsprechenden Weise Rechnung. Mehr soll
einstweilen mit
diesem ersten Beispiel nicht gesagt sein. Denn
es ist uns gemäß den
Vorbemerkungen nicht so sehr um eine gleichartige
Gruppe von Tatsachen
zu tun, als vielmehr um den Gegensatz, in dem
eine Gruppe
von Tatsachen aus dem Leben eines Tieres zu einer
anderen Gruppe
von Vorkommnissen im Leben des gleichen Tieres
steht. Einige
Beobachtungen, an eben dieser Spinne gemacht,
werden uns denn
auch sogleich sehr andere Verhältnisse vor
Augen rücken.
Aus dem Leben der Spinne: 2. Gruppe. — Es fällt
sehr
bald auf, daß die Radspinne außerhalb
desjenigen Gebietes ihres Netzwerkes,
das mit konzentrischen Fäden bespannt ist,
keine Raubzüge
unternimmt, obwohl auch dort bisweilen, in dem
unregelmäßigeren
Netzwerk, sich ein Insekt fängt. So sah
ich öfter in dem Netzwerk,
das dazu diente, die röhrenförmige
Wohnung am Fensterrahmen zu
befestigen, eine Mücke hängen, die
nicht beachtet wurde. Ich ließ
auch mehrmals dicht vor dem Eingang in die Wohnung,
in der die
Spinne lauerte, kleine Mücken vorbeikriechen,
so daß sie dabei die
Fäden, die zu der nahen Wohnung führten,
sichtlich erschütterten.
Die Spinne nahm indes keine Notiz hiervon. Der
merkwürdigste Fall
war aber folgender.
Ich ließ eine kleine Mücke von der
Art, wie sie die Spinne damals
fast ausschließlich fraß, geradezu
in die Röhre, in der die Spinne
lauerte, hineinfliegen; sie verfing sich ein
paar Millimeter von den
Vorderbeinen der Spinne entfernt in dem Netzwerk,
mit dem die
Röhre austapeziert ist, und suchte dort
durch die gleichen Bewegungen,
die jede Mücke macht, die sich draußen
im Netz gefangen
hat, loszukommen. Die Spinne hatte an diesem
Tage erst eine
Mücke gefangen, und dies war schon 8 Stunden
her. Sie war also
nachweislich hungrig.
Dennoch reagierte sie auf die allernächste Nähe
der Mücke gar nicht. Aber nicht genug. Die
Mücke geriet bei
ihren Versuchen loszukommen näher und näher
an die Spinne heran.
Daß sich die Spinne in durchaus reaktionsfähigem
Zustand befand,
sehen wir daran, daß sie, wie immer in
der Lauerstellung, mit der
Klaue des einen Vorderbeins in den Leitfaden,
der zum Zentrum führt,
eingreifend, diesen Faden straff gespannt hielt.
Die Mücke stieß
sogar schließlich an eben dieses Vorderbein
der Spinne. Da schlug
die Spinne mit den beiden Vorderbeinen nach ihr
und zog sich ein
wenig nach hinten zurück. Dies wiederholte
sich, da die Mücke,
allein in dem Bestreben vom Netzwerk loszukommen,
in der Richtung
auf die Spinne weiter vordrang. Schließlich
geriet die Mücke —
ein fast aufregender Anblick — unter die beiden
von der Spinne
etwas hoch gehobenen Vorderbeine. In diesem Moment
befand sie
sich also dicht vor den Freßwerkzeugen
des Ungeheuers. Die Spinne
aber machte nur ein paar weitere halb zuschlagende
halb abwehrende
Bewegungen und brachte hiermit die Mücke
schließlich dazu , daß
sie sich dem Ausgang der (ungefährlichen!)
Räuberhöhle zuwandte. —
Ich beobachtete den ganzen Vorgang, der mehrere
Minuten dauerte,
mit einer großen Lupe.
Da ich in dem eben geschilderten Hergang an keinem
Punkte
eingriff, gewinnt vielleicht noch ein ähnlicher
Versuch, der ohne jene
erste Beobachtung eines unbeeinflußten
Vorgangs nicht überzeugend
wäre, einen bestätigenden und ergänzenden
Wert. — Ich ließ ein
andermal eine Mücke von hinten in die Neströhre,
in der die Spinne
hungrig lauerte,
hineinkriechen, und nachdem sie sich ins Fadenwerk
der Nestwände verfangen hatte, ermunterte
ich sie mit der Pinzette
leise von hinten zum Vordringen in das Innere
des Nestes. Die
Spinne, von den Fühlern der Mücke am
Hinterleib berührt, sprang
erschreckt etwa einen Zentimeter voran, wandte
sich dann rasch um
und griff mit abwehrenden Schlägen der weit
vorgestreckten Vorderbeine
die Mücke heftig an. Diese, von mir von
hinten sachte weiter
angetrieben, drang indessen weiter vor, die Spinne
wich kämpfend
zurück; schließlich wandte sie den
Rücken und zog sich Schritt für
Schritt vor der nachdringenden, vom Netzwerk
los und durch mein
Antreiben zugleich vorwärtsstrebenden Mücke
weiter zurück. So ging
die schrittweise Flucht der Spinne vor der Mücke
schließlich aus dem
Nest über den langen Leitfaden hin bis zum
Zentrum des Netzes;
dort kletterte die Mücke abseits in die
Fäden des Netzes; erst dann, als
der Rückweg frei war, begab sich die Spinne
wieder in ihre Wohnung. [>19]
Gegensatz der beiden Gruppen. — Vergleichen wir
nun
— und auf diesen Vergleich kommt es uns ja an
— diese beiden
Gruppen von Handlungsbildern aus dem Leben der
Spinne, ja sogar
einer und derselben Spinne. Wir bemerken sogleich
den großen
Gegensatz, in dem die beiden Gruppen zueinander
stehen. So vortrefflich
wie in jenen zuerst geschilderten Fällen
die Anordnung der
Raubzüge und der Verzehrung der Opfer dem
Sachverhalt und gar
dem Sachzusammenhang entsprochen hatte, so wenig
zeigte die Spinne
den zuletzt beschriebenen Situationen sich gewachsen.
Und doch
befindet sich ganz augenscheinlich in den beiden
Gruppen von Handlungsbildern
die Spinne den gleichen Gegenständen gegenüber,
und
in beiden Fällen haben diese Gegenstände
für die Spinne den gleichen
Wert«: Wir sahen in der ersten wie in der
zweiten Tatsachengruppe
die nachweislich hungrige Spinne der Mücke
oder der Fliege gegenüberstehen,
den Tieren also, auf deren Fang das ganze Tun
und
Treiben der Spinne, die gesamte Organisation
ihres Wesens gerichtet
ist. Eben dieses Tier nun, dessen sich zu bemächtigen
der Lebenszweck
der Spinne ist, es bot sich in der zweiten Tatsachengruppe
geradezu den Freßwerkzeugen der hungrigen
Spinne in nächster Nähe
dar, trotzdem wurde es hier nicht ergriffen und
verzehrt. Sondern
wir konnten das lächerliche Schauspiel beobachten,
daß die Spinne
vor eben dem Tier, das sie sonst mit einem Biß
unschädlich macht,
sich fürchtete und Schritt vor Schritt zurückzog.
— Freilich, daß hier
wie dort die Fliege den Sinnen der Spinne etwa
gleichermaßen zugänglich
ist, dies nahmen wir hier stillschweigend an.
Doch wird
im 3. Abschnitt gelegentlich der weiteren Analyse
der geschilderten
Tatsachen unsere Annahme sich bestätigen.
Wir werden dort die
Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane der
Spinne eingehend erörtern.
Hier haben wir also in ausgesprochener Weise
den Fall, den wir
von vornherein als günstigen Eingang in
die Geheimnisse der Vorstellungsseite
des tierischen Bewußtseins
bezeichnet hatten. Es besteht
kein Zweifel über den »Wert«
einer bestimmten Sache für ein bestimmtes
Tier, eben den Wert der Fliege für die Spinne,
und wir
studieren das Verhalten des Tieres zu dieser
Sache, und es ergibt
sich in dem Verhalten des Tieres zu eben dieser
Sache ein auffallender,
zunächst völlig rätselhafter Unterschied.
Wir haben somit
in einem ersten Falle zwei Tatsachengruppen von
der Art gefunden,
[>20] wie wir sie suchten, Tatsachengruppen also,
die in jenem bestimmten
Gegensatze zueinander zu stehen scheinen, von
dessen Aufklärung
wir uns die gesuchte Einsicht in das tierische
Bewußtsein versprochen
hatten.
Die soeben beschiebenen Ereignisse
des Spinnenlebens sind nun,
wie jedermann weiß, der Tiere auch nur
ein wenig beobachtet hat,
ihrem Wesen nach keine kuriosen Geschichtchen
aus dem Tierleben,
sondern sie sind durchaus typische, vielleicht
nur gerade etwa drastische
Fälle. Die tierspychologische Literatur
ist reich an Schilderungen
von Geschehnissen wesensverwandter Art. Immer
wieder begegnet
uns der gleiche Gegensatz: hier staunenswert
hohe Angepaßtheit
des Handelns an jede Einzelheit des Tatbestandes
und der äußeren
Verläufe — dort absolute
Hilflosigkeit, Verirrung und Verwirrung. —
Wir werden jetzt aus der Literatur eine größere
Anzahl von Tatsachen,
die hierher gehören, beizubringen versuchen.
Auszuscheidende Fälle.
— Nicht verwendbar sind — wie
schon oben erwähnt wurde und woran hier
erinnert werden muß —
nicht verwendbar für unsere Frage nach der
psychischen Rolle der
äußeren Sachverhalte sind diejenigen
der sog. »verirrt en« Instinkte,
in denen das handelnde Tier vorn Sachverhalte
gar keine Kunde
bekommen kann. So hat, um dies nochmals an einem
Beispiel klarzulegen,
die Pfauhenne, von der Romanes berichtet, daß
sie vier
Monate hindurch auf tauben Eiern saß, bis
man sie mit Gewalt wegtrieb,
um ihr das Leben zu retten1), natürlich
keine Vorstellung von
dem eigentlich zu erwartenden Erfolge ihres Brütgeschäftes,
und folglich
erreicht sie auch keine Erkenntnis des Mißerfolges,
wenn sie
auch noch so lange auf den tauben Eiern sitzt.
Offenbar kann uns
solche Unangepaßtheit an Dinge und Ereignisse,
die das Tier ohne
Zweifel gar nicht kennt, hier nicht interessieren
— einfach deshalb,
weil hier die Dinge, deren Erscheinungsform im
primitiven Bewußtsein
wir erforschen wollen, überhaupt in keiner
Weise in dem Bewußtsein
des Tieres vertreten sind. Es bleiben hier also
z. B. alle
einmaligen, d. h. nur einmal im Leben, etwa bei
der Fortpflanzung,
sich betätigenden Instinkte beiseite. Und
ebenso für unsere Zwecke
unanwendbar sind diejenigen Fälle erster
Anwendungen angeborener
[>21] Instinkte, in denen das äußere
Ziel der Handlung nachweislich vor
Vollzug der Handlung von den Sinnesorganen gar
nicht erreicht
wird, wie dies z. B. zutrifft, wenn das noch
blinde Vögelchen im
Nest den Hinterleib mühsam zum hohen Rand
des Nestes hinaufschiebt,
um dort zum erstenmal des Kotes sich zu entledigen1).
Indessen,
wenn diese Arbeit auch von solchen Erscheinungen
aus der
Jugend des Tieres nicht ausgeht, so werden wir
doch später auch
diese Tatsachen aus dem Gebiet der individuellen
Entwicklung der
Instinkte in unsere Betrachtung ziehen und zu
verarbeiten trachten.
Denn schließlich sind
in allen diesen Fällen von einmaligen oder
noch unentwickelten Instinkten
doch irgendwelche »Empfindungen«
im Bewußtsein vorhanden,
durch welche die Instinkthandlungen ausgelöst
und begleitet werden, und
diese Empfindungen und ihre Anordnungen
gehören natürlich
auch zu der objektiven Seite des primitiven
Bewußtseins, die wir
hier untersuchen. Wir sind daher auch
verpflichtet, die Tatsachen der individuellen
Entwicklung der Instinkte
mit dem Bilde der Vorstellungsseite des tierischen
Bewußtseins,
das wir auf Grund ganz anderer Tatsachengruppen
gewinnen
werden, in Einklang zu bringen. Dies wird im
letzten Abschnitt
denn auch geschehen.
Versuche mit Vögeln und
Bienen. — Tatsachen dieser Art also
werden wir ausscheiden, wenn wir im folgenden
noch eine Reihe von
Fällen nennen wollen, die den von uns beobachteten
Ereignissen des
Spinnenlebens wesensverwandt sind. — Ähnlich
wie unsere Spinne,
die ihr Interesse, wenn sie der Fliege außerhalb
des Jagdreviers begegnete,
durchaus nicht wahrzunehmen verstand, ergeht
es anderen
Tieren häufig. So berichtet Morgan: »Ein
kleiner Fasan, der sonst
willig auf meine Hand gekommen war, um die Wespenlarven,
die
ich auf die Handfläche gelegt hatte, zu
holen, stieß eines Morgens
die Alarmnote
aus und weigerte sich, wie sonst auf meine Finger
zu hüpfen. Der Grund: 5 oder 6 Larven waren
zusammengeklebt,
so daß sie eine größere Masse
bildeten, vor der er sich fürchtete«
2).
—
Die Analogie mit der Verkennung der Fliege durch
die Spinne in
anderer Situation ist vollkommen. Zwar handelt
es sich um einen
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Inhaltsverzeichnis site: www.sgipt.org. |
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korrigiert: 30.11.2022 irs Rechtschreibprüfung und gelesen