Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=00.08.2017 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TMJ
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Allgemeine Psychologie, Bereich Fantasie, und hier speziell zum Thema:

    Wundt 1918 zur Phantasie
    wissenschaftliches Begleitmaterial zur
    Analyse des Phantasiebegriffs.

    von Rudolf Sponsel, Erlangen

        Wundt, Wilheln (1918) § 17  Apperzeptionsverbindungen. In:  Grundriss der Psychologie:

      " 2. Die Apperzeptionsverbindungen erstrecken sich über eine Menge psychischer Vorgänge, welche die gewöhnliche Erfahrung durch gewisse Allgemeinbezeichnungen, wie Denken, Reflexion, Phantasie- und Verstandestätigkeit, zu unterscheiden pflegt. Dabei gelten diese zwar sämtlich als höhere Stufen psychischer Prozesse, den sinnlichen Wahrnehmungen und den reinen Erinnerungsvorgängen gegenüber; doch wird ihnen im einzelnen wieder ein völlig verschiedenartiger Charakter zugeschrieben. Insbesondere wird für die sogenannten Phantasie- und Verstandestätigkeiten ein solcher Unterschied angenommen. ...
          14. Insofern die Vorstellungsbestandteile eines durch apperzeptive Synthese entstandenen Gebildes als die Träger des übrigen Inhaltes betrachtet werden können, bezeichnen wir ein solches Gebilde allgemein als eine Gesamtvorstellung. Wo die Verbindung der Elemente des Ganzen als eine eigenartige, von den Assoziationsprodukten der Eindrücke erheblich abweichende erscheint, da wird die Gesamtvorstellung, ebenso wie jeder ihrer relativ selbständigen Vorstellungsbestandteile, wohl auch eine Phantasievorstellung oder ein Phantasiebild genannt. Da sich übrigens diese willkürliche Synthese bald mehr, bald weniger von den in den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen und ihren Assoziationen gegebenen Verbindungen entfernen kann, so ist praktisch kaum eine scharfe Grenze zwischen Phantasie- und Erinnerungsbild zu ziehen. Auch bildet das positive Merkmal der willkürlichen Synthese ein wesentlicheres Kennzeichen des apperzeptiven Vorgangs als das negative, daß die Beschaffenheit der Verbindung keiner einzelnen bestimmten Sinneswahrnehmung entspricht. Zugleich liegt hierin der augenfälligste äußere Unterschied der Phantasie- von den bloßen Erinnerungsbildern begründet. Er besteht darin, daß jene in ihrer Klarheit und Deutlichkeit wie auch meist in der Vollständigkeit und Stärke ihres Empfindungginhalts den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen näher stehen als diese. Dies erklärt sich wohl daraus, daß die hemmenden Wechselwirkungen, welche die frei schwebenden Assoziationen aufeinander ausüben, und welche es zu einer festeren Gestaltung der Erinnerungsbilder nicht kommen lassen, durch die willkürliche Bevorzugung bestimmter Vorstellungsgebilde vermindert oder beseitigt werden. Man kann daher in Phantasiebildern sich ergehen wie in wirklichen Erlebnissen. Bei Erinnerungsbildern ist das nur dann möglich, wenn sie zu Phantasiebildern werden, d. h. wenn man die Erinnerungen nicht mehr bloß passiv in sich aufsteigen läßt, sondern bis zu einem gewissen Grade frei mit ihnen schaltet, wobei dann freilich auch willkürliche Veränderungen derselben, eine Vermengung erlebter und erdichteter Wirklichkeit, nicht zu fehlen pflegt. Darum bestehen alle unsere Lebenserinnerungen aus "Dichtung und Wahrheit". Unsere Erinnerungsbilder wandeln sich unter dem Einfluß unserer Gefühle und unseres Willens in Phantasiebilder um, über deren Ähnlichkeit mit der erlebten Wirklichkeit wir meist uns selbst täuschen.
              15. An die so durch apperzeptive Synthese entstandenen Gesamtvorstellungen schließt sich nun in zwei Formen die in entgegengesetzter Richtung wirkende apperzeptive Analyse an. Die erste ist unter dem Vulgärnamen der Phantasietätigkeit, die zweite unter dem der Verstandestätigkeit bekannt. Beide sind übrigens durchaus nicht, wie man nach diesen Namen vermuten könnte, verschiedene, sondern nahe verwandte und immer miteinander verbundene Vorgänge. Was sie zunächst scheidet, und worauf alle weiteren sekundären Unterschiede sowie die Rückwirkungen, die sie auf die synthetische Funktion ausüben, beruhen, ist das sie bestimmende Grundmotiv.
          Dieses besteht bei der "Phantasietätigkeit" in der Nacherzeugung wirklicher oder der Wirklichkeit analoger zusammengesetzter Erlebnisse. Unmittelbar an die Assoziationen sich anlehnend, ist daher die Phantasietätigkeit die ursprünglichere Form der apperzeptiven Analyse. Sie beginnt mit einer mehr oder minder umfassenden, aus mannigfachen Vorstellungs- und Gefühlselementen bestehenden Gesamtvorstellung, die den allgemeinen Inhalt eines Erlebnisses umfaßt, in welchem die einzelnen Bestandteile zunächst nur unbestimmt ausgeprägt sind. Diese Gesamtvorstellung zerlegt sich dann in einer Reihe sukzessiver Akte in eine Anzahl bestimmterer teils zeitlich, teils räumlich verbundener Gebilde. So schließen hier an eine primäre willkürliche Synthese analytische Akte sich an, infolge deren wieder Motive einer neuen Synthese und damit einer Wiederholung des ganzen Prozesses mit einer teilweise veränderten oder mit einer beschränkteren Gesamtvorstellung entstehen können.
          Die Phantasietätigkeit zeigt zwei Entwicklungsstufen. Die erste, mehr passive, geht unmittelbar aus den gewöhnlichen Erinnerungsfunktionen hervor. Sie findet sich namentlich in der Form der Antizipation der Zukunft fortwährend in unserem Gedankenlauf und spielt als Vorbereitung der Willensvorgänge eine wichtige Rolle in der psychischen Entwicklung. Doch kann sie in analoger Weise als ein beliebiges Hineindenken in imaginäre Lebenslagen oder in äußere Erscheinungsfolgen vorkommen. Die zweite, aktivere Form steht unter dem Einfluß streng festgehaltener Zweckvorstellungen und setzt daher einen höheren Grad willkürlicher Gestaltung der Phantasiebilder und ein höheres Maß teils hemmender, teils auswählender Wirkungen gegenüber den unwillkürlich sich aufdrängenden Erinnerungsbildern voraus. Schon die ursprüngliche Synthese der Gesamtvorstellung ist hier eine planvollere. Eine einmal entstandene Gesamtvorstellung wird strenger festgehalten und durch eine vollständigere Analyse zerlegt, wobei die Bestandteile häufig wieder untergeordnete Gesamtvorstellungen bilden, auf die der nämliche Prozeß der Analyse abermals Anwendung findet. Auf diese Weise beherrscht das Prinzip der zweckmäßigen organischen Gliederung alle Produkte und Prozesse der aktiven Phantasietätigkeit. In deutlichster Weise zeigt sich dies an den Erzeugnissen der Kunst. Doch finden sich auch schon in dem gewöhnlichen freien Spiel der Phantasie mannigfache Übergänge zwischen der passiven, noch unmittelbarer an die Erinnerungsfunktionen sich anlehnenden und der aktiven, von festeren Zwecken geleiteten Phantasietätigkeit.
          16. Dieser Nachbildung wirklicher oder als Wirklichkeit vorstellbarer Erlebnisse gegenüber besteht das Grundmotiv der "Verstandestätigkeit" in der Auffassung der Übereinstimmungen und Unterschiede, sowie der aus diesen sich entwickelnden sonstigen logischen Verhältnisse der Erfahrungsinhalte. Demnach geht die Verstandestätigkeit ursprünglich ebenfalls von Gesamtvorstellungen aus, in denen eine Anzahl wirklicher oder als wirklich vorstellbarer Erlebnisse willkürlich in Beziehung gesetzt und zu einem einheitlichen Ganzen verbunden ist. Aber der hierauf folgenden Analyse ist durch das abweichende Grundmotiv ein anderer Weg vorgezeichnet. Die Analyse besteht nämlich hier nicht mehr bloß in einer klareren Vergegenwärtigung der einzelnen Bestandteile der Gesamtvorstellung, sondern in der Feststellung der durch die vergleichende Funktion zu gewinnenden mannigfachen Verhältnisse, in denen jene Bestandteile zueinander stehen. Zum Behuf dieser Feststellung werden dann zugleich, sobald nur einmal mehrfach solche Analysen vollzogen sind, anderweitig gewonnene Ergebnisse der Beziehung und Vergleichung herbeigezogen.
          Infolge dieser strengeren Anwendung der beziehenden und vergleichenden Elementarfunktionen folgt die Verstandestätigkeit schon in ihrer äußeren Form, namentlich auf den vollkommeneren Stufen, festeren Regeln. Die im allgemeinen bereits für die Phantasie- und selbst für die bloße Erinnerungstätigkeit gültige Tatsache, daß sich uns die zur Apperzeption gelangenden Beziehungen verschiedener psychischer Inhalte zueinander nicht simultan, sondern sukzessiv darbieten, so also, daß wir jeweils von einer Beziehung zu einer folgenden fortschreiten, wird bei den Verstandesfunktionen zu einer diskursiven Gliederung der Gesamtvorstellungen. Sie findet ihren Ausdruck in dem Gesetz der Dualität der logischen Denkformen, nach welchem die durch beziehende Vergleichung entstehende Analyse den Inhalt einer Gesamtvorstellung zunächst in zwei Teile zerlegt, Subjekt und Prädikat, worauf sich dann an jedem dieser Teile die ähnliche Zweigliederung noch einmal oder mehrmals wiederholen kann. Solche Untergliederungen werden durch die ebenfalls dual einander gegenüberstehenden und nach ihrem logischen Verhältnis dem Subjekt und Prädikat analogen grammatischen Kategorien von Nomen und Attribut, Verbum und Objekt, Verbum und Adverbium bezeichnet. Auf diese Weise geht hier aus dem Vorgang der apperzeptiven Analyse das Urteil, das sprachlich in dem Satze seinen Ausdruck findet, hervor.
          Für das psychologische Verständnis der Urteilsfunktion ist es von fundamentaler Bedeutung, daß dieselbe nicht als eine synthetische, sondern als eine analytische Funktion aufzufassen ist. Die ursprüngliche Gesamtvorstellung, die in dem Urteil in ihre aufeinander bezogenen Bestandteile gegliedert wird, stimmt durchaus überein mit einer Phantasievorstellung. Die Zerlegungsprodukte, die so entstehen, sind aber nicht, wie bei der Phantasietätigkeit, Phantasievorstellungen von beschränkterem Umfang und größerer Klarheit, sondern Begriffsvorstellungen. Hierbei bezeichnen wir mit dem letzteren Ausdruck solche Vorstellungen, die zu andern dem nämlichen Ganzen angehörenden Teilvorstellungen in irgendeiner der Beziehungen stehen, die durch die Anwendung der allgemeinen Funktionen der Beziehung und Vergleichung auf Vorstellungsinhalte gewonnen werden. Nennt man die Gesamtvorstellung, die einer derartigen beziehenden Analyse unterworfen wird, einen Gedanken, so ist demnach das Urteil die Gliederung eines Gedankens in seine Bestandteile, und der Begriff ist das Produkt einer solchen Gliederung.
          17. Die Begriffe, die auf diesem Wege gewonnen werden, ordnen sich nach der Art der stattgehabten Analyse in gewisse allgemeine Klassen. Solche Klassen sind die Begriffe von Gegenständen, Eigenschaften, Zuständen. Indem sich die Urteilsfunktion in der Gliederung einer Gesamtvorstellung betätigt, setzt sie einen Gegenstand zu einer Eigenschaft oder einem Zustand, oder setzt sie verschiedene Gegenstände zueinander in Beziehung. Da nun hierbei der einzelne Begriff eigentlich niemals isoliert vorgestellt werden kann, sondern in dem Ganzen der Vorstellung stets an einen andern Begriff oder eine Mehrheit anderer Begriffe gebunden ist, so unterscheiden sich die Begriffsvorstellungen in sehr auffallender Weise durch ihre Unbestimmtheit und Veränderlichkeit von den Phantasievorstellungen. Diese Unbestimmtheit wird dann wesentlich noch dadurch vermehrt, daß sich infolge des übereinstimmenden Ablaufs verschiedener Urteilsgliederungen Begriffe bilden, die als Bestandteile vieler in ihrer konkreten Beschaffenheit variabler Vorstellungen vorkommen. Ein Begriff dieser Art kann daher in sehr vielen einzelnen Abwandlungen existieren. Solchen Allgemeinbegriffen, die wegen der Ausdehnung der beziehenden Analyse auf verschiedene Urteilsinhalte die überwiegende Mehrheit der Begriffe überhaupt bilden, entspricht demnach eine mehr oder minder große Anzahl einzelner Vorstellungen. Von diesen wird aber stets irgendeine einzelne als Stellvertreterin des Begriffs gewählt. Dadurch gewinnen nun die Begriffsvorstellungen wieder eine größere Bestimmtheit. Doch verbindet sich zugleich mit jeder solchen Vorstellung das in der Regel nur in der Form eines eigentümlichen Gefühls zum Ausdruck kommende Bewußtsein der bloß stellvertretenden Bedeutung. Dieses Begriffsgefühl läßt sich wohl darauf zurückführen, daß sich dunklere Vorstellungen, die sämtlich die zur Vertretung des Begriffs geeigneten Eigenschaften besitzen, in der Form wechselnder Erinnerungsbilder zur Auffassung drängen. Hierfür spricht besonders die Tatsache, daß das Begriffsgefühl so lange sehr intensiv ist, als irgendeine der konkreten Verwirklichungen des allgemeinen Begriffs als repräsentative Vorstellung gewählt wird, wie z. B. ein individueller Mensch für den Begriff des Menschen, wogegen es fast ganz verschwindet, sobald die repräsentative Vorstellung ihrem Inhalte nach völlig von den Objekten des Begriffs abweicht. Darin, daß die Wortvorstellungen diesen Zweck erfüllen, liegt zu einem großen Teil die Bedeutung, die ihnen als allgemeingültigen Hilfsmitteln des Denkens zukommt. Da dem einzelnen Bewußtsein diese Hilfsmittel bereits in fertigem Zustand überliefert werden, so muß übrigens die Frage nach der psychologischen Entwicklung der in der Sprache sich betätigenden Hilfsfunktionen des Denkens der Völkerpsychologie überlassen bleiben. (Vgl. § 21, A.)
          18. Phantasie- und Verstandestätigkeit sind nach allem dem nicht spezifisch verschiedene, sondern zusammengehörige, in ihrer Entstehung und in ihren Äußerungen gar nicht zu trennende Funktionen, die in letzter Instanz auf die nämlichen Grundfunktionen der apperzeptiven Synthese und Analyse zurückführen. Auch mit den Begriffen Phantasie und Verstand verhält es sich daher ähnlich wie mit dem des Gedächtnisses (§ 16, 21). Sie bezeichnen nicht einheitliche Kräfte oder Vermögen, sondern komplexe Erscheinungsformen elementarer psychischer Vorgänge, nicht von spezifischer, sondern von allgemeingültiger Art. Wie das Gedächtnis ein Allgemeinbegriff für die Erinnerungsvorgänge, so sind Phantasie und Verstand Allgemeinbegriffe für bestimmte Richtungen der apperzeptiven Funktionen. Einen gewissen praktischen Nutzen haben auch sie nur insofern, als sie bequeme Hilfsmittel abgeben, um die mannigfaltigen Unterschiede individueller Beanlagung für die intellektuellen Prozesse in gewisse Klassen zu ordnen, innerhalb deren dann freilich wieder unendlich viele Abstufungen und Nuancen möglich sind. So lassen sich als Hauptarten der Phantasiebegabung, abgesehen von den allgemeinen Gradunterschieden, die anschauliche und die kombinierende Phantasie, als Hauptar-ten der Verstandesbegabung der vorzugsweise den einzelnen logischen Beziehungen und ihren Verknüpfungen zugekehrte induktive und der mehr auf allgemeine Begriffe und ihre Analyse gerichtete deduktive Verstand unterscheiden. Als das Talent eines Menschen bezeichnen wir dann die Gesamtanlage, die ihm infolge der besonderen Richtungen sowohl seiner Phantasie- wie seiner Verstandesbegabung eigen ist. "


    Wundt, Wilheln (1918) § 20  Die psychische Entwicklung des Kindes. In:  Grundriss der Psychologie [zpid]:
      "...
       9. Aus der Gesamtheit der erörterten einfacheren Entwicklungen gehen die zusammengesetzten Funktionen der Apperzeption, die beziehende und vergleichende Tätigkeit mit den aus ihnen bestehenden Phantasie- und Verstandesfunktionen hervor (§ 17).
          Zunächst vollziehen sich die Apperzeptionsverbindungen ausschließlich in der Form der Phantasie, d. h. als ein Verbinden, Zerlegen und Beziehen konkreter sinnlicher Vorstellungen. Die individuelle Entwicklung bestätigt also das oben im allgemeinen über das genetische Verhältnis dieser Funktionen Bemerkte (§ 17 ff.). Auf der Grundlage der mehr und mehr sich ausbildenden Assoziationen unmittelbarer Eindrücke mit früheren Vorstellungen entsteht in dem Kinde, sobald die aktive Aufmerksamkeit erwacht ist, die Neigung, willkürlich solche Verbindungen zu bilden, bei denen dann zugleich die Mannigfaltigkeit der zu dem Eindruck hinzugefügten Erinnerungsbestandteile ein Maß für den Grad der individuellen Phantasiebegabung abgibt. Diese kombinierende Phantasietätigkeit äußert sich, sobald sie einmal erwacht ist, mit einer triebartigen Macht, der das Kind um so weniger zu widerstehen vermag, weil noch nicht, wie beim Erwachsenen, die Verstandesfunktionen und die durch sie gesetzten intellektuellen Zwecke regulierend und hemmend auf das freie Schweifen der Einbildungsvorstellungen einwirken.
          Indem sich diese ungehemmte Beziehung und Verknüpfung der Phantasiebilder mit Willensantrieben verbindet, die den Vorstellungen gewisse, wenn auch noch so dürftige Anhaltspunkte in der unmittelbaren Sinneswahrnehmung zu schaffen suchen, entsteht der Spieltrieb des Kindes. Das ursprüngliche Spiel des Kindes ist ganz und gar Phantasiespiel, während umgekehrt das des Erwachsenen (Kartenspiel, Schachspiel, Lotteriespiel u. dgl.) fast ebenso einseitig Verstandesspiel ist. Nur wo das ästhetische Bedürfnis einwirkt, ist auch noch hier das Spiel in erster Linie ein Erzeugnis der Phantasie (Schauspiel, Kartenspiel u. dgl.), aber nicht mehr, wie ursprünglich beim Kind, einer völlig ungebundenen, sondern einer durch den Verstand geregelten Phantasie. Das Spiel des Kindes in den verschiedenen Zeiten seiner Entwicklung zeigt, wenn es seiner Natur gemäß geübt und gelenkt wird, alle Übergänge von jenem reinen Phantasiespiel zu dieser Verbindung von Phantasie- und Verstandesspiel. In den ersten Lebensmonaten beginnt es als Erzeugung rhythmischer Bewegungen der eigenen Glieder, der Arme und Beine, die dann auch auf größere Gegenstände, mit Vorliebe namentlich auf schallerregende oder auf lebhaft gefärbte, übertragen werden. In ihrem Ursprung sind diese Bewegungen offenbar Triebäußerungen, die durch bestimmte Empfindungsreize ausgelöst werden, und deren zweckmäßige Koordination auf vererbten Anlagen des zentralen Nervensystems beruht. Die rhythmische Ordnung der Bewegungen sowie der von ihnen hervorgerufenen Gefühls- und Schalleindrücke erzeugt dann aber sichtlich Lustgefühle, die sehr bald die willkürliche Wiederholung solcher Bewegungen veranlassen. Hierauf geht das Spiel in den ersten Lebensjahren allmählich in die willkürliche Nachbildung von Beschäftigungen und Szenen der Umgebung über. Dieses Nachahmungsspiel zieht endlich weitere Kreise, indem es nicht mehr auf die Nachbildung des Gesehenen beschränkt bleibt, sondern zur freien Nacherzeugung des in Erzählungen Gehörten wird. Gleichzeitig beginnt der Zusammenhang der Vorstellungen und Handlungen sich einem festeren Plane zu fügen: damit tritt bereits die regulierende Verstandestätigkeit ein, die bei den Spielen des späteren Kindesalters in der Feststellung bestimmter Spielregeln ihren Ausdruck findet. Mögen auch diese Übergänge durch die Einflüsse der Umgebung und durch die künstlichen Spielformen, die, zumeist Erfindungen Erwachsener, sich nicht immer der kindlichen Phantasie zureichend anpassen, beschleunigt werden, so ist doch diese Entwicklung durch ihre Übereinstimmung mit der gesamten Ausbildung der intellektuellen Funktionen als eine natürliche, in dem wechselseitigen Zusammenhang der assoziativen und apperzeptiven Prozesse begründete zu erkennen. Zugleich macht es die Art, wie hierbei die allmähliche Beschränkung der Phantasievorgänge mit der Zunahme der Verstandesfunktionen zusammengeht, wahrscheinlich, daß jene Beschränkung überhaupt ursprünglich nicht sowohl auf einer quantitativen Abnahme der Phantasiebegabung, als vielmehr auf einer Hemmung durch das begriffsmäßige Denken beruht, worauf dann freilich durch die vorwaltende Übung des letzteren schließlich die Phantasietätigkeit ihrerseits durch Mangel an Übung beeinträchtigt werden kann. Dies scheint durch das Verhalten des Naturmenschen bestätigt zu werden, der zeitlebens einen dem kindlichen verwandten phantastischen Spieltrieb zu betätigen pflegt.
          10. Aus der ursprünglichen phantasiemäßigen Form des Denkens entwickeln sich nun sehr allmählich die Verstandesfunktionen, indem in der früher (§ 17, 16 f.) angegebenen Weise die in der Wahrnehmung gegebenen oder durch kombinierende Phantasietätigkeit gebildeten Gesamtvorstellungen in ihre begrifflichen Bestandteile, wie Gegenstände und Eigenschaften, Gegenstände und Handlungen, Verhältnisse verschiedener Gegenstände zueinander, gegliedert werden. Das entscheidende Symptom für die Entstehung der Verstandesfunktionen ist daher die Bildung von Begriffen. Handlungen, die von seiten des Beobachters mittels einer logischen Reflexion erklärt werden können, beweisen dagegen durchaus nicht die Existenz einer solchen, da sie, gerade so wie bei den Tieren, sehr häufig offenbar aus Assoziationen abzuleiten sind. Aus demselben Grunde kann die Sprache ohne ein eigentlich begriffsmäßiges Denken in ihren ersten Anfängen vorhanden sein, indem ursprünglich das Wort nur einen konkreten sinnlichen Eindruck bezeichnet. Wohl aber ist ein vollkommener Gebrauch der Sprache nicht möglich, ohne daß begriffsmäßige, wenn auch noch durchaus konkret sinnliche Zerlegungen, Beziehungen und Übertragungen der Vorstellungen stattfinden. Demgemäß fällt denn auch schließlich die Entwicklung der Verstandesfunktionen mit der der Sprache zusammen, und diese ist dabei zugleich ein unentbehrliches Hilfsmittel für die Festhaltung der Begriffe und für die Fixierung der Denkoperationen."




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:  > Eigener wissenschaftlicher Standort.
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    Apperzeption
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    Analyse des Phantasiebegriffs unter besonderer Berücksichtigung der Forensischen Psychologie.
    Medien, Literatur- und Linkliste Phantasie.


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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Wundt 1918 zur Phantasie. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/allpsy/phantas/Wundt1918.htm

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    05.08.17    Angelegt.