William James 1909 Kapitel
XIX. Phantasie.
James, William (1909) Phantasie in (303-313) Psychologie. Leipzig:
Quelle & Meyer.
wissenschaftliches Begleitmaterial zur
Analyse
des Phantasiebegriffs.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Was ist die Phantasie? — Die einmal erlebten
Empfindungen modifizieren das Nervensystem, so daß Abbilder derselben
im Geist wieder auftauchen können, nachdem der ursprüngliche
äußere Reiz vergangen ist. Aber es können keine psychischen
Abbilder von solchen Empfindungen im Geist auftreten, die noch niemals
direkt von außen her erregt worden sind.
Der Blinde kann von Licht, der Taube von Schall
träumen, Jahre nachdem sie ihr Gesicht oder Gehör verloren haben;
aber der taubgeborene Mensch kann niemals dahin gebracht, werden, sich
vorzustellen, was wohl ein Ton ist, noch kann der Blindgeborene jemals
eine geistige Vision haben. Mit Lockes schon früher zitierten Worten:
„der Geist kann aus sich selbst heraus nicht eine einzige neue einfache
Idee bilden". Die Originale derselben müsseh sämtlich von außen
gegeben sein. Die Fähigkeit, solche Abbilder früher erlebter
Originale zu reproduzieren, wird Phantasie oder Einbildungskraft genannt.
Wir heißen die Phantasie „reproduktiv", wenn die Abbilder dem Original
genau entsprechen; „produktiv", wenn Elemente von verschiedenen Originalen
zusammengefügt werden, so daß ein neues Ganzes entsteht.
Die Menschen unterscheiden sich hinsichtlich
ihrer optischen Phantasie. — Unsere Ideen oder Bilder von vergangenen
sinnlichen Erlebnissen können entweder deutlich und genau oder dunkel,
verwischt und unvollständig sein. Es hat den Anschein, als ob die
verschiedenen Grade, in welchen die verschiedenen Menschen fähig sind,
scharfe und deutliche derartige Bilder zu erzeugen, in gewissem Zusammenhang
stünden mit der Stellungnahme in solchen philosophischen Streitfragen,
wio derjenigen zwischen Borkoloy und Locke über die allgemeinen
Ideen. [>304]
Locke hat gesagt, daß wir „die allgemeine Idee eines Dreiecks"
besitzen, das weder schief- noch rechtwinklig, noch gleichseitig, gieichschenkelig
oder ungleichseitig, sondern all das und nichts von alledem auf einmal
sein muß. Berkeley erwidert: „Wenn irgendein Mensch die Fälligkeit
besitzt, in seinem Geist eine solche Idee des Dreiecks, wie die hier beschriebene,
zu bilden, so ist es ganz umsonst, sie ihm abstreiten zu wollen und ich
beabsichtige das auch gar nicht. Alles was icli will, ist, dal! der Leser
sich voll und sicher informiere, ob er eine solche Idee hat oder nicht."
Bis vor ganz wenigen Jahren haben die Philosophen
angenommen, daß es einen Typus des menschlichen Geistes gäbe,
dem alle individuellen Geister gleichen und daß über Fähigkeiten
wie „äio Phantasie" allgemeingültige Sätze niedergelegt
werden könnten. In letzter Zeit jedoch sind eine Menge von Entdeckungen
gemacht worden, die uns zeigen, wie falsch jene Meinung ist. Es gibt keine
„Phantasie schlechthin", sondern Phantasien, und diese müssen im einzelnen
untersucht werden.
Galton begann im Jahre 1880 eine statistische Untersuchung,
von der man sagen kann, daß sie eine neue Phase in der Entwicklung
der deskriptiven Psychologie herbeigeführt hat. Er schickte an eine
große Anzahl von Leuten ein Zirkular mit der Aufforderung, das optische
Erinnerungsbild, ihres Frühstückstisches an einem gegebenen Morgen
zu beschreiben. Die dabei beobachteten Verschiedenheiten waren enorm; und
sonderbarerweise zeigte es sich, daß wissenschaftlich hervorragende
Menschen im Durchschnitt eine geringere Fähigkeit zur Visualisierung
bezeugten, als jüngere und unbedeutendere Personen.
Genaueres hierüber findet sich in Galtons „Inquiries
into human faculty", S. 83—114. Ich selbst habe viele Jahre lang von all
meinen Psychologichörern Beschreibungen über ihre optischen Phantasiebildcr
gesammelt und habe dabei (neben einigen eigentümlichen Idiosynkrasien)
alle von Galton beschriebenen Variationen bestätigt gefunden. Als
Beispiele füge ich die kurze Beschreibung zweier Fälle bei, die
ungefähr Gegensätze bedeuten. Vorausschicken will ich, daß
die beiden Verfasser Vettern sind und Enkel eines hervorragenden Wissenschaftlers.
Der eine von ihnen, mit guter Visualisationsfähigkeit, schreibt :
„Der Frühsückstisch von heute Morgen ist
sowohl dunkel wie hell; er ist dunkel, wenn ich vorsuche, an ihn zu denken,
während meine geöffneten Augen auf irgendeinen Gegenstand [>305]
gerichtet sind; er wird vollkommen klar und hell, wenn ich mit geschlossenen
Augen an ihn denke. — Alle Gegenstände sind gleichzeitig klar, aber
wenn ich meine Aufmerksamkeit auf «inen von ihnen konzentriere, wird
er noch weit deutlicher. — Ich besitze in höherem Maß die Fähigkeit,
mich an Farben als an irgendetwas anderes zu erinnern. Wenn ich mich z.
B. an einen mit Blumen verzierten Teller erinnern wollte, könnte
ich in einem Bild genau die gleichen Farbentöne etc. treffen. Die
Farben von allem, was auf dem Tisch war, sind vollkommen lebhaft.
Für die Ausdehnung meiner Bilder besteht eine sehr geringe Einschränkung.
Ich kann alle vier Seiten eines Zimmers sehen, ich kann alle vier Seiten
von zwei, drei, vier und sogar mehr Zimmern mit solcher Deutlichkeit sehen,
daß, wenn man mich fragen würde, was sich an irgendeinem besonderen
Platz an einer dieser Wände befindet, oder mich auffordern würde,
die Stühle zu zählen usw., ich es ohne das geringste Zögern
tun könnte. — Je besser ich etwas auswendig lerne, desto klarer sehe
ich Bilder der Seiten meines Buches. Ich sehe sogar die Zeilen,
bevor ich sie hersagen kann, so daß ich sie sehr langsam Wort für
Wort wiedergeben könnte, aber mein Geist ist dabei so sehr mit
dem Betrachten meines gedruckten Bildes beschäftigt, daß ich
keine Idee habe, was ich sage, was der Sinn davon ist usw. Als ich zuerst
diese Entdeckung machte, dachte ich zumeist, es geschähe lediglich
deshalb, weil ich die Zeilen nicht hinreichend sicher beherrschte, aber
ich habe mich inzwischen vollkommen davon überzeugt, daß ich
tatsächlich ein Bild sehe. Der schlagendste Beweis, daß
dies wirklich der Fall ist, liegt, wie ich glaube, in Folgendem:
Ich kann die im Geist gesehene Seite von oben nach
unten durchlaufen und die Wörter sehen, mit denen jede Zeile anfängt;
von jedem dieser Wörter aus kann ich dann die Zeile fortsetzen. Dies
gelingt mir leichter, wenn die Wörter gerade untereinander beginnen,
als wenn sie eingerückt sind, z. B. :
Der schlecht Visualisierende schreibt:
„Meine Fähigkeit, psychische Bilder hervorzurufen,
scheint, nach dem was ich von den Bildern anderer Leute gehört habe,
mangelhaft und etwas eigentümlich zu sein. Der Prozeß, durch
den ich mich eines besonderen Ereignisses zu erinnern scheine, besteht
nicht in dem Auftreten einer Reihe distinkter Bilder, sondern im Vorhandensein
eiues gewissen Panoramas, dessen schwächste Eindrucke wie durch einen
dichten Nebel wahrnehmbar sind. Ich kann nicht durch Schließen der
Augen ein deutliches Bild von irgend etwas erhalten, obgleich ich bis vor
wenigen Jahren dazu imstande gewesen bin, und es scheint als ob diese Fähigkeit
sich allmählich verloren hätte. In meinen lebhaftesten Träumen,
in denen die Erlebnisse wie realste Tatsachen erscheinen, stört mich
häufig eine Dunkelheit des Gesichtsfeldes, .welche die Bilder undeutlich
erscheinen läßt. — Um auf die Frage nach dem Frühstückstisch
zu kommen, so habe ich kein bestimmtes Bild von ihm. Alles ist verschwommen.
Ich kann nicht sagen, was ich sehe. Ich könnte unmöglich die
Stühle zählen, aber ich weiß zufällig, daß es
zehn sind. Ich sehe nichts im Detail. — Die Hauptsache ist ein allgemeiner
Eindruck davon, daß ich nicht genau beschreiben kann was ich sehe.
Die Färbung ist ungefähr überall dieselbe, soweit ich sie
mir vorstellen kann, nur ist sie sehr verwaschen. Vielleicht ist die einzige
Farbe, die ich überhaupt deutlich sehen kann, die des Tischtuchs,
und ich könnte wahrscheinlich die Farbe der Tapete sehen, wenn ich
mich daran zu erinnern vermöchte, welche Farbe es war."
Personen mit starker visueller Phantasie können
es kaum verstehen, wie Menschen, welche diese Fähigkeit nicht bositzon,
überhaupt denken können. Zweifellos gibt es Leute,
die überhaupt keine visuellen Bilder haben, die diesen Namen verdienen,
und die anstatt ihren Frühstückstisch zu sehen, erzählen,
daß sie sich an ihn erinnern oder daß sie wissen, was sich
auf ihm befand. Das „psychische Material", aus dem dieses „Wissen"
besteht, scheinen ausschließlich Wortbilder zu sein. Aber wenn die
Wörter „Kaffee", „Speck", „Semmeln" und „Eier" einen Menschen dazu
führen, seinem Koch Anweisungen zu geben, seine Rechnungen zu bezahlen
und genau dieselben Maßnahmen für die Morgemnahlzeit zu treffen
wie es die Erinnerungen des Gesichts- oder Geschmackssinns bewirken würden,
wai'um sollten sie dann nicht für alle praktischen Absichten und Zwecke
eine ebonsogute Art von Denkmatorial sein? In der Tat liegt die Vermutung
nahe, daß sie für viele [>307] Zwecke besser sind als Bewußtseinsinhalte
mit reicherer phantasiemäßiger Färbung. Da das Relationsschema
und die Schlußfolgerung die wesentlichsten Dinge beim Denken sind,
wird dasjenige psychische Material, das am bequemsten ist, das beste für
die Denkzwecke sein. Nun sind Worte, ausgesprochen oder unausgesprochen,
die bequemsten psychischen Elemente, die wir besitzen. Sie können
nicht nur sehr schnell erweckt werden, sondern sie können als aktuelle
Empfindungen leichter erweckt werden als irgendwelche anderen Bestandteile
unserer Erfahrung. Besäßen sie nicht irgendeinen derartigen
Vorzug, so würde es kaum der Fall sein, daß die Menschen, je
älter sie sind und je besser sie denken können, um so mehr ihre
Fähigkeit der Visualisation eingebüßt haben — wie Galton
bei den Mitgliedern der Royal Society fand.
Klangbilder. — Auch diese sind. bei den verschiedenen
Individuen verschieden. Galton nannte diejenigen Personen, die vorzüglich
in akustischen Bildern denken, akustische. „Dieser Typus" sagt Binet, „scheint
seltener vorzukommen, als der visuelle." Personen, die diesem Typus angehören,
stellen alles, was sie denken, in der Sprache der Töne vor. Um sich
an eine Lektion zu erinnern, prägen sie ihrem Geist nicht das Aussehen
der betreffenden Seite, sondern den Klang der Wörter ein. Sie denken
mit dem Ohr, wie sie ihre Gedäehtnisleistungen mit Hilfe desselben
ausführen. Bei der Ausführung einer Addition im Kopf wiederholen
sie wörtlich die Namen der Zahlen und addieren gleichsam die Klänge,
ohne irgendwie an die Schrift-zeichen zu denken. Auch die Phantasie kann
auditorischen Charakter annehmen. „Wenn ich ein Stück schreibe", sagte
Legouvö zu Scribe, „dann höre ich; aber Sie sehen. Bei jedem
Satz, den ich niederschreibe, treffen die Stimmen der sprechenden Personen
mein Ohr. Aber Sie, der Sie ihr eigenes Theater sind, Sie sehen Ihre Akteure
vor Ihren Augen hin- und hergehen und gestikulieren; ich bin ein Zuhörer,
Sie ein Zuschauer." — „Vollkommen richtig", sagte Scribe; „wissen Sie,
wo ich mich befinde, wenn ich ein Stück schreibe? Mitten
im Parterre." Es ist klar, daß der reine Akustiker, der
nur eine einzige seiner Fähigkeiten zu entwickeln sucht, ebsnso wie
der rein Visuelle, erstaunliche Geistesleistungen hervorzubringen vermag
— Mozart z. B. schrieb das Miserere der sixtinisehen Kapelle aus dem Gedächtnis
nieder, nachdem er es zweimal gehört hatte; der taube Beethoven komponierte
und wiodorholto innerlich seine gewaltigen Symphonien. Andererseits ist
der [>308]
akustisch veranlagte Mensel), ebenso wie der visuell veranlagte, ernsten
Gefahren ausgesetzt; denn wenn er seine akustischen Bilder verliert, dann
hat er keine Zuflucht mehr, und er bricht ganz zusammen.
Bilder von Muskelempfindungen. — Stricker
in Wien, der ein „Motoriker" zu sein oder diese Form der Phantasie in ungewöhnlich
starkem Grade entwickelt zu haben scheint, hat eine sorgfältige Analyse
seines eigenen Falles gegeben. Seine Erinnerungen an eigene Bewegungen
und an Bewegungen anderer Dinge sind unfehlbar begleitet von deutlichen
Muskelempfindungen in denjenigen Teilen seines Körpers, die bei der
Ausführung oder Verfolgung der Bewegung gewöhnlich gebraucht
werden. Bei dein Gedanken an einen marschierenden Soldaten z. B. ist es
ihm, als ob er dem Bild helfen müßto zu marschieren, dadurch
daß er selbst hinter ihm her marschiert. Und wenn er diesen Einfüliltingszustand
in seinen eigenen Beinen unterdrückt und seine ganze Aufmerksamkeit
auf den vorgestellten Soldaten konzentriert, wird dieser gleichsam gelähmt.
Im allgemeinen scheinen die von ihm vorgestellten Bewegungen irgendwelcher
Objekte gehemmt in dem Augenblick, wo keine Bcwogungscmpfindung in seinen
Augen oder in seinen Lippen dieselben begleitet. Die Sprechbewegungen spielen
eine hervorragende Holle in seinem psychischen Leben. „Wenn
ich nach Beendigung meiner Experimente zu ihrer Beschreibung übergehe",
sagt er, „dann reproduziere ich in der Regel im ersten Augenblick nur Wörter,
die ich im Laufe der Beobachtung bereits mit der Wahrnehmung der verschiedenen
Einzelheiten der Beobachtung assoziiert habe. Denn das Sprechen spielt
in all meinen Beobachtungen eine so bedeutende Rollo, daß ich gewöhnlich
die Erscheinungen ebenso schnell in Worte kleide, als ich sie beobachte."
Die meisten Personen werden auf die Präge,
in was für einer Art von Bewußtseinsinhalten sie Worte vorstellen,
sagen: „In Gehörsbildern." Erst wenn ihre Aufmerksamkeit ausdrücklich
auf diesen Punkt gelenkt wird, bemerken sie, wie schwierig es ist, anzugeben,
ob akustische oder die mit den Sprechorganen verknüpften motorischen
Bilder überwiegen. Eine gute Art, diese Schwierigkeit zum Bewußtsein
zu bringen, ist die von Stricker vorgeschlagene. Man öffne den Mund
teilweise und stelle dann irgendein Wort vor, das, wie etwa bubble oder
toddo, Lippen- und Zahnlaute enthalt! Man frage sich, ob man unter diesen
Umstunden ein deutliches Bild erhält! Den meisten Leuten kommt das
Bild zuerst „dick" vor wie der Klang des [>309] Wortes sein würde,
wenn sie versuchten, es mit getrennten Lippen auszusprechen. Viele können
die Wörter mit offenem Mund nicht mehr klar vorstellen; anderen gelingt
es nach einigen Vorversuchen. Das Experiment beweist, wie abhängig
unsere Wortvoi'Stellung von aktuellen Empfindungen in den Lippen, der Zunge,
dein Schlund, dem Kehlkopf usw. ist. Bain behauptet, ein unterdrücktes
Sprechen sei tatsächlich das Material unserer Erinnerung, unserer
intellektuellen Repräsentation, unserer Idee des Sprechens." Bei Personen,
deren akustische Vorstellungsfähigkeit schwach ist, scheint das Sprechbewegungsbild
wirklich das ganze Material für das Denken in Worten auszumachen.
Stricker sagt, daß in seinem eigenen Fall sich kein akustisches Bild
in die Worte, an die er denkt, einmischt.
Tastbilder. — Diese sind bei einigen Menschen
sein- stark entwickelt. Die lebhaftesten Tastvorstcllungcn entstehen, wenn
wir selbst mit knapper Not einer lokalen Verletzung entgehen oder wenn
wir einen anderen sicli verletzen sehen. Die betreffende Stelle kann dann
tatsächlich Träger der eingebildeten Empfindung sein — vielleicht
nicht bloß auf Grund einer Phantasievorstellung, da Gänsehaut,
Erblassen oder Erröten und andere Anzeigen aktueller Muskelkontraktionen
an der betroffenden Stelle entstehen können.
„Ein gebildeter Mann", berichtet G. II. Meyer, „erzählte
mir einmal, daß er eines Tages beim Eintritt in sein Haus stark erschrak,
weil er den Finger eines seiner kleinen Kinder in die Tür geklemmt
hatte. Im Augenblick seines Schreckens fühlte er einen heftigen Schauer
in dem entsprechenden Finger seiner eigenen Hand, und dieser Schauer hielt
drei Tage lang an."
Die Phantasie der blinden Taubstummen Laura Bridgman
muß sich ganz auf das taktile und motorische Material beschränken.
Alle Blinden müssen dem „taktilen" und „motorischen" Typus der französischen
Autoren angehören. Als man dem jungen Mann, dessen Star durch Dr.
Franz operiert worden war, verschiedene geometrische Figuren vorlegte,
sagte er, „daß er nicht fähig gewesen sei, aus ihnen die Idee
eines Vierecks oder eines Kreises zu bilden, bevor er in den Fingerspitzen
eine Empfindung dessen, was er sah, wahrgenommen habe, so, als ob er tatsächlich
die Gegenstände berührte."
Pathologische Verschiedenheiten. — Das Studium
der Aphasie (Seite 111) hat in den letzten Jahren gezeigt, wie über
alle Erwartung groß die Verschiedenheit der Individuen im Gebrauch
[>310] ihrer Phantasie ist. Bei einem Teil ist der gewöhnliche Denkstoff
— wenn man ihn so nennen darf, visuell; hei anderen ist er akustisch, artikulatorisch
oder motorisch; bei den meisten Menschen vielleicht gemischt. Dieses sind
die „Indifferenten" Charcots. Die gleiche lokale Gchirnverletzung muß
bei Personen, die in dieser Weise verschieden voneinander sind, notwendig
verschiedene praktische Folgen haben. Bei einem ist das, was dabei außer
Funktion gesetzt wird, eine vielbenützte Gehirnpartie ; beim anderen
trifft die Störung nur eine nebensächliche Region. Charcot hat
im Jahre 1883 einen ganz besonders instruktiven Fall publiziert. Der betreffende
Patient war ein Kaufmann, ein außerordentlich gebildeter Mensch,
aber ein Visueller ausgesprochenster Art. Infolge einer Gehirnerkrankung
verlor er plötzlich all seine visuellen Bilder und mit ihnen viel
von seiner intellektuellen Fähigkeit, aber ohne irgendwelche andere
geistige Störung. Er entdeckte bald, daß er seine Geschäfte
weiterführen könne, wenn er sein Gedächtnis in einer ganz
neuen Richtung ausbilde, und beschrieb klar den Unterschied zwischen diesen
beiden Zuständen. „Jedesmal, wenn er nach A zurückkehrt, von
wo ihn die Geschäfte häufig wegrufen, scheint es ihm, als ob
er in eine fremde Stadt einträte. Er betrachtet die Monumente, Häuser,
Straßen mit demselben Erstaunen, wie wenn er sie zum ersten Male
sähe. Wenn man ihn auffordert, den Hauptplatz der Stadt zu beschreiben,
antwortet er, ,ich weiß,' daß er existiert, aber ich kann ihn
mir unmöglich:- vorstellen; 'ich kann Ihnen nichts darüber berichten."
An das Gesicht seiner Frau und seiner Kinder kann
er sich auch nicht besser erinnern als an die Stadt A. Sogar, nachdem er
eine Zeitlang mit ihnen zusammen war, kommen sie ihm fremd vor. Er vergißt
sogar sein eigenes Gesicht und sprach einmal mit seinem eigenen Bild im
Spiegel, das er für einen Fremden hielt. Er beklagt sich über
den Verlust seiner Farbenempfindung. „Meine Frau hat schwarze Haare, das
weiß ich, aber ich kann ihre Haarfarbe ebensowenig vorstellen als
ihre Gestalt und ihre Gesichtszüge." Diese visuelle Amnesie geht so
weit, daß auch Gegenstände aus seiner Kindheit, Elternhaus usw.
vergessen werden. Aber außer diesem Verlust der visuellen Erinnerungsbilder
liegt keine andere Störung vor. Wenn er jetzt otwas unter seiner Korrespondenz
sucht, muß er, wie andere Menschen, die Briefe durchstöbern,
bis er auf das Gesuchto stößt. Er kann sich nur der ersten paar
Verse aus der Ilias erinnern und muß, um Homer, Virgil und IToraz
zu rezitieren, Tast-[>311] Vorstellungen zu Hilfe nehmen. Zahlen, die er
addiert, muß er jetzt leise vor sich hersagen. Es steht für
ihn die Tatsache Ii; fest, daß er seinem Gedächtnis mit Klangbildern
nachhelfen muß, was er mit Anstrengung tut. Die Wörter und Ausdrücke,
deren er sich erinnert, scheinen jetzt in seinem Ohr zu erklingen, was
ihm einen ganz ungewohnten Eindruck macht. Wenn er etwas auswendig lernen
will, z. B. eine Reihe von Sätzen, dann muß er dieselben mehrmals
laut lesen, um sie seinem Ohr einzuprägen. Wiederholt er das Auswendiggelernte
später, dann stellt sich in seinem Bewußtsein die Empfindung
innerlichen Hörens ein, die der Aussprache vorangeht. Dieser Zustand
war ihm früher unbekannt.
Ein solcher Mensch würde verhältnismäßig
wenig Beschwerden gehabt haben, wenn seine akustischen Erinnerungsbilder
plötzlich verloren gegangen wären.
Der nervöse Prozeß bei der Phantasictätigkeit.
— Die meisten medizinischen Autoren nehmen an, daß die Gehirntätigkeit,
von der die Phantasievorstellung abhängt, einen andern Sitz hat, als
diejenige, welche der Empfindung zugrunde liegt. Es ist jedoch eine einfachere
Interpretation der Tatsachen, wenn man annimmt, daß bei beiden Prozessen
dieselben nervösen Gebiete beteiligt sind. Unsere psychischen Bilder
werden immer auf dem Weg der Assoziation herbeigeführt; irgendeine
vorhergegangene Idee oder Empfindung muß sie angeregt haben. Die
Assoziation ist sicherlich auf Nervenbahnen von einem kortikalen Zentrum
zum anderen zurückzuführen. Nun brauchen wir, um die subjektive
Verschiedenheit zwischen Bildern und Empfindungen zu erklären, wenn
wir keine Verschiedenheit ihres lokalen Sitzes annehmen, weiter nichts
vorauszusetzen, als daß die intrakortikalen Erregungen nicht imstande
sind, in den Zellen die starken Entladungen hervorzurufen, wie sie die
von den Sinnesorganen herkommenden Erregungen veranlassen.
Der starken Entladung entspricht der Charakter der
„Lebhaftigkeit" oder sinnlichen Gegenwart des erfaßten Objekts; der
schwachen der Charakter der „Mattigkeit" oder äußeren Nicht-Wirklichkeit."
Wenn wir annehmen, daß Empfindung und Bild
derselben auf die Tätigkeit derselben Teile der Rinde zurückzuführen
sind, können wir einen sehr guten teleologischen Grund dafür
finden, daß sie verschiedenartigen Vorgängen in diesen Zentren
entsprochen müssen und daß der Prozeß, der das Bewußtsein
der Realität des Objekts vermittelt, normal erweise nur durch Er-[>312]regungen
herbeigeführt wird, die von der Peripherie her und nicht durch solche,
die aus den benachbarten kortikalen Zentren kommen. Kurz, wir können
sehen warum der Empf indungsprozeß verschieden sein muß von
jedem, wenn auch noch so intensiven normalen Vorstellungsprozeß.
Denn, wenn diese besondere Einrichtung nicht bestünde, dann könnten
wir, wie Münsterberg richtig bemerkt, „Realitäten und Phantasieproduktc
nicht unterscheiden, unser Verhalten wäre nicht den uns umgebenden
Tatsachen angepaßt, sondern unangemessen und sinnlos und wir könnten
uns nicht am Leben erhalten".
Zuweilen kann die tiefergreifende Art der Entladung
ausnahmsweise auch durch lediglich intrakortikale Erregung herbeigeführt
werden. Im Gebiet des Gehörsinns sind Empfindungen und Vorstellungen
kaum zu unterscheiden, da wo die Empfindungen so schwach sind, daß
sie nur eben noch wahrgenommen werden können. Nachts, wenn wir den
sehr schwachen Stundenschlag einer entfernten Uhr hören, reproduziert
unsere Phantasie sowohl Rythmus wie Klang, und es ist oft schwierig zu
sagen, welches der letzte wirkliche Glockenschlag war. Ebenso sind wir,
wenn ein Kind in einem entlegenen Teil des Hauses schreit, nicht sicher,
ob wir es immer noch hören, oder ob nur eine Vorstellung zurückgeblieben
ist. Gewisse Violinspieler machen sich dies zunutze bei Stücken, die
mit einem diminuendo endigen. Nachdom sie ihr pianissimo erreicht haben,
fahren sie fort, den Bogen zu führen, gerade als ob sie noch spielten,
geben aber wohl acht, die Saiten nicht zu berühren. Der Zuhörer
hört dann in seiner Phantasie einen Ton, der noch um einen Grad schwächer
ist als das pianissiomo. Halluzinationen des Gesichts- oder Gehörsinns
gehören ebenfalls hierher, können aber erst
im nächsten Kapitel behandelt werden. Ich erwähne als eine
noch unerklärte Tatsache, daß mehrere Beobachteer (G. II. Meyer,
Ch. Fere, Scott von Ann Arbor und T. C. Smith, einer meiner Studenten)
negative Nachbilder von Gegenständen beobachtet haben, die sie nur
mit dem geistigen Auge wahrgenommen hatten. Es ist als ob die Rotina selbst
dabei lokal ermüdet würde."
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
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