Phantasie und Denken
Busemann, Adolf (1951) Kapitel Psychologie der
späteren Kindheit und des Jugendalters.
In (278-280) Katz, David (1951, Hrsg.) Handbuch
der Psychologie. Basel: Schwabe & Co.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
"5. Phantasie und Denken
Das natürliche reproduktive Leben des Schulkindes
ist vorwiegend ein im wesentlichen noch unverbindliches und thematisch
wechselreiches Phantasieren. In Verlegenheitssituationen findet das Kind
bedenkenlos konfabulöse Ausreden (kindliche «Lüge»);
auch Wunscherfüllungen (z. B. Besitz eines Geschwisters) werden konfabulös
phantasiert. Kindliche Aussagen vor Gericht bedürfen darum in allen
wichtigeren Fällen fachpsychologischer Begutachtung. Urteile, die
andere Personen äußern, übernimmt das Kind in der Regel
ohne Kritik, zumal wenn es vor dem Sprechenden Respekt hat (Suggestibilität
des Kindes). Man darf jedoch nicht vergessen, daß auch der Erfolg
des Unterrichts im Kindesalter größtenteils auf kritikloser
Übernahme der vom Lehrer geäußerten Urteile beruht (Beiehrbarkeit
des Kindes). - Der eigenen phantastischen Produktion des Kindes entspricht
als beliebter Lesestoff das Märchen durch Verwandlungen und durch
Steigerung ins Große oder Kleine; dem kindlichen Weltverständnis
entspricht es durch die Rolle der Kinder, der Tiere und der natürlichen
Landschaft sowie durch die Naivität der auftretenden Personen; dem
kindlichen Wertleben entspricht es durch das Fehlen moralischer Gesichtspunkte;
dem kindlichen Lebensgefühl durch das häufigste Motiv: Verlust
der Geborgenheit im Elternhaus, Gefährdung durch Tiere oder magische
Mächte, glücklicher Ausgang. Das reife Kind bevorzugt schon Sagen;
diese unterscheiden sich (im hier interessierenden Sinn) vom Märchen
dadurch, daß Erwachsene im Mittelpunkt stehen, Persönlichkeiten
charakteristisch handeln, Konflikte zwischen ihnen durch Leistungen eines
Teils gelöst werden. Den Übergang zum später bevorzugten
Abenteuerbuch bietet der «Robinson».
Der Fortschritt von phantastischem zu denkendem
Leben in der nur repräsentierten Welt knüpft an Wahrnehmungen
an, indem zunächst die Verarbeitung des sensorischen Materials zu
gedanklichem Handeln mit und am Wahrgenommenen und noch präsenten
Gegenstande, also zu ihn betreffenden Überlegungen, überleitet.
Später werden Operationen an nur (mehr oder minder anschaulich, also
vorstellungsmäßig oder gedanklich) repräsentierten Gegenständen
häufiger, die im Unterschied zur Phantasie als verbindlich erlebt
werden, d. h. unter dem Gesichtspunkt geschehen, daß sich ihr Resultat
an den Wahrnehmungsgegenständen bewähren muß. Während
also das Kleinkind eine einfache technische Aufgabe (etwa ein begehrtes
Objekt hinter einem Gitter zu bewegen) manuell probierend löst, löst
sie das reife Kind «innerlich» [<278] probierend. Dabei
spielt der Fortschritt von einer Steuerung des Verhaltens die sensorische
Gestalt der Gegebenheiten zu einer Steue-f durch die auf den Wahrnehmungen
gründende Kenntnis der Gegenstände, ihrer Qualitäten und
Relationen usw. eine sehr bedeutsame Rolle. Fortschritt des Denkens liegt
also in folgenden Dimensionen: f x. Steigendes Bedürfnis nach Verbindlichkeit,
d. h. Harmonie der Denkresultate mit der Realität (Realismus). 2.
Verlagerung des Handelns aus der Wahrnehmungswelt in die nur repräsentierte
(Denk-)Welt. 3. Verlängerung der durch Denken überbrückten
Spanne zwischen Wahrnehmungen. 4. Fortschritt in Richtung von Gestaltsteuerung
(Tendenz zu geschlossener bzw. guter Gestalt) zur Sachgemäßheit
(zu gegenständlicher Erlebnisweise). In gewissen Grenzen gilt 5. ein
Fortschritt zu kretischem Denkgeschehen (Denkakte, als solche im Sprechdenken
innerlich vollzogen). Dagegen gelangt das Kind selten zu reflexiver Kontrolle
des eigenen Denkens (zu selbstkritischem Denken).
Die Begriffe gewinnen an systematischer Ordnung,
und zwar zugleich von der Basis und der Spitze der Begriffspyramide her:
Das Kind beginnt mit vagen Allgemeinbegriffen und anschauungsnahen Individualbegriffen.
Definiert wird anfangs durch Nennung eines Beispiels oder bloße Tautologie,
dann durch Angabe des Zwecks, am Ende des Zeitraumes in etwa 25% der Fälle
durch Angabe eines Oberbegriffes. Gänzlich versagen Kinder bis zu
zehn Jahren in der Erklärung abstrakter Begriffe. Die Begriffe des
Kindes gewinnen in der Regel an Schärfe durch Aufteilung des vom Namen
gemeinten Bereichs, nicht durch Ableitung höherer Klassenbegriffe
aus Artbegriffen. Hinsichtlich des Urteilens und Schließens ist sehr
zu unterscheiden, wessen das Kind bei geeigneter Aufgabestellung fähig
ist, und wie weit es spontan von seinen nicht geringen Fähigkeiten
Gebrauch macht. Die Spontanantriebe zum «Nachdenken» sind durchwegs
schwach, das Kind begnügt sich meist mit dem,, was die Erwachsenen
übermitteln. Seine Deutung von Naturerscheinungen haftet eng am sinnlich
gegebenen Zusammenhang, zu eigenem Nachforschen fühlt es sich nicht
veranlaßt. Ausnahmen gehen meist auf Vorbilder der Erwachsenen zurück.
Das spontane Schließen des Kindes beschränkt sich auf Transduktionen
(W. Stern), d. h. auf Ableitung eines Urteils aus schon bekannten, gestaltlich
analogen Sachverhalten. Darüber hinaus kommen noch echte Analogieschlüsse
und gelegentlich Schlüsse, nach der ersten Aristotelischen Schlußfigur
vor. [<279]
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